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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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frucht festhält, andre Betriebe nur als örtlich bedingt oder zur Hilfe und
nebenher kennt, und wenn der Besitz so verteilt oder die Arbeitsgemeinschaft so
geregelt ist, daß alle arbeitenden Menschen, Haupt und Hände, auf der Scholle
auch die Heimat finden. Darauf kann der Staat hinwirken, wenn er seine
Hilfe in der Not an entsprechende Bedingungen knüpft, während er durch Be¬
vorzugung der Zucker- und Spiritusindustrie das Übergewicht landwirtschaft¬
licher Nebenbetriebe künstlich weiterzüchtet, ohne dauernden Vorteil für die be¬
dachten, aber zum Schaden des Adels ländlicher Arbeit und zur Beförderung
der Latifundienbildung, mögen auch manche Bauern dnrch den Rübenbau mehr
zu Gelde kommen. Hängt unsre falsche Agrarpolitik, deren Irrtümer es bei¬
nahe so weit gebracht haben, jede Agrarpolitik in Verruf zu bringen, nicht
auch mit den bis zum Überdruß wiederholten abstrakten Samuel- und Schlag¬
wörtern: Landwirtschaft, notleidende Landwirtschaft zusammen? Diese all¬
gemeinen Bezeichnungen legen einen Schleier darüber, wie die Zustände für
die beteiligten Menschen -- Großgrundbesitzer, Rittergutsbesitzer, Bauern,
Kleinbauern, Pächter, Landarbeiter ^ in Wirklichkeit aussehen, inwiefern die
Zustände für alle oder für den größern Teil schlimm und gefährlich sind; sie
gestatten es auch den Vertretern selbstsüchtiger Interessen, sich als Vertreter
der berechtigten aufzuspielen, am lautesten zu klagen und sich in die vorderste
Reihe zu stellen, für den Augenblick, wo der Staat die Hand wieder öffnen
wird. Den Gegnern macht es die Verschleierung möglich, die Not ganz ab¬
zuleugnen oder auf den Mangel an "Intelligenz" und auf den "Großgrund¬
besitz" abzuschieben, Schlagwort mit Schlagwort zu bekämpfen. Zu dem
Großgrundbesitz wird dann jeder Rittergutsbesitzer gerechnet, der selbstverständ¬
lich immer ein "Herr von" sein muß, und nun geht es in gut gespielter Ent¬
rüstung und Uneigennützigkeit auf die unersättlichen Junker los. Unter
der Tarnkappe läßt sich ja der wahre Zweck: Haß und Sturm gegen die Kraft
des preußischen Wesens mit Erfolg verstecken, und zur Verhüllung der eignen
Selbstsucht sind diese und andre "Wortgespenster" nicht weniger bequem.

Die Sucht nach Stichwörtern von bestechender Allgemeinheit ist schon oft,
am nachdrücklichsten wohl von Karl Jentsch, bekämpft worden, wuchert aber
fort, und der Nebel um deu wahren Sachverhalt wird immer dichter. Des¬
halb sollte sich jeder, der auf bestimmten Ausdruck Wert legt, an dem Kampf
beteiligen, denn es handelt sich um einen gemeinschaftlichen Feind. Mittelstadt
thut es nicht, trotz besondrer Befähigung und Gelegenheit, sondern folgt dem
allgemeinen Strom. Den noch nicht ganz zu Tod gehetzten "Konsumenten"
zwar überläßt er andern, aber außer den schon erwähnten Schlagwörtern
braucht er noch andre, z. B. den Agrarier und den Antisemitismus, ohne an¬
zugeben, was er an dem Wesen dieser Verworfnen verwerflich findet. Un¬
sympathisch sind ihm die entsprechenden Parteien durchaus, überhaupt alle
Parteien, die materielle und gesellschaftliche Interessen in den politischen Kampf


Grenzboten IV 18"? 59

frucht festhält, andre Betriebe nur als örtlich bedingt oder zur Hilfe und
nebenher kennt, und wenn der Besitz so verteilt oder die Arbeitsgemeinschaft so
geregelt ist, daß alle arbeitenden Menschen, Haupt und Hände, auf der Scholle
auch die Heimat finden. Darauf kann der Staat hinwirken, wenn er seine
Hilfe in der Not an entsprechende Bedingungen knüpft, während er durch Be¬
vorzugung der Zucker- und Spiritusindustrie das Übergewicht landwirtschaft¬
licher Nebenbetriebe künstlich weiterzüchtet, ohne dauernden Vorteil für die be¬
dachten, aber zum Schaden des Adels ländlicher Arbeit und zur Beförderung
der Latifundienbildung, mögen auch manche Bauern dnrch den Rübenbau mehr
zu Gelde kommen. Hängt unsre falsche Agrarpolitik, deren Irrtümer es bei¬
nahe so weit gebracht haben, jede Agrarpolitik in Verruf zu bringen, nicht
auch mit den bis zum Überdruß wiederholten abstrakten Samuel- und Schlag¬
wörtern: Landwirtschaft, notleidende Landwirtschaft zusammen? Diese all¬
gemeinen Bezeichnungen legen einen Schleier darüber, wie die Zustände für
die beteiligten Menschen — Großgrundbesitzer, Rittergutsbesitzer, Bauern,
Kleinbauern, Pächter, Landarbeiter ^ in Wirklichkeit aussehen, inwiefern die
Zustände für alle oder für den größern Teil schlimm und gefährlich sind; sie
gestatten es auch den Vertretern selbstsüchtiger Interessen, sich als Vertreter
der berechtigten aufzuspielen, am lautesten zu klagen und sich in die vorderste
Reihe zu stellen, für den Augenblick, wo der Staat die Hand wieder öffnen
wird. Den Gegnern macht es die Verschleierung möglich, die Not ganz ab¬
zuleugnen oder auf den Mangel an „Intelligenz" und auf den „Großgrund¬
besitz" abzuschieben, Schlagwort mit Schlagwort zu bekämpfen. Zu dem
Großgrundbesitz wird dann jeder Rittergutsbesitzer gerechnet, der selbstverständ¬
lich immer ein „Herr von" sein muß, und nun geht es in gut gespielter Ent¬
rüstung und Uneigennützigkeit auf die unersättlichen Junker los. Unter
der Tarnkappe läßt sich ja der wahre Zweck: Haß und Sturm gegen die Kraft
des preußischen Wesens mit Erfolg verstecken, und zur Verhüllung der eignen
Selbstsucht sind diese und andre „Wortgespenster" nicht weniger bequem.

