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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstädts politische Briefe

Schätzung oder nur Gleichgiltigkeit dagegen zu zeigen, sich Wohl gar aus ge¬
sichertem Dasein heraus in die Pose der Uneigennützigkeit zu werfen. Das
muß in der That bei denen, die auf harte Arbeit und auf Erwerb augewiesen
sind, das Gefühl der Arbeitsbiene gegen die Drohne erwecken. Nicht abseits
von den ungünstiger Gestellten haben sich die durch Geist und Vermögen be¬
vorzugten zu stellen, sondern ihnen zur Seite, als Mitbeteiligte der Pflicht
nach. Dann werden sie auch wieder an ihre Spitze kommen, denn die Menge
will stets geführt sein, freilich nicht gönnerhaft und meisternd, sondern werk¬
thätig und mit der Hilfe, die den Menschen dem Menschen nähert. Das
ist das Geheimnis der Sozialdemokratie und in gewissem Maße auch des
Zentrums.

Daß unter uns so viele das beste redlich wollende Männer einen Irrtum
teilen, der wie Lieblosigkeit aussieht und wirkt, rührt teils von der deutschen
Neigung her, die "gemeine" Wirklichkeit zu vergesse", teils daher, daß uns
noch das Bild der ersten Zeiten nach der politischen Einigung vorschwebt.
Man war damals, anch innerlich, einiger, der Widerspruch hemmte nicht die
Entwicklung, sondern hielt nur Eintönigkeit fern, und in der Teilnahme an
den Nerfasfungsfragen erfrischte der Neiz rein politischen Lebens. Wir haben
uns damals politisch verwöhnt. Allein auch damals war die von uns ver¬
achtete Materie am Werk; es schien uns ja so, als ob in den wirtschaftlichen
Fragen nur die unser Wohlgefallen erweckende Entfesselung aller Kräfte thätig
wäre, aber in Wirklichkeit faßten daneben und dadurch sehr eigennützige Mächte
festen Fuß. Jetzt sind sie zum Schaden des Gemeinwohls übermächtig; jede
Staatsthütigteit auf dem von ihnen eroberten Gebiete, namentlich die Fürsorge
für den wirtschaftlich Schwächern, kann ihnen mir schaden, und deshalb
sträuben sie sich mit jedem Mittel dagegen. Ein Hauptmittel ist die Ab¬
lenkung der Aufmerksamkeit von dem Sitz der Krankheit auf die angeblichen
Herrlichkeiten der politischen Demokratie. Volkswirtschaftlich und sozial da¬
gegen genügt ihnen nicht mehr die Lehre, daß der Staat in den wirtschaft¬
lichen Interessenkampf, der ein Natnrprozeß sei, nicht eingreifen, sondern nur
"der Freiheit eine Gasse" bahnen dürfe; die Lehre geht jetzt weiter und lautet
so, daß wirtschaftliche Interessen in der That niedriger Art.- des Staats und
des Staatsbürgers unwürdig seien. Es mag sein, daß es manche anch glauben,
aber für das Gemeinwohl ist diese Lehre Gift, denn der Mangel wird durch
sie zur Wut gegen alles Bestehende entflammt, und Interessen, die sich ver¬
stecken, sind die gefährlichsten, weil sie nur durch Vorwürfe und Hetzereien gegen
alle andern Interessenten verborgen bleiben, und weil nnr offen hervortretende
Interessen auf ihren Wert für die Allgemeinheit geprüft werden können. Wer
von uns auf dieser Seite steht, unterstützt, ohne es zu wollen, Verheimlichung,
Vertuschung und Plusmacherei. Daß sich dabei so manche in die demokratische
Strömung hineinziehen lassen, ist ebenfalls Folge von Selbsttäuschung, deun


Mittelstädts politische Briefe

Schätzung oder nur Gleichgiltigkeit dagegen zu zeigen, sich Wohl gar aus ge¬
sichertem Dasein heraus in die Pose der Uneigennützigkeit zu werfen. Das
muß in der That bei denen, die auf harte Arbeit und auf Erwerb augewiesen
sind, das Gefühl der Arbeitsbiene gegen die Drohne erwecken. Nicht abseits
von den ungünstiger Gestellten haben sich die durch Geist und Vermögen be¬
vorzugten zu stellen, sondern ihnen zur Seite, als Mitbeteiligte der Pflicht
nach. Dann werden sie auch wieder an ihre Spitze kommen, denn die Menge
will stets geführt sein, freilich nicht gönnerhaft und meisternd, sondern werk¬
thätig und mit der Hilfe, die den Menschen dem Menschen nähert. Das
ist das Geheimnis der Sozialdemokratie und in gewissem Maße auch des
Zentrums.

