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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstadt- politische Briese

einmischen; das Ideal politischer Parteibildung sieht er in der Abwendung von
solchem Beisatz. Das ist sicher Irrtum und Selbsttäuschung, schon deshalb,
weil sich niemals und nirgends Vertretne und Vertreter vou wirtschaftlichen
und sozialen Bedürfnissen und Stimmungen freihalten können; der Irrtum ist
jedoch noch weit verbreitet und richtet viel Unheil an. Besonders jetzt, wo
wir in Deutschland politisch gesättigt sind, aber Wirtschafts- und sozialpolitisch
erlösender Thaten bedürfen. Der letzte Ausdruck wird zu stark erscheinen,
entspricht aber der Sachlage, denn es gilt, Stickluft und Alpdruck los¬
zuwerden.

Der Irrtum hängt damit zusammen, daß der moderne Abgeordnete, im
Gegensatz zu dem frühern ständischen, verfassungsrechtlich nicht seinen Stand
oder Wahlkreis, sondern das ganze Volk vertritt. Dieser Satz richtet seine
Spitze gegen das sogenannte imperative Mandat, noch mehr gegen die häufiger
vorkommende Reizung, über den Anschauungen und Bestrebungen der nächsten
Umgebung, dessen, was man als politisches Milieu bezeichnen könnte, die
Forderungen der allgemeinen Wohlfahrt zu vergessen und zu versäumen.
Positiv ausgedrückt: das, was der allgemeinen Wohlfahrt dient, soll für jeden
Abgeordneten der Maßstab und die Richtung des Handelns sein, selbst dann,
wenn sein Wahlkreis zunächst darunter leiden sollte. Das gilt auch von den
materiellen und gesellschaftlichen Interessen; auch ihnen gegenüber hat der
Abgeordnete das Gemeinwohl zu wahren, wenn sie über Maß und Raum
hinausstreben. Aber das heißt doch nicht, daß er diese Interessen unbeachtet
lassen oder gar zurückweisen soll, denn sie sind für deu regelmäßigen Verlauf des
Gemeinlebens das Wichtigste und das immer Wiederkehrende, der Blutumlauf
und Stoffwechsel des Volkskörpers; das Gemeinwohl setzt doch das zusammen¬
stimmende Wohlbefinden aller Teile, Gliederungen und Gemeinschaften, die
aus Volksbedürfnisfen hervorwachsen, voraus. Selbst wer die idealen oder
geistigen Interessen höher stellt, muß die materiellen fördern, auch für den
Volkskörper das oorpu8 8anuin als Bedingung der lusus sann, anerkennen;
außerdem drängen auch die geistigen Interessen immer nach einer äußern Ge¬
meinschaft mit materieller Grundlage.

Also: durch Vernachlässigung der materiellen Seite des Staatslebens
würde der Abgeordnete seine Pflicht vernachlässigen, in noch höherm Grade,
als wenn er die Vertretung dessen, was feinem Wahlkreis rechtmüßig zukommt,
einem andern Abgeordneten überlassen wollte. Was für den Abgeordneten
gilt, gilt nicht weniger für jeden Staatsbürger, nur daß bei diesem der Kreis
der Wirksamkeit und der Verantwortung enger ist, nach Ort und Gelegenheit.
Dem Gegenstände nach ist der Staatsbürger ebenso wenig berechtigt, in öffent¬
lichen Angelegenheiten den Standpunkt des Liebhabers einzunehmen; er thut
großes Unrecht, sich gegen das, was für den weit überwiegenden Teil des
Volks das entscheidende Stück des Lebens ausmacht, zu verschließen, Gering-


Mittelstadt- politische Briese

einmischen; das Ideal politischer Parteibildung sieht er in der Abwendung von
solchem Beisatz. Das ist sicher Irrtum und Selbsttäuschung, schon deshalb,
weil sich niemals und nirgends Vertretne und Vertreter vou wirtschaftlichen
und sozialen Bedürfnissen und Stimmungen freihalten können; der Irrtum ist
jedoch noch weit verbreitet und richtet viel Unheil an. Besonders jetzt, wo
wir in Deutschland politisch gesättigt sind, aber Wirtschafts- und sozialpolitisch
erlösender Thaten bedürfen. Der letzte Ausdruck wird zu stark erscheinen,
entspricht aber der Sachlage, denn es gilt, Stickluft und Alpdruck los¬
zuwerden.

Der Irrtum hängt damit zusammen, daß der moderne Abgeordnete, im
Gegensatz zu dem frühern ständischen, verfassungsrechtlich nicht seinen Stand
oder Wahlkreis, sondern das ganze Volk vertritt. Dieser Satz richtet seine
Spitze gegen das sogenannte imperative Mandat, noch mehr gegen die häufiger
vorkommende Reizung, über den Anschauungen und Bestrebungen der nächsten
Umgebung, dessen, was man als politisches Milieu bezeichnen könnte, die
Forderungen der allgemeinen Wohlfahrt zu vergessen und zu versäumen.
Positiv ausgedrückt: das, was der allgemeinen Wohlfahrt dient, soll für jeden
Abgeordneten der Maßstab und die Richtung des Handelns sein, selbst dann,
wenn sein Wahlkreis zunächst darunter leiden sollte. Das gilt auch von den
materiellen und gesellschaftlichen Interessen; auch ihnen gegenüber hat der
Abgeordnete das Gemeinwohl zu wahren, wenn sie über Maß und Raum
hinausstreben. Aber das heißt doch nicht, daß er diese Interessen unbeachtet
lassen oder gar zurückweisen soll, denn sie sind für deu regelmäßigen Verlauf des
Gemeinlebens das Wichtigste und das immer Wiederkehrende, der Blutumlauf
und Stoffwechsel des Volkskörpers; das Gemeinwohl setzt doch das zusammen¬
stimmende Wohlbefinden aller Teile, Gliederungen und Gemeinschaften, die
aus Volksbedürfnisfen hervorwachsen, voraus. Selbst wer die idealen oder
geistigen Interessen höher stellt, muß die materiellen fördern, auch für den
Volkskörper das oorpu8 8anuin als Bedingung der lusus sann, anerkennen;
außerdem drängen auch die geistigen Interessen immer nach einer äußern Ge¬
meinschaft mit materieller Grundlage.

