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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstadt? politische Briefe

revolutionär sind, und weil in der That auch der Schein der Parteinahme
gegen die Sozialdemokratie vermieden werden sollte. Darin hat Mittelstädt
Recht, so wenig auch die Sozialdemokratie befugt ist, ihre Bestrebungen mit
der Flagge der politischen Partei zu decken. Ihren Versuchen, es zu thu",
ist mit Fürst Bismarck entgegenzuhalten, daß eine Vereinigung, die den ganzen
Bestand des Staates und der Gesellschaft umwerfen will, keinerlei politische
Rechte beanspruchen kann, und daß sich der außerhalb des Gesetzes stellt, der
alles Gesetz umstürzen will.

Wie schon angedeutet, giebt es viele, die der Meinung sind, sie könnten
sich mit der sozialen Frage dadurch abfinden, daß sie in Sachen des öffent¬
lichen Friedens und der öffentlichen Ordnung der Sozialdemokratie volle Freiheit
zuerkennen. Diese Entscheidung möchten sie gern für einen Richterspruch aus¬
geben, und sie hat auch eine Ähnlichkeit damit, nämlich die, daß der Obrigkeit
alle Kosten "zur Last fallen." Der allgemeine "Kladderadatsch" liegt, denken sie, in
nebelgrauer Ferne; sollte er doch kommen, so sind außer der Polizei noch andre
Stiefkinder der Freiheit da, die Soldaten, die aus der Not helfen werden.
Die werden schon die Straßen fegen, nötigenfalls auch den Parlamentssaal,
in den dann, nach Entfernung aller roten Spuren, die echte Freiheit wieder
einziehen kann. Für sichern Schutz in allen Gefahren werden ja die Steuern
bezahlt, und der Musterbürger, auf den der größte Teil fällt, verlangt seiner¬
seits vom Staate nicht mehr, als daß ihn dieser nach den ewigen Gesetzen des
Wirtschaftlichen Naturprozesses ungestört verdienen läßt; für ihn ist die soziale
Frage nichts als eine Erfindung von Leuten, die der Natur Gewalt anthun
wollen.

So "selbstlos" und "frei von Klasseninteressen" ist Mittelstädt nicht. Er
glaubt, daß es eine soziale Frage giebt, und forscht sehr ernst nach Ursache,
Wirkung und Lösung. Er hat es schon in einer Schrift vom Jahre 1884:
Der vierte Stand und der Staatssozialismus gethan und wiederholt in dieser
neuen seine damaligen Ausführungen, aber "in Verbindung mit einem ver¬
änderten Gedankengang" so lebendig und wirksam, daß der mangelnde Reiz des
neuen ersetzt wird. Er versteht es auch, was Ursachen und Wirkungen des
sozialistischen Klassenbewußtseins anlangt, in gedrängter Form viel zu sagen;
einige Lücken können außer Betracht bleiben, denn der tiefe Riß zwischen einst
und jetzt, auf den es hauptsächlich ankommt, ist klar und unwiderleglich nach¬
gewiesen. Weniger reichlich dagegen und unbestimmter ist die Belehrung über
das, was zur Abhilfe erstrebt wird und werden sollte. Es fehlt auch da nicht
an treffenden und geistreichen Bemerkungen, aber es wird kein Ganzes gegeben,
an das sich, sei es die Zustimmung, sei es die Kritik halten konnte. So
schwankt z. B. die Stellung zu dem. was Mittelstadt als soziales Königtum
bezeichnet, hin und her; bald wird es sür das oberste Heilmittel, bald sür eine
Unmöglichkeit erklärt, und zwar nicht nur für die Gegenwart, sondern über-


Mittelstadt? politische Briefe

revolutionär sind, und weil in der That auch der Schein der Parteinahme
gegen die Sozialdemokratie vermieden werden sollte. Darin hat Mittelstädt
Recht, so wenig auch die Sozialdemokratie befugt ist, ihre Bestrebungen mit
der Flagge der politischen Partei zu decken. Ihren Versuchen, es zu thu»,
ist mit Fürst Bismarck entgegenzuhalten, daß eine Vereinigung, die den ganzen
Bestand des Staates und der Gesellschaft umwerfen will, keinerlei politische
Rechte beanspruchen kann, und daß sich der außerhalb des Gesetzes stellt, der
alles Gesetz umstürzen will.

Wie schon angedeutet, giebt es viele, die der Meinung sind, sie könnten
sich mit der sozialen Frage dadurch abfinden, daß sie in Sachen des öffent¬
lichen Friedens und der öffentlichen Ordnung der Sozialdemokratie volle Freiheit
zuerkennen. Diese Entscheidung möchten sie gern für einen Richterspruch aus¬
geben, und sie hat auch eine Ähnlichkeit damit, nämlich die, daß der Obrigkeit
alle Kosten „zur Last fallen." Der allgemeine „Kladderadatsch" liegt, denken sie, in
nebelgrauer Ferne; sollte er doch kommen, so sind außer der Polizei noch andre
Stiefkinder der Freiheit da, die Soldaten, die aus der Not helfen werden.
Die werden schon die Straßen fegen, nötigenfalls auch den Parlamentssaal,
in den dann, nach Entfernung aller roten Spuren, die echte Freiheit wieder
einziehen kann. Für sichern Schutz in allen Gefahren werden ja die Steuern
bezahlt, und der Musterbürger, auf den der größte Teil fällt, verlangt seiner¬
seits vom Staate nicht mehr, als daß ihn dieser nach den ewigen Gesetzen des
Wirtschaftlichen Naturprozesses ungestört verdienen läßt; für ihn ist die soziale
Frage nichts als eine Erfindung von Leuten, die der Natur Gewalt anthun
wollen.