Daß unter uns so viele das beste redlich wollende Männer einen Irrtum
teilen, der wie Lieblosigkeit aussieht und wirkt, rührt teils von der deutschen
Neigung her, die „gemeine" Wirklichkeit zu vergesse», teils daher, daß uns
noch das Bild der ersten Zeiten nach der politischen Einigung vorschwebt.
Man war damals, anch innerlich, einiger, der Widerspruch hemmte nicht die
Entwicklung, sondern hielt nur Eintönigkeit fern, und in der Teilnahme an
den Nerfasfungsfragen erfrischte der Neiz rein politischen Lebens. Wir haben
uns damals politisch verwöhnt. Allein auch damals war die von uns ver¬
achtete Materie am Werk; es schien uns ja so, als ob in den wirtschaftlichen
Fragen nur die unser Wohlgefallen erweckende Entfesselung aller Kräfte thätig
wäre, aber in Wirklichkeit faßten daneben und dadurch sehr eigennützige Mächte
festen Fuß. Jetzt sind sie zum Schaden des Gemeinwohls übermächtig; jede
Staatsthütigteit auf dem von ihnen eroberten Gebiete, namentlich die Fürsorge
für den wirtschaftlich Schwächern, kann ihnen mir schaden, und deshalb
sträuben sie sich mit jedem Mittel dagegen. Ein Hauptmittel ist die Ab¬
lenkung der Aufmerksamkeit von dem Sitz der Krankheit auf die angeblichen
Herrlichkeiten der politischen Demokratie. Volkswirtschaftlich und sozial da¬
gegen genügt ihnen nicht mehr die Lehre, daß der Staat in den wirtschaft¬
lichen Interessenkampf, der ein Natnrprozeß sei, nicht eingreifen, sondern nur
„der Freiheit eine Gasse" bahnen dürfe; die Lehre geht jetzt weiter und lautet
so, daß wirtschaftliche Interessen in der That niedriger Art.- des Staats und
des Staatsbürgers unwürdig seien. Es mag sein, daß es manche anch glauben,
aber für das Gemeinwohl ist diese Lehre Gift, denn der Mangel wird durch
sie zur Wut gegen alles Bestehende entflammt, und Interessen, die sich ver¬
stecken, sind die gefährlichsten, weil sie nur durch Vorwürfe und Hetzereien gegen
alle andern Interessenten verborgen bleiben, und weil nnr offen hervortretende
Interessen auf ihren Wert für die Allgemeinheit geprüft werden können. Wer
von uns auf dieser Seite steht, unterstützt, ohne es zu wollen, Verheimlichung,
Vertuschung und Plusmacherei. Daß sich dabei so manche in die demokratische
Strömung hineinziehen lassen, ist ebenfalls Folge von Selbsttäuschung, deun


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[0477] Mittelstädts politische Briefe Schätzung oder nur Gleichgiltigkeit dagegen zu zeigen, sich Wohl gar aus ge¬ sichertem Dasein heraus in die Pose der Uneigennützigkeit zu werfen. Das muß in der That bei denen, die auf harte Arbeit und auf Erwerb augewiesen sind, das Gefühl der Arbeitsbiene gegen die Drohne erwecken. Nicht abseits von den ungünstiger Gestellten haben sich die durch Geist und Vermögen be¬ vorzugten zu stellen, sondern ihnen zur Seite, als Mitbeteiligte der Pflicht nach. Dann werden sie auch wieder an ihre Spitze kommen, denn die Menge will stets geführt sein, freilich nicht gönnerhaft und meisternd, sondern werk¬ thätig und mit der Hilfe, die den Menschen dem Menschen nähert. Das ist das Geheimnis der Sozialdemokratie und in gewissem Maße auch des Zentrums. Daß unter uns so viele das beste redlich wollende Männer einen Irrtum teilen, der wie Lieblosigkeit aussieht und wirkt, rührt teils von der deutschen Neigung her, die „gemeine" Wirklichkeit zu vergesse», teils daher, daß uns noch das Bild der ersten Zeiten nach der politischen Einigung vorschwebt. Man war damals, anch innerlich, einiger, der Widerspruch hemmte nicht die Entwicklung, sondern hielt nur Eintönigkeit fern, und in der Teilnahme an den Nerfasfungsfragen erfrischte der Neiz rein politischen Lebens. Wir haben uns damals politisch verwöhnt. Allein auch damals war die von uns ver¬ achtete Materie am Werk; es schien uns ja so, als ob in den wirtschaftlichen Fragen nur die unser Wohlgefallen erweckende Entfesselung aller Kräfte thätig wäre, aber in Wirklichkeit faßten daneben und dadurch sehr eigennützige Mächte festen Fuß. Jetzt sind sie zum Schaden des Gemeinwohls übermächtig; jede Staatsthütigteit auf dem von ihnen eroberten Gebiete, namentlich die Fürsorge für den wirtschaftlich Schwächern, kann ihnen mir schaden, und deshalb sträuben sie sich mit jedem Mittel dagegen. Ein Hauptmittel ist die Ab¬ lenkung der Aufmerksamkeit von dem Sitz der Krankheit auf die angeblichen Herrlichkeiten der politischen Demokratie. Volkswirtschaftlich und sozial da¬ gegen genügt ihnen nicht mehr die Lehre, daß der Staat in den wirtschaft¬ lichen Interessenkampf, der ein Natnrprozeß sei, nicht eingreifen, sondern nur „der Freiheit eine Gasse" bahnen dürfe; die Lehre geht jetzt weiter und lautet so, daß wirtschaftliche Interessen in der That niedriger Art.- des Staats und des Staatsbürgers unwürdig seien. Es mag sein, daß es manche anch glauben, aber für das Gemeinwohl ist diese Lehre Gift, denn der Mangel wird durch sie zur Wut gegen alles Bestehende entflammt, und Interessen, die sich ver¬ stecken, sind die gefährlichsten, weil sie nur durch Vorwürfe und Hetzereien gegen alle andern Interessenten verborgen bleiben, und weil nnr offen hervortretende Interessen auf ihren Wert für die Allgemeinheit geprüft werden können. Wer von uns auf dieser Seite steht, unterstützt, ohne es zu wollen, Verheimlichung, Vertuschung und Plusmacherei. Daß sich dabei so manche in die demokratische Strömung hineinziehen lassen, ist ebenfalls Folge von Selbsttäuschung, deun

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/477>, abgerufen am 26.06.2024.