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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Miltelstädts politische Briefe

natürlich, auch bei größtem Eifer und Geschick, nicht verhüten. Die Repression
muß also nachhelfen, und auch dann bleiben noch manche Fälle, darunter recht
schlimme, unerreichbar; aber soll man darum alles hingehen lassen? Außerdem
verlangt Prüventivn für die Polizei ausgedehnte Vollmachten, und da kommen
Mißbräuche vor. Nun ist es für die politische Auffassung in Deutschland
charakteristisch -- von der Parteitaktik sehe ich ab --, daß, wer auch immer
mit der Sozialdemokratie verantwortlich zu thun hat, die Gefahr des Mi߬
brauchs gegen die Notwendigkeit größerer Vollmachten zurückstellt, der "Un¬
parteiische" dagegen, d. h. der, der in keine solche Berührung kommt oder die
Verantwortung abschieben kaun, deu denkbaren Mißbrauch mit dem Ver¬
größerungsglas ansieht und die Erteilung besondrer Vollmachten als Ausnahme-
gcsetzgebung verwirft. Neben diesen "objektiven" Erwägungen läuft als selbst¬
verständlich her, daß alle ohne Unterschied, wenn sie von einer Ausschreitung
persönlich betroffen werden, auf die Polizei schelten und nach ihr rufen. Aber
das ist doch alles kein männlicher Standpunkt; der lautet anders: wo Ver¬
antwortung ist, muß auch Macht sein, je mehr die Veranrwortung in An¬
spruch genommen wird, desto größer muß die Macht sein; wer besondre Macht
mißbraucht, muß dafür besonders büßen, wer in ihrem rechten Gebrauch gestört
wird, muß besonders geschützt werden. Dieser männliche Standpunkt giebt
einen festen Maßstab für das Vorgehen gegen die sozialdemokratischen Aus¬
schreitungen, die doch feststehen. Dürfen sie in einem Staate, der etwas auf
den öffentlichen Frieden und auf Anstand und "Reputation" hält, geduldet
werden? selbst wenn sie nicht, wie doch so oft. gefährlich und ansteckend sind,
sondern auf das, was man als outragö xadliv gegen die öffentliche Ord¬
nung bezeichnen kann, beschränkt bleiben? Als Gesamterscheinung haben sich
die Ausschreitungen in unerhörter Weise verbreitet und gesteigert; es ist sehr
mild ausgedrückt, wenn man sie gegen den Zustand, auf den unsre Pre߬
freiheit und unser freies Vereins- und Versammluugsrecht berechnet sind, eine
Ausnahme nennt. Soll dagegen nicht auch eine Ausnahmegesetzgebung zu¬
lässig sein, ist sie nicht vielmehr unabweisbare Pflicht?

Bei solcher Ausfassung versteht sich bereitwillige Unterordnung uuter
staatsmännische Erfahrung und Verantwortung in dieser Frage von selbst,
namentlich für die Einzelbestimmungen der Ausnahmegesetzgebung. Bei wem
ein Verehrer Fürst Bismarcks diese Ergänzung seines eignen Urteils sucht, ist
nicht zweifelhaft, ebenso wenig, wie die Antwort lautet. Der politische Schrift¬
steller kann sich darin selbständiger halten als etwa der in der Grundanschauung
übereinstimmende Abgeordnete. Aber niemals kann es richtig sein, sich auf
den Standpunkt derer zu stellen, die die Ausschreitungen begehen. Es ist ja
richtig, daß der größere Teil von ihnen verführt ist, aber sie sollen ja vor
weiterer Verführung geschützt, und es soll ja auch weniger gestraft als vor¬
gebeugt werden. Dann kann wohl den vielen, die unter deu Folgen unsrer


Miltelstädts politische Briefe

natürlich, auch bei größtem Eifer und Geschick, nicht verhüten. Die Repression
muß also nachhelfen, und auch dann bleiben noch manche Fälle, darunter recht
schlimme, unerreichbar; aber soll man darum alles hingehen lassen? Außerdem
verlangt Prüventivn für die Polizei ausgedehnte Vollmachten, und da kommen
Mißbräuche vor. Nun ist es für die politische Auffassung in Deutschland
charakteristisch — von der Parteitaktik sehe ich ab —, daß, wer auch immer
mit der Sozialdemokratie verantwortlich zu thun hat, die Gefahr des Mi߬
brauchs gegen die Notwendigkeit größerer Vollmachten zurückstellt, der „Un¬
parteiische" dagegen, d. h. der, der in keine solche Berührung kommt oder die
Verantwortung abschieben kaun, deu denkbaren Mißbrauch mit dem Ver¬
größerungsglas ansieht und die Erteilung besondrer Vollmachten als Ausnahme-
gcsetzgebung verwirft. Neben diesen „objektiven" Erwägungen läuft als selbst¬
verständlich her, daß alle ohne Unterschied, wenn sie von einer Ausschreitung
persönlich betroffen werden, auf die Polizei schelten und nach ihr rufen. Aber
das ist doch alles kein männlicher Standpunkt; der lautet anders: wo Ver¬
antwortung ist, muß auch Macht sein, je mehr die Veranrwortung in An¬
spruch genommen wird, desto größer muß die Macht sein; wer besondre Macht
mißbraucht, muß dafür besonders büßen, wer in ihrem rechten Gebrauch gestört
wird, muß besonders geschützt werden. Dieser männliche Standpunkt giebt
einen festen Maßstab für das Vorgehen gegen die sozialdemokratischen Aus¬
schreitungen, die doch feststehen. Dürfen sie in einem Staate, der etwas auf
den öffentlichen Frieden und auf Anstand und „Reputation" hält, geduldet
werden? selbst wenn sie nicht, wie doch so oft. gefährlich und ansteckend sind,
sondern auf das, was man als outragö xadliv gegen die öffentliche Ord¬
nung bezeichnen kann, beschränkt bleiben? Als Gesamterscheinung haben sich
die Ausschreitungen in unerhörter Weise verbreitet und gesteigert; es ist sehr
mild ausgedrückt, wenn man sie gegen den Zustand, auf den unsre Pre߬
freiheit und unser freies Vereins- und Versammluugsrecht berechnet sind, eine
Ausnahme nennt. Soll dagegen nicht auch eine Ausnahmegesetzgebung zu¬
lässig sein, ist sie nicht vielmehr unabweisbare Pflicht?

