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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelsiäöts politische Briefe

an politischen und bürgerlichen Rechten haben wir in Deutschland vollauf
genug. Wenn wir nur aus den Rechten auch Pflichten schöpfen wollten;
aber eine neue Form, zu leben, soll den Willen, zu leben, ersetzen.

Wir müssen, meine ich, vollständig Kehrt machen, der Pflicht mehr als
dem eignen Triebe gehorchen und, da jeder im Staate Partei nehmen soll,
unsre Partei da suchen, wohin das drängendste und umfassendste Bedürfnis der
Zeit weist, also auf dem Gebiete der sozialwirtschaftlichen Fragen. Das Feld,
worauf Sozialdemokratie, Jndustrialismus und Agrarbeweguug arbeiten, ist
auch unser Parteifeld, in dem Sinne jedoch, daß der Verneinung der Sozial¬
demokratie und den Einseitigkeiten ihrer zahmern Geschwister ein Ende gemacht
wird. Unsre Parteien, bei einer kann es ja nicht bleiben, müssen solche sein,
die ihre Herkunft aus Klasseninteressen bestimmt und unumwunden anerkennen,
aber ohne deren Vertretung auf einen Bruchteil der betreffenden Interessenten
zu beschränken, und ohne Staatsinteresse und Staatsordnung zu verleugnen.
Mit solchen Parteien wird die Staatsleitung ebenfalls zu kämpfen haben, aber
aus dem Kampf zum Frieden gelangen, zu einem Kompromiß, worauf doch
jeder offne und klare Streit unter Volksgenossen hinauslaufen kann und soll.
Mit den alten Parteien ist nichts mehr zu machen, sie sind abgebraucht und
fristen ihr Leben nur davon, daß sich keine entschlossenen Erben melden. Unter
den frühern Kartellparteicn ist keine, die nicht offiziell rein politische Ziele vor¬
schöbe und doch insgeheim Interessenpolitik triebe, die Politik der Unternehmer¬
klasse in dem betreffenden Interessenkreis. Bei dem Zentrum ist das weniger der
Fall, es hat sich die Berührung mit den verschiednen Schichten seiner Wähler
besser bewahrt, sein Rekrntirungsbezirk ist auch größtenteils noch sozial und
wirtschaftlich gesünder; aber auch im Zentrum zeigen sich Jnteressenspaltungen,
drängt das Unternehmertum die schwächer bewehrten Schichten zurück, und
dann ist die Auffassung des Zentrums von Staatsgewalt und Staatsgesinnung
auf einem andern Boden gewachsen als das deutsche Reich. Das ist es, was
uns das Zentrum fremd macht, nicht Mangel an Vaterlandsliebe, der sich
nur noch ganz vereinzelt und bei den polnischen oder verwelschten Anhängseln
zeigt. Der Antisemitismus schließlich ist eine unfertige Bildung, die ein be¬
währtes und unentbehrliches Kampfmittel übertreibt und zum Kampfzweck
macht. Von den demokratischen Parteien ist nur zu bemerken, daß die frei¬
sinnige Vereinigung als offne Partei der Handelsinteressen Sinn und Zukunft
hätte, und daß sich die süddeutsche Demokratie manchen Rest von sozialer Ge¬
sinnung gerettet hat.

Auf die Parteiprogramme kann auch die Feder einwirken, aber nur, wenn
wir uns ebenfalls Zwang und Pflicht auflegen. Anregungen sind ja aus der
Feder in Menge geflossen, darunter sehr schätzbares Material; was fehlt, ist
die Sammlung und Sichtung und die Prüfung nach dem politischen Wert.
Politische Fragen sind Machtfragen, so ist auch jede politische Bewegung ein


Mittelsiäöts politische Briefe

an politischen und bürgerlichen Rechten haben wir in Deutschland vollauf
genug. Wenn wir nur aus den Rechten auch Pflichten schöpfen wollten;
aber eine neue Form, zu leben, soll den Willen, zu leben, ersetzen.

Wir müssen, meine ich, vollständig Kehrt machen, der Pflicht mehr als
dem eignen Triebe gehorchen und, da jeder im Staate Partei nehmen soll,
unsre Partei da suchen, wohin das drängendste und umfassendste Bedürfnis der
Zeit weist, also auf dem Gebiete der sozialwirtschaftlichen Fragen. Das Feld,
worauf Sozialdemokratie, Jndustrialismus und Agrarbeweguug arbeiten, ist
auch unser Parteifeld, in dem Sinne jedoch, daß der Verneinung der Sozial¬
demokratie und den Einseitigkeiten ihrer zahmern Geschwister ein Ende gemacht
wird. Unsre Parteien, bei einer kann es ja nicht bleiben, müssen solche sein,
die ihre Herkunft aus Klasseninteressen bestimmt und unumwunden anerkennen,
aber ohne deren Vertretung auf einen Bruchteil der betreffenden Interessenten
zu beschränken, und ohne Staatsinteresse und Staatsordnung zu verleugnen.
Mit solchen Parteien wird die Staatsleitung ebenfalls zu kämpfen haben, aber
aus dem Kampf zum Frieden gelangen, zu einem Kompromiß, worauf doch
jeder offne und klare Streit unter Volksgenossen hinauslaufen kann und soll.
Mit den alten Parteien ist nichts mehr zu machen, sie sind abgebraucht und
fristen ihr Leben nur davon, daß sich keine entschlossenen Erben melden. Unter
den frühern Kartellparteicn ist keine, die nicht offiziell rein politische Ziele vor¬
schöbe und doch insgeheim Interessenpolitik triebe, die Politik der Unternehmer¬
klasse in dem betreffenden Interessenkreis. Bei dem Zentrum ist das weniger der
Fall, es hat sich die Berührung mit den verschiednen Schichten seiner Wähler
besser bewahrt, sein Rekrntirungsbezirk ist auch größtenteils noch sozial und
wirtschaftlich gesünder; aber auch im Zentrum zeigen sich Jnteressenspaltungen,
drängt das Unternehmertum die schwächer bewehrten Schichten zurück, und
dann ist die Auffassung des Zentrums von Staatsgewalt und Staatsgesinnung
auf einem andern Boden gewachsen als das deutsche Reich. Das ist es, was
uns das Zentrum fremd macht, nicht Mangel an Vaterlandsliebe, der sich
nur noch ganz vereinzelt und bei den polnischen oder verwelschten Anhängseln
zeigt. Der Antisemitismus schließlich ist eine unfertige Bildung, die ein be¬
währtes und unentbehrliches Kampfmittel übertreibt und zum Kampfzweck
macht. Von den demokratischen Parteien ist nur zu bemerken, daß die frei¬
sinnige Vereinigung als offne Partei der Handelsinteressen Sinn und Zukunft
hätte, und daß sich die süddeutsche Demokratie manchen Rest von sozialer Ge¬
sinnung gerettet hat.