Die Sucht nach Stichwörtern von bestechender Allgemeinheit ist schon oft,
am nachdrücklichsten wohl von Karl Jentsch, bekämpft worden, wuchert aber
fort, und der Nebel um deu wahren Sachverhalt wird immer dichter. Des¬
halb sollte sich jeder, der auf bestimmten Ausdruck Wert legt, an dem Kampf
beteiligen, denn es handelt sich um einen gemeinschaftlichen Feind. Mittelstadt
thut es nicht, trotz besondrer Befähigung und Gelegenheit, sondern folgt dem
allgemeinen Strom. Den noch nicht ganz zu Tod gehetzten „Konsumenten"
zwar überläßt er andern, aber außer den schon erwähnten Schlagwörtern
braucht er noch andre, z. B. den Agrarier und den Antisemitismus, ohne an¬
zugeben, was er an dem Wesen dieser Verworfnen verwerflich findet. Un¬
sympathisch sind ihm die entsprechenden Parteien durchaus, überhaupt alle
Parteien, die materielle und gesellschaftliche Interessen in den politischen Kampf


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[0475] frucht festhält, andre Betriebe nur als örtlich bedingt oder zur Hilfe und nebenher kennt, und wenn der Besitz so verteilt oder die Arbeitsgemeinschaft so geregelt ist, daß alle arbeitenden Menschen, Haupt und Hände, auf der Scholle auch die Heimat finden. Darauf kann der Staat hinwirken, wenn er seine Hilfe in der Not an entsprechende Bedingungen knüpft, während er durch Be¬ vorzugung der Zucker- und Spiritusindustrie das Übergewicht landwirtschaft¬ licher Nebenbetriebe künstlich weiterzüchtet, ohne dauernden Vorteil für die be¬ dachten, aber zum Schaden des Adels ländlicher Arbeit und zur Beförderung der Latifundienbildung, mögen auch manche Bauern dnrch den Rübenbau mehr zu Gelde kommen. Hängt unsre falsche Agrarpolitik, deren Irrtümer es bei¬ nahe so weit gebracht haben, jede Agrarpolitik in Verruf zu bringen, nicht auch mit den bis zum Überdruß wiederholten abstrakten Samuel- und Schlag¬ wörtern: Landwirtschaft, notleidende Landwirtschaft zusammen? Diese all¬ gemeinen Bezeichnungen legen einen Schleier darüber, wie die Zustände für die beteiligten Menschen — Großgrundbesitzer, Rittergutsbesitzer, Bauern, Kleinbauern, Pächter, Landarbeiter ^ in Wirklichkeit aussehen, inwiefern die Zustände für alle oder für den größern Teil schlimm und gefährlich sind; sie gestatten es auch den Vertretern selbstsüchtiger Interessen, sich als Vertreter der berechtigten aufzuspielen, am lautesten zu klagen und sich in die vorderste Reihe zu stellen, für den Augenblick, wo der Staat die Hand wieder öffnen wird. Den Gegnern macht es die Verschleierung möglich, die Not ganz ab¬ zuleugnen oder auf den Mangel an „Intelligenz" und auf den „Großgrund¬ besitz" abzuschieben, Schlagwort mit Schlagwort zu bekämpfen. Zu dem Großgrundbesitz wird dann jeder Rittergutsbesitzer gerechnet, der selbstverständ¬ lich immer ein „Herr von" sein muß, und nun geht es in gut gespielter Ent¬ rüstung und Uneigennützigkeit auf die unersättlichen Junker los. Unter der Tarnkappe läßt sich ja der wahre Zweck: Haß und Sturm gegen die Kraft des preußischen Wesens mit Erfolg verstecken, und zur Verhüllung der eignen Selbstsucht sind diese und andre „Wortgespenster" nicht weniger bequem. Die Sucht nach Stichwörtern von bestechender Allgemeinheit ist schon oft, am nachdrücklichsten wohl von Karl Jentsch, bekämpft worden, wuchert aber fort, und der Nebel um deu wahren Sachverhalt wird immer dichter. Des¬ halb sollte sich jeder, der auf bestimmten Ausdruck Wert legt, an dem Kampf beteiligen, denn es handelt sich um einen gemeinschaftlichen Feind. Mittelstadt thut es nicht, trotz besondrer Befähigung und Gelegenheit, sondern folgt dem allgemeinen Strom. Den noch nicht ganz zu Tod gehetzten „Konsumenten" zwar überläßt er andern, aber außer den schon erwähnten Schlagwörtern braucht er noch andre, z. B. den Agrarier und den Antisemitismus, ohne an¬ zugeben, was er an dem Wesen dieser Verworfnen verwerflich findet. Un¬ sympathisch sind ihm die entsprechenden Parteien durchaus, überhaupt alle Parteien, die materielle und gesellschaftliche Interessen in den politischen Kampf Grenzboten IV 18»? 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/475>, abgerufen am 26.06.2024.