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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstadt? politische Briefe

Auf kleinerm Raum, aber in dem Lande, das Mittelstadt bis vor kurzem
bewohnt hat, herrscht noch jetzt diese edle Auffassung der Königspflicht. Keiner
der größern Bundesstaaten leidet so schwer unter der Sozialdemokratie wie
Sachsen, hat sie doch schon in zahlreichen Gemeindeverwaltungen die Oberhand
erreicht; die Staatsverwaltung würde bei unzureichenden Machtmitteln unter
ihrem Beruf erliegen, wenn nicht ihr Pflichtgefühl durch das Beispiel des
Königs gehoben würde. Der Zustand in Sachsen ist höchst gefährlich und
nur als Übergangszustand erträglich, bis das Reich durch ein Gesetz gegen die
Revolution zu Hilfe kommt- Daß das frühere Gesetz aufgegeben worden ist,
hat den König in seiner ebenfalls vorbildlichen Bundestreue nicht wankend
gemacht, aber die von Mittelstadt empfohlenen einheitsstaatlichen Experimente
müßten ihn abstoßen. Das ist doch der Stein statt des Brotes.

Die Gefahren des sozialdemokratischen Treibens in Deutschland verkennt
auch Mittelstadt nicht; trotzdem ist er gegen ein neues Sozialistengesetz und
verurteilt in Ernst und Spott das, was mit den jetzigen Mitteln gegen die
Agitation versucht wird. So sagt er S. 131: "Was man durch all diese plan¬
losen Trakasserien erreicht, ist die Zerstörung des letzten Restes von Autorität
unsrer Gerichte, die Befestigung des Glaubens an das Vorwalten einer par¬
teiischen Klassenjustiz und das gewaltsame Hineindrängen des gesamten vierten
Standes in die revolutionäre Überzeugung, daß er soziale Gerechtigkeit und
soziale Rettung niemals von monarchischen Institutionen, einzig und allein
von der Eroberung der Staatsgewalt durch die Demokratie zu hoffen habe.
Darnach ist dem fernern Anschwellen der sozialdemokratischen Flut allerdings
kein Ende abzusehen." Unmittelbar vorher bezeichnet er es als "kurzsichtige
und naive" "Genugthnng, wenn man ein paar rote Bänder, ein paar revo¬
lutionäre Preßerzeugnisfe, ein paar rednerische Exzesse der verhaßten Partei
zu unterdrücken vermocht hat." An einer dritten Stelle behauptet er die Erfolg¬
losigkeit des frühern Sozialistengesetzes und macht darauf aufmerksam, daß "die
deutsche Monarchie nichts energischer vermeiden sollte, als schon den Schein
einer Parteinahme für oder gegen eine der sich wirtschaftlich befehdenden
sozialen Klassen." Gewiß bemerkenswerte Ausführungen, von der Seichtigkeit
der meisten Gesinnungsgenossen Mittelstädts abstechend, und doch nicht über¬
zeugend.

Von Gesetzes wegen ist jetzt fