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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstädts politische Briefe

wirtschaftlich-sozialen Entwicklung zu leiden haben, ein Sozialistengesetz leicht
so vorkommen, als ob ihnen die Selbsthilfe und sogar der Schmerzenslaut
verwehrt werden sollten, aber das ist doch Irrtum und Verwechslung mit dem
Versagen von Staatshilfe gegen die soziale Not. Auf andre können solche
Klagen nur dann Eindruck machen, wenn sie zu den Weichmütigen oder zu
denen gehören, die sozial oder wirtschaftlich ein schlechtes Gewissen haben.
Daß dagegen ein Mann wie Mittelstadt, der einer der schärfsten Gegner der
"Sekte moderner Humanitarier" ist und in der sozialen Frage nur für andre
kämpft, bei der Sicherung der Staatsordnung nicht auf Seiten des Staats
steht, ist eine schwer zu erklärende Anomalie. Vielleicht wirken bei ihm
Jugendeindrücke nach: wie seine Begeisterung an die der besten Männer der
Paulskirche erinnert, so treffen wir hier wohl auf einen entsprechenden
Schatten.

Die Ordnungsfrage ist so wichtig, daß jede Gelegenheit benutzt werden
sollte, sie nach allen Seiten zu erörtern. Ich kann mich jedoch bei dieser
Gelegenheit auf einige Zusätze beschränken, weil die Grenzboten in einer der
letzten Nummern unter der Überschrift: Gedanken eines Freisinnigen über die
freisinnige Partei eine ebenso frisch geschriebn" wie überzeugende Verteidigung
des Ordnungsprogramms gebracht haben; sie wird den Lesern in frischer Er¬
innerung sein. Der Hauptgrund, der immer gegen ein neues Sozialistengesetz
angeführt wird, ist die angebliche Erfolglosigkeit des frühern. Steht sie so
fest? Gewiß hat sich, um mit Mittelstadt zu sprechen, der vierte Stand trotz¬
dem politisch fortentwickelt, aber er würde es noch mehr gethan haben, wenn
das Sozialistengesetz nicht gewesen wäre. Dann ist das, was sich Disziplin
oder Selbstzucht der Sozialdemokratie nennt, und was auch auf unsrer Seite
so herausgestrichen wird, weil es die Wiederholung von Unthaten wie die
Hotels und Nobilings verhütet haben soll, auf Rechnung des Sozialisten¬
gesetzes und der Furcht vor seiner Erneuerung als psychischen Zwanges zu
setzen; das p08t iwo ist hier auch das xioptsr nov. Diese Nachwirkung
würde noch mächtiger gewesen sein, wenn bei dem Verzicht auf die Ver¬
längerung des Sozialistengesetzes wenigstens die allgemeinen Vollmachten
des reichsländischen Diktaturparagraphen an die Stelle getreten, staats¬
rechtlich genau ausgedrückt, Gesetz geworden wären. Diese Übertragung des
Diktaturparagraphen auf das Reich ist überhaupt das geringste Maß von Ord¬
nungsprogramm, das die Regierung in jeder Tagung des Reichstages zu ge¬
setzlicher Anerkennung zu bringen versuchen müßte. Sollen denn die Parteien
allein den Borten der Taktik genießen, wonach stetig erneuerte Versuche
schließlich gelingen, und ist sür die Neichsregierung das SÄlvavi Miinain ruf-den
mit einem Versuch zu erreichen? Überdies gewährt der Diktaturparagraph
Vollmachten gegen jedes revolutionäre Treiben, nicht bloß gegen das der Sozial-
demokratie, und das ist von Wert, weil z. B. die Sokolvereine nicht weniger


Mittelstädts politische Briefe

wirtschaftlich-sozialen Entwicklung zu leiden haben, ein Sozialistengesetz leicht
so vorkommen, als ob ihnen die Selbsthilfe und sogar der Schmerzenslaut
verwehrt werden sollten, aber das ist doch Irrtum und Verwechslung mit dem
Versagen von Staatshilfe gegen die soziale Not. Auf andre können solche
Klagen nur dann Eindruck machen, wenn sie zu den Weichmütigen oder zu
denen gehören, die sozial oder wirtschaftlich ein schlechtes Gewissen haben.
Daß dagegen ein Mann wie Mittelstadt, der einer der schärfsten Gegner der
„Sekte moderner Humanitarier" ist und in der sozialen Frage nur für andre
kämpft, bei der Sicherung der Staatsordnung nicht auf Seiten des Staats
steht, ist eine schwer zu erklärende Anomalie. Vielleicht wirken bei ihm
Jugendeindrücke nach: wie seine Begeisterung an die der besten Männer der
Paulskirche erinnert, so treffen wir hier wohl auf einen entsprechenden
Schatten.