Auf die Parteiprogramme kann auch die Feder einwirken, aber nur, wenn
wir uns ebenfalls Zwang und Pflicht auflegen. Anregungen sind ja aus der
Feder in Menge geflossen, darunter sehr schätzbares Material; was fehlt, ist
die Sammlung und Sichtung und die Prüfung nach dem politischen Wert.
Politische Fragen sind Machtfragen, so ist auch jede politische Bewegung ein


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[0478] Mittelsiäöts politische Briefe an politischen und bürgerlichen Rechten haben wir in Deutschland vollauf genug. Wenn wir nur aus den Rechten auch Pflichten schöpfen wollten; aber eine neue Form, zu leben, soll den Willen, zu leben, ersetzen. Wir müssen, meine ich, vollständig Kehrt machen, der Pflicht mehr als dem eignen Triebe gehorchen und, da jeder im Staate Partei nehmen soll, unsre Partei da suchen, wohin das drängendste und umfassendste Bedürfnis der Zeit weist, also auf dem Gebiete der sozialwirtschaftlichen Fragen. Das Feld, worauf Sozialdemokratie, Jndustrialismus und Agrarbeweguug arbeiten, ist auch unser Parteifeld, in dem Sinne jedoch, daß der Verneinung der Sozial¬ demokratie und den Einseitigkeiten ihrer zahmern Geschwister ein Ende gemacht wird. Unsre Parteien, bei einer kann es ja nicht bleiben, müssen solche sein, die ihre Herkunft aus Klasseninteressen bestimmt und unumwunden anerkennen, aber ohne deren Vertretung auf einen Bruchteil der betreffenden Interessenten zu beschränken, und ohne Staatsinteresse und Staatsordnung zu verleugnen. Mit solchen Parteien wird die Staatsleitung ebenfalls zu kämpfen haben, aber aus dem Kampf zum Frieden gelangen, zu einem Kompromiß, worauf doch jeder offne und klare Streit unter Volksgenossen hinauslaufen kann und soll. Mit den alten Parteien ist nichts mehr zu machen, sie sind abgebraucht und fristen ihr Leben nur davon, daß sich keine entschlossenen Erben melden. Unter den frühern Kartellparteicn ist keine, die nicht offiziell rein politische Ziele vor¬ schöbe und doch insgeheim Interessenpolitik triebe, die Politik der Unternehmer¬ klasse in dem betreffenden Interessenkreis. Bei dem Zentrum ist das weniger der Fall, es hat sich die Berührung mit den verschiednen Schichten seiner Wähler besser bewahrt, sein Rekrntirungsbezirk ist auch größtenteils noch sozial und wirtschaftlich gesünder; aber auch im Zentrum zeigen sich Jnteressenspaltungen, drängt das Unternehmertum die schwächer bewehrten Schichten zurück, und dann ist die Auffassung des Zentrums von Staatsgewalt und Staatsgesinnung auf einem andern Boden gewachsen als das deutsche Reich. Das ist es, was uns das Zentrum fremd macht, nicht Mangel an Vaterlandsliebe, der sich nur noch ganz vereinzelt und bei den polnischen oder verwelschten Anhängseln zeigt. Der Antisemitismus schließlich ist eine unfertige Bildung, die ein be¬ währtes und unentbehrliches Kampfmittel übertreibt und zum Kampfzweck macht. Von den demokratischen Parteien ist nur zu bemerken, daß die frei¬ sinnige Vereinigung als offne Partei der Handelsinteressen Sinn und Zukunft hätte, und daß sich die süddeutsche Demokratie manchen Rest von sozialer Ge¬ sinnung gerettet hat. Auf die Parteiprogramme kann auch die Feder einwirken, aber nur, wenn wir uns ebenfalls Zwang und Pflicht auflegen. Anregungen sind ja aus der Feder in Menge geflossen, darunter sehr schätzbares Material; was fehlt, ist die Sammlung und Sichtung und die Prüfung nach dem politischen Wert. Politische Fragen sind Machtfragen, so ist auch jede politische Bewegung ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/478>, abgerufen am 26.06.2024.