Also: durch Vernachlässigung der materiellen Seite des Staatslebens
würde der Abgeordnete seine Pflicht vernachlässigen, in noch höherm Grade,
als wenn er die Vertretung dessen, was feinem Wahlkreis rechtmüßig zukommt,
einem andern Abgeordneten überlassen wollte. Was für den Abgeordneten
gilt, gilt nicht weniger für jeden Staatsbürger, nur daß bei diesem der Kreis
der Wirksamkeit und der Verantwortung enger ist, nach Ort und Gelegenheit.
Dem Gegenstände nach ist der Staatsbürger ebenso wenig berechtigt, in öffent¬
lichen Angelegenheiten den Standpunkt des Liebhabers einzunehmen; er thut
großes Unrecht, sich gegen das, was für den weit überwiegenden Teil des
Volks das entscheidende Stück des Lebens ausmacht, zu verschließen, Gering-


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[0476] Mittelstadt- politische Briese einmischen; das Ideal politischer Parteibildung sieht er in der Abwendung von solchem Beisatz. Das ist sicher Irrtum und Selbsttäuschung, schon deshalb, weil sich niemals und nirgends Vertretne und Vertreter vou wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen und Stimmungen freihalten können; der Irrtum ist jedoch noch weit verbreitet und richtet viel Unheil an. Besonders jetzt, wo wir in Deutschland politisch gesättigt sind, aber Wirtschafts- und sozialpolitisch erlösender Thaten bedürfen. Der letzte Ausdruck wird zu stark erscheinen, entspricht aber der Sachlage, denn es gilt, Stickluft und Alpdruck los¬ zuwerden. Der Irrtum hängt damit zusammen, daß der moderne Abgeordnete, im Gegensatz zu dem frühern ständischen, verfassungsrechtlich nicht seinen Stand oder Wahlkreis, sondern das ganze Volk vertritt. Dieser Satz richtet seine Spitze gegen das sogenannte imperative Mandat, noch mehr gegen die häufiger vorkommende Reizung, über den Anschauungen und Bestrebungen der nächsten Umgebung, dessen, was man als politisches Milieu bezeichnen könnte, die Forderungen der allgemeinen Wohlfahrt zu vergessen und zu versäumen. Positiv ausgedrückt: das, was der allgemeinen Wohlfahrt dient, soll für jeden Abgeordneten der Maßstab und die Richtung des Handelns sein, selbst dann, wenn sein Wahlkreis zunächst darunter leiden sollte. Das gilt auch von den materiellen und gesellschaftlichen Interessen; auch ihnen gegenüber hat der Abgeordnete das Gemeinwohl zu wahren, wenn sie über Maß und Raum hinausstreben. Aber das heißt doch nicht, daß er diese Interessen unbeachtet lassen oder gar zurückweisen soll, denn sie sind für deu regelmäßigen Verlauf des Gemeinlebens das Wichtigste und das immer Wiederkehrende, der Blutumlauf und Stoffwechsel des Volkskörpers; das Gemeinwohl setzt doch das zusammen¬ stimmende Wohlbefinden aller Teile, Gliederungen und Gemeinschaften, die aus Volksbedürfnisfen hervorwachsen, voraus. Selbst wer die idealen oder geistigen Interessen höher stellt, muß die materiellen fördern, auch für den Volkskörper das oorpu8 8anuin als Bedingung der lusus sann, anerkennen; außerdem drängen auch die geistigen Interessen immer nach einer äußern Ge¬ meinschaft mit materieller Grundlage. Also: durch Vernachlässigung der materiellen Seite des Staatslebens würde der Abgeordnete seine Pflicht vernachlässigen, in noch höherm Grade, als wenn er die Vertretung dessen, was feinem Wahlkreis rechtmüßig zukommt, einem andern Abgeordneten überlassen wollte. Was für den Abgeordneten gilt, gilt nicht weniger für jeden Staatsbürger, nur daß bei diesem der Kreis der Wirksamkeit und der Verantwortung enger ist, nach Ort und Gelegenheit. Dem Gegenstände nach ist der Staatsbürger ebenso wenig berechtigt, in öffent¬ lichen Angelegenheiten den Standpunkt des Liebhabers einzunehmen; er thut großes Unrecht, sich gegen das, was für den weit überwiegenden Teil des Volks das entscheidende Stück des Lebens ausmacht, zu verschließen, Gering-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/476>, abgerufen am 26.06.2024.