So „selbstlos" und „frei von Klasseninteressen" ist Mittelstädt nicht. Er
glaubt, daß es eine soziale Frage giebt, und forscht sehr ernst nach Ursache,
Wirkung und Lösung. Er hat es schon in einer Schrift vom Jahre 1884:
Der vierte Stand und der Staatssozialismus gethan und wiederholt in dieser
neuen seine damaligen Ausführungen, aber „in Verbindung mit einem ver¬
änderten Gedankengang" so lebendig und wirksam, daß der mangelnde Reiz des
neuen ersetzt wird. Er versteht es auch, was Ursachen und Wirkungen des
sozialistischen Klassenbewußtseins anlangt, in gedrängter Form viel zu sagen;
einige Lücken können außer Betracht bleiben, denn der tiefe Riß zwischen einst
und jetzt, auf den es hauptsächlich ankommt, ist klar und unwiderleglich nach¬
gewiesen. Weniger reichlich dagegen und unbestimmter ist die Belehrung über
das, was zur Abhilfe erstrebt wird und werden sollte. Es fehlt auch da nicht
an treffenden und geistreichen Bemerkungen, aber es wird kein Ganzes gegeben,
an das sich, sei es die Zustimmung, sei es die Kritik halten konnte. So
schwankt z. B. die Stellung zu dem. was Mittelstadt als soziales Königtum
bezeichnet, hin und her; bald wird es sür das oberste Heilmittel, bald sür eine
Unmöglichkeit erklärt, und zwar nicht nur für die Gegenwart, sondern über-


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[0473] Mittelstadt? politische Briefe revolutionär sind, und weil in der That auch der Schein der Parteinahme gegen die Sozialdemokratie vermieden werden sollte. Darin hat Mittelstädt Recht, so wenig auch die Sozialdemokratie befugt ist, ihre Bestrebungen mit der Flagge der politischen Partei zu decken. Ihren Versuchen, es zu thu», ist mit Fürst Bismarck entgegenzuhalten, daß eine Vereinigung, die den ganzen Bestand des Staates und der Gesellschaft umwerfen will, keinerlei politische Rechte beanspruchen kann, und daß sich der außerhalb des Gesetzes stellt, der alles Gesetz umstürzen will. Wie schon angedeutet, giebt es viele, die der Meinung sind, sie könnten sich mit der sozialen Frage dadurch abfinden, daß sie in Sachen des öffent¬ lichen Friedens und der öffentlichen Ordnung der Sozialdemokratie volle Freiheit zuerkennen. Diese Entscheidung möchten sie gern für einen Richterspruch aus¬ geben, und sie hat auch eine Ähnlichkeit damit, nämlich die, daß der Obrigkeit alle Kosten „zur Last fallen." Der allgemeine „Kladderadatsch" liegt, denken sie, in nebelgrauer Ferne; sollte er doch kommen, so sind außer der Polizei noch andre Stiefkinder der Freiheit da, die Soldaten, die aus der Not helfen werden. Die werden schon die Straßen fegen, nötigenfalls auch den Parlamentssaal, in den dann, nach Entfernung aller roten Spuren, die echte Freiheit wieder einziehen kann. Für sichern Schutz in allen Gefahren werden ja die Steuern bezahlt, und der Musterbürger, auf den der größte Teil fällt, verlangt seiner¬ seits vom Staate nicht mehr, als daß ihn dieser nach den ewigen Gesetzen des Wirtschaftlichen Naturprozesses ungestört verdienen läßt; für ihn ist die soziale Frage nichts als eine Erfindung von Leuten, die der Natur Gewalt anthun wollen. So „selbstlos" und „frei von Klasseninteressen" ist Mittelstädt nicht. Er glaubt, daß es eine soziale Frage giebt, und forscht sehr ernst nach Ursache, Wirkung und Lösung. Er hat es schon in einer Schrift vom Jahre 1884: Der vierte Stand und der Staatssozialismus gethan und wiederholt in dieser neuen seine damaligen Ausführungen, aber „in Verbindung mit einem ver¬ änderten Gedankengang" so lebendig und wirksam, daß der mangelnde Reiz des neuen ersetzt wird. Er versteht es auch, was Ursachen und Wirkungen des sozialistischen Klassenbewußtseins anlangt, in gedrängter Form viel zu sagen; einige Lücken können außer Betracht bleiben, denn der tiefe Riß zwischen einst und jetzt, auf den es hauptsächlich ankommt, ist klar und unwiderleglich nach¬ gewiesen. Weniger reichlich dagegen und unbestimmter ist die Belehrung über das, was zur Abhilfe erstrebt wird und werden sollte. Es fehlt auch da nicht an treffenden und geistreichen Bemerkungen, aber es wird kein Ganzes gegeben, an das sich, sei es die Zustimmung, sei es die Kritik halten konnte. So schwankt z. B. die Stellung zu dem. was Mittelstadt als soziales Königtum bezeichnet, hin und her; bald wird es sür das oberste Heilmittel, bald sür eine Unmöglichkeit erklärt, und zwar nicht nur für die Gegenwart, sondern über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/473>, abgerufen am 26.06.2024.