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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstädts politische Briefe

Haupt. Besonders füllt auf, daß auch Mittelstadt so viel mit den Abstrakten:
Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Kapital usw. operirt, während doch der
erste Schritt, aus unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zerfahrenheit heraus¬
zukommen, darin besteht, daß wir uns bei jedem Unternehmen, das soziale
Anerkennung und Staatshilfe fordert, klar machen, wie es auf alle beteiligten
Menschen wirkt, daß wir es eines in klare und unzweideutige Worte zu
fassen suchen: welche Menschen also und wie viele mit der Unternehmung
zu thun haben werden, was sie, einzeln genommen oder zusammengehörig,
davon haben, an Nahrung. Kleidung und Obdach, vorübergehend und dauernd,
ob dabei der die Arbeit ausführende Teil zu gesundem und menschenwürdigen
Schaffen berufen ist oder nur wieder die Zahl menschlich beseelter Maschinen¬
teile vermehren soll, ob sich aus der Arbeitsgemeinschaft eine Lebensgemein¬
schaft entwickeln kann, und ähnliche Erwägungen mehr. In dieser Weise aus¬
einandergelegt, stellt der Zweck menschlich persönliche Beziehungen vor, hat er
Fleisch und Blut. Bei leeren Schemen dagegen bleibt es, wenn es etwa heißt,
Industrie und Landwirtschaft Hütten sich über den Handel wegen seines Mangels
an Galanterie zu beklagen, oder sie alle drei ersehnten und fürchteten zugleich
die erdrückende Umarmung des Kapitals.

Jetzt wird, was die "Arbeitnehmer" anlangt -- auch eine verwirrende Be¬
zeichnung, da sie doch ihre Arbeit hergeben --, immer nur gefragt, wie viele
davon, nach den Regeln der Kunst gezählt, Arbeitsgelegenheit und Lohn zu
erwarten haben. Also an das Brot wird wohl gedacht, aber nach statistisch
abgewognen Portionen und nur für den ersten Anfang. Und doch sollte
gerade die Obrigkeit nie vergessen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt.
Ist es nicht, um Beispiele anzuführen, auch für das Maß von Zollschutz von
Bedeutung, ob ein großer Gewerbebetrieb giftige Farben herstellt, dadurch der
Gesundheit der Arbeiter schädlich ist und immer neue Arbeiter statt der schnell
abgenutzten alten verlangt, oder ob er, wie beim Maschinen- und Schiffbau,
vorzugsweise gelernte und ständige Arbeiter beschäftigt, und so. daß sie sich
durch die körperliche Anstrengung die Seele frei schaffen? Ist nicht jede Arbeit,
bei der man im innern Herzen spürt, was man mit seiner Hand erschafft, auch
für die Allgemeinheit ein Segen, die Arbeit dagegen, deren Ergebnis dem, der
sie verrichtet, unbekannt, unnütz oder womöglich verhaßt ist, etwas mehr als
ein Notbehelf? "Und die Fabrikherren? Meint man in der That, es höhle
das Menschenherz nicht aus, Hunderte zu Kindern Gottes veranlagte Geschöpfe
in der Weise zum Gcldverdienen zu vernutzen, wie dies in unsern Jndustrie-
stütten geschieht?" Setzt man statt in unsern Jndustriestätten: in manchen
Jndustriestätten hin, so hat Lagarde, den ich anführe, Recht. Um auch
den "agrarischen" Standpunkt zu Worte kommen zu lassen, so ist gewiß der
Landbau die Grundlage des Staats, das wichtigste aller Gewerbe, aber er
bleibt es nur, wenn er an erster und breitester Stelle den Anbau der Brot-


Mittelstädts politische Briefe

Haupt. Besonders füllt auf, daß auch Mittelstadt so viel mit den Abstrakten:
Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Kapital usw. operirt, während doch der
erste Schritt, aus unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zerfahrenheit heraus¬
zukommen, darin besteht, daß wir uns bei jedem Unternehmen, das soziale
Anerkennung und Staatshilfe fordert, klar machen, wie es auf alle beteiligten
Menschen wirkt, daß wir es eines in klare und unzweideutige Worte zu
fassen suchen: welche Menschen also und wie viele mit der Unternehmung
zu thun haben werden, was sie, einzeln genommen oder zusammengehörig,
davon haben, an Nahrung. Kleidung und Obdach, vorübergehend und dauernd,
ob dabei der die Arbeit ausführende Teil zu gesundem und menschenwürdigen
Schaffen berufen ist oder nur wieder die Zahl menschlich beseelter Maschinen¬
teile vermehren soll, ob sich aus der Arbeitsgemeinschaft eine Lebensgemein¬
schaft entwickeln kann, und ähnliche Erwägungen mehr. In dieser Weise aus¬
einandergelegt, stellt der Zweck menschlich persönliche Beziehungen vor, hat er
Fleisch und Blut. Bei leeren Schemen dagegen bleibt es, wenn es etwa heißt,
Industrie und Landwirtschaft Hütten sich über den Handel wegen seines Mangels
an Galanterie zu beklagen, oder sie alle drei ersehnten und fürchteten zugleich
die erdrückende Umarmung des Kapitals.