Bei solcher Ausfassung versteht sich bereitwillige Unterordnung uuter
staatsmännische Erfahrung und Verantwortung in dieser Frage von selbst,
namentlich für die Einzelbestimmungen der Ausnahmegesetzgebung. Bei wem
ein Verehrer Fürst Bismarcks diese Ergänzung seines eignen Urteils sucht, ist
nicht zweifelhaft, ebenso wenig, wie die Antwort lautet. Der politische Schrift¬
steller kann sich darin selbständiger halten als etwa der in der Grundanschauung
übereinstimmende Abgeordnete. Aber niemals kann es richtig sein, sich auf
den Standpunkt derer zu stellen, die die Ausschreitungen begehen. Es ist ja
richtig, daß der größere Teil von ihnen verführt ist, aber sie sollen ja vor
weiterer Verführung geschützt, und es soll ja auch weniger gestraft als vor¬
gebeugt werden. Dann kann wohl den vielen, die unter deu Folgen unsrer


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[0471] Miltelstädts politische Briefe natürlich, auch bei größtem Eifer und Geschick, nicht verhüten. Die Repression muß also nachhelfen, und auch dann bleiben noch manche Fälle, darunter recht schlimme, unerreichbar; aber soll man darum alles hingehen lassen? Außerdem verlangt Prüventivn für die Polizei ausgedehnte Vollmachten, und da kommen Mißbräuche vor. Nun ist es für die politische Auffassung in Deutschland charakteristisch — von der Parteitaktik sehe ich ab —, daß, wer auch immer mit der Sozialdemokratie verantwortlich zu thun hat, die Gefahr des Mi߬ brauchs gegen die Notwendigkeit größerer Vollmachten zurückstellt, der „Un¬ parteiische" dagegen, d. h. der, der in keine solche Berührung kommt oder die Verantwortung abschieben kaun, deu denkbaren Mißbrauch mit dem Ver¬ größerungsglas ansieht und die Erteilung besondrer Vollmachten als Ausnahme- gcsetzgebung verwirft. Neben diesen „objektiven" Erwägungen läuft als selbst¬ verständlich her, daß alle ohne Unterschied, wenn sie von einer Ausschreitung persönlich betroffen werden, auf die Polizei schelten und nach ihr rufen. Aber das ist doch alles kein männlicher Standpunkt; der lautet anders: wo Ver¬ antwortung ist, muß auch Macht sein, je mehr die Veranrwortung in An¬ spruch genommen wird, desto größer muß die Macht sein; wer besondre Macht mißbraucht, muß dafür besonders büßen, wer in ihrem rechten Gebrauch gestört wird, muß besonders geschützt werden. Dieser männliche Standpunkt giebt einen festen Maßstab für das Vorgehen gegen die sozialdemokratischen Aus¬ schreitungen, die doch feststehen. Dürfen sie in einem Staate, der etwas auf den öffentlichen Frieden und auf Anstand und „Reputation" hält, geduldet werden? selbst wenn sie nicht, wie doch so oft. gefährlich und ansteckend sind, sondern auf das, was man als outragö xadliv gegen die öffentliche Ord¬ nung bezeichnen kann, beschränkt bleiben? Als Gesamterscheinung haben sich die Ausschreitungen in unerhörter Weise verbreitet und gesteigert; es ist sehr mild ausgedrückt, wenn man sie gegen den Zustand, auf den unsre Pre߬ freiheit und unser freies Vereins- und Versammluugsrecht berechnet sind, eine Ausnahme nennt. Soll dagegen nicht auch eine Ausnahmegesetzgebung zu¬ lässig sein, ist sie nicht vielmehr unabweisbare Pflicht? Bei solcher Ausfassung versteht sich bereitwillige Unterordnung uuter staatsmännische Erfahrung und Verantwortung in dieser Frage von selbst, namentlich für die Einzelbestimmungen der Ausnahmegesetzgebung. Bei wem ein Verehrer Fürst Bismarcks diese Ergänzung seines eignen Urteils sucht, ist nicht zweifelhaft, ebenso wenig, wie die Antwort lautet. Der politische Schrift¬ steller kann sich darin selbständiger halten als etwa der in der Grundanschauung übereinstimmende Abgeordnete. Aber niemals kann es richtig sein, sich auf den Standpunkt derer zu stellen, die die Ausschreitungen begehen. Es ist ja richtig, daß der größere Teil von ihnen verführt ist, aber sie sollen ja vor weiterer Verführung geschützt, und es soll ja auch weniger gestraft als vor¬ gebeugt werden. Dann kann wohl den vielen, die unter deu Folgen unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/471>, abgerufen am 26.06.2024.