Die Ordnungsfrage ist so wichtig, daß jede Gelegenheit benutzt werden
sollte, sie nach allen Seiten zu erörtern. Ich kann mich jedoch bei dieser
Gelegenheit auf einige Zusätze beschränken, weil die Grenzboten in einer der
letzten Nummern unter der Überschrift: Gedanken eines Freisinnigen über die
freisinnige Partei eine ebenso frisch geschriebn« wie überzeugende Verteidigung
des Ordnungsprogramms gebracht haben; sie wird den Lesern in frischer Er¬
innerung sein. Der Hauptgrund, der immer gegen ein neues Sozialistengesetz
angeführt wird, ist die angebliche Erfolglosigkeit des frühern. Steht sie so
fest? Gewiß hat sich, um mit Mittelstadt zu sprechen, der vierte Stand trotz¬
dem politisch fortentwickelt, aber er würde es noch mehr gethan haben, wenn
das Sozialistengesetz nicht gewesen wäre. Dann ist das, was sich Disziplin
oder Selbstzucht der Sozialdemokratie nennt, und was auch auf unsrer Seite
so herausgestrichen wird, weil es die Wiederholung von Unthaten wie die
Hotels und Nobilings verhütet haben soll, auf Rechnung des Sozialisten¬
gesetzes und der Furcht vor seiner Erneuerung als psychischen Zwanges zu
setzen; das p08t iwo ist hier auch das xioptsr nov. Diese Nachwirkung
würde noch mächtiger gewesen sein, wenn bei dem Verzicht auf die Ver¬
längerung des Sozialistengesetzes wenigstens die allgemeinen Vollmachten
des reichsländischen Diktaturparagraphen an die Stelle getreten, staats¬
rechtlich genau ausgedrückt, Gesetz geworden wären. Diese Übertragung des
Diktaturparagraphen auf das Reich ist überhaupt das geringste Maß von Ord¬
nungsprogramm, das die Regierung in jeder Tagung des Reichstages zu ge¬
setzlicher Anerkennung zu bringen versuchen müßte. Sollen denn die Parteien
allein den Borten der Taktik genießen, wonach stetig erneuerte Versuche
schließlich gelingen, und ist sür die Neichsregierung das SÄlvavi Miinain ruf-den
mit einem Versuch zu erreichen? Überdies gewährt der Diktaturparagraph
Vollmachten gegen jedes revolutionäre Treiben, nicht bloß gegen das der Sozial-
demokratie, und das ist von Wert, weil z. B. die Sokolvereine nicht weniger


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[0472] Mittelstädts politische Briefe wirtschaftlich-sozialen Entwicklung zu leiden haben, ein Sozialistengesetz leicht so vorkommen, als ob ihnen die Selbsthilfe und sogar der Schmerzenslaut verwehrt werden sollten, aber das ist doch Irrtum und Verwechslung mit dem Versagen von Staatshilfe gegen die soziale Not. Auf andre können solche Klagen nur dann Eindruck machen, wenn sie zu den Weichmütigen oder zu denen gehören, die sozial oder wirtschaftlich ein schlechtes Gewissen haben. Daß dagegen ein Mann wie Mittelstadt, der einer der schärfsten Gegner der „Sekte moderner Humanitarier" ist und in der sozialen Frage nur für andre kämpft, bei der Sicherung der Staatsordnung nicht auf Seiten des Staats steht, ist eine schwer zu erklärende Anomalie. Vielleicht wirken bei ihm Jugendeindrücke nach: wie seine Begeisterung an die der besten Männer der Paulskirche erinnert, so treffen wir hier wohl auf einen entsprechenden Schatten. Die Ordnungsfrage ist so wichtig, daß jede Gelegenheit benutzt werden sollte, sie nach allen Seiten zu erörtern. Ich kann mich jedoch bei dieser Gelegenheit auf einige Zusätze beschränken, weil die Grenzboten in einer der letzten Nummern unter der Überschrift: Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei eine ebenso frisch geschriebn« wie überzeugende Verteidigung des Ordnungsprogramms gebracht haben; sie wird den Lesern in frischer Er¬ innerung sein. Der Hauptgrund, der immer gegen ein neues Sozialistengesetz angeführt wird, ist die angebliche Erfolglosigkeit des frühern. Steht sie so fest? Gewiß hat sich, um mit Mittelstadt zu sprechen, der vierte Stand trotz¬ dem politisch fortentwickelt, aber er würde es noch mehr gethan haben, wenn das Sozialistengesetz nicht gewesen wäre. Dann ist das, was sich Disziplin oder Selbstzucht der Sozialdemokratie nennt, und was auch auf unsrer Seite so herausgestrichen wird, weil es die Wiederholung von Unthaten wie die Hotels und Nobilings verhütet haben soll, auf Rechnung des Sozialisten¬ gesetzes und der Furcht vor seiner Erneuerung als psychischen Zwanges zu setzen; das p08t iwo ist hier auch das xioptsr nov. Diese Nachwirkung würde noch mächtiger gewesen sein, wenn bei dem Verzicht auf die Ver¬ längerung des Sozialistengesetzes wenigstens die allgemeinen Vollmachten des reichsländischen Diktaturparagraphen an die Stelle getreten, staats¬ rechtlich genau ausgedrückt, Gesetz geworden wären. Diese Übertragung des Diktaturparagraphen auf das Reich ist überhaupt das geringste Maß von Ord¬ nungsprogramm, das die Regierung in jeder Tagung des Reichstages zu ge¬ setzlicher Anerkennung zu bringen versuchen müßte. Sollen denn die Parteien allein den Borten der Taktik genießen, wonach stetig erneuerte Versuche schließlich gelingen, und ist sür die Neichsregierung das SÄlvavi Miinain ruf-den mit einem Versuch zu erreichen? Überdies gewährt der Diktaturparagraph Vollmachten gegen jedes revolutionäre Treiben, nicht bloß gegen das der Sozial- demokratie, und das ist von Wert, weil z. B. die Sokolvereine nicht weniger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/472>, abgerufen am 26.06.2024.