Jetzt wird, was die „Arbeitnehmer" anlangt — auch eine verwirrende Be¬
zeichnung, da sie doch ihre Arbeit hergeben —, immer nur gefragt, wie viele
davon, nach den Regeln der Kunst gezählt, Arbeitsgelegenheit und Lohn zu
erwarten haben. Also an das Brot wird wohl gedacht, aber nach statistisch
abgewognen Portionen und nur für den ersten Anfang. Und doch sollte
gerade die Obrigkeit nie vergessen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt.
Ist es nicht, um Beispiele anzuführen, auch für das Maß von Zollschutz von
Bedeutung, ob ein großer Gewerbebetrieb giftige Farben herstellt, dadurch der
Gesundheit der Arbeiter schädlich ist und immer neue Arbeiter statt der schnell
abgenutzten alten verlangt, oder ob er, wie beim Maschinen- und Schiffbau,
vorzugsweise gelernte und ständige Arbeiter beschäftigt, und so. daß sie sich
durch die körperliche Anstrengung die Seele frei schaffen? Ist nicht jede Arbeit,
bei der man im innern Herzen spürt, was man mit seiner Hand erschafft, auch
für die Allgemeinheit ein Segen, die Arbeit dagegen, deren Ergebnis dem, der
sie verrichtet, unbekannt, unnütz oder womöglich verhaßt ist, etwas mehr als
ein Notbehelf? „Und die Fabrikherren? Meint man in der That, es höhle
das Menschenherz nicht aus, Hunderte zu Kindern Gottes veranlagte Geschöpfe
in der Weise zum Gcldverdienen zu vernutzen, wie dies in unsern Jndustrie-
stütten geschieht?" Setzt man statt in unsern Jndustriestätten: in manchen
Jndustriestätten hin, so hat Lagarde, den ich anführe, Recht. Um auch
den „agrarischen" Standpunkt zu Worte kommen zu lassen, so ist gewiß der
Landbau die Grundlage des Staats, das wichtigste aller Gewerbe, aber er
bleibt es nur, wenn er an erster und breitester Stelle den Anbau der Brot-


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[0474] Mittelstädts politische Briefe Haupt. Besonders füllt auf, daß auch Mittelstadt so viel mit den Abstrakten: Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Kapital usw. operirt, während doch der erste Schritt, aus unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zerfahrenheit heraus¬ zukommen, darin besteht, daß wir uns bei jedem Unternehmen, das soziale Anerkennung und Staatshilfe fordert, klar machen, wie es auf alle beteiligten Menschen wirkt, daß wir es eines in klare und unzweideutige Worte zu fassen suchen: welche Menschen also und wie viele mit der Unternehmung zu thun haben werden, was sie, einzeln genommen oder zusammengehörig, davon haben, an Nahrung. Kleidung und Obdach, vorübergehend und dauernd, ob dabei der die Arbeit ausführende Teil zu gesundem und menschenwürdigen Schaffen berufen ist oder nur wieder die Zahl menschlich beseelter Maschinen¬ teile vermehren soll, ob sich aus der Arbeitsgemeinschaft eine Lebensgemein¬ schaft entwickeln kann, und ähnliche Erwägungen mehr. In dieser Weise aus¬ einandergelegt, stellt der Zweck menschlich persönliche Beziehungen vor, hat er Fleisch und Blut. Bei leeren Schemen dagegen bleibt es, wenn es etwa heißt, Industrie und Landwirtschaft Hütten sich über den Handel wegen seines Mangels an Galanterie zu beklagen, oder sie alle drei ersehnten und fürchteten zugleich die erdrückende Umarmung des Kapitals. Jetzt wird, was die „Arbeitnehmer" anlangt — auch eine verwirrende Be¬ zeichnung, da sie doch ihre Arbeit hergeben —, immer nur gefragt, wie viele davon, nach den Regeln der Kunst gezählt, Arbeitsgelegenheit und Lohn zu erwarten haben. Also an das Brot wird wohl gedacht, aber nach statistisch abgewognen Portionen und nur für den ersten Anfang. Und doch sollte gerade die Obrigkeit nie vergessen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Ist es nicht, um Beispiele anzuführen, auch für das Maß von Zollschutz von Bedeutung, ob ein großer Gewerbebetrieb giftige Farben herstellt, dadurch der Gesundheit der Arbeiter schädlich ist und immer neue Arbeiter statt der schnell abgenutzten alten verlangt, oder ob er, wie beim Maschinen- und Schiffbau, vorzugsweise gelernte und ständige Arbeiter beschäftigt, und so. daß sie sich durch die körperliche Anstrengung die Seele frei schaffen? Ist nicht jede Arbeit, bei der man im innern Herzen spürt, was man mit seiner Hand erschafft, auch für die Allgemeinheit ein Segen, die Arbeit dagegen, deren Ergebnis dem, der sie verrichtet, unbekannt, unnütz oder womöglich verhaßt ist, etwas mehr als ein Notbehelf? „Und die Fabrikherren? Meint man in der That, es höhle das Menschenherz nicht aus, Hunderte zu Kindern Gottes veranlagte Geschöpfe in der Weise zum Gcldverdienen zu vernutzen, wie dies in unsern Jndustrie- stütten geschieht?" Setzt man statt in unsern Jndustriestätten: in manchen Jndustriestätten hin, so hat Lagarde, den ich anführe, Recht. Um auch den „agrarischen" Standpunkt zu Worte kommen zu lassen, so ist gewiß der Landbau die Grundlage des Staats, das wichtigste aller Gewerbe, aber er bleibt es nur, wenn er an erster und breitester Stelle den Anbau der Brot-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/474>, abgerufen am 26.06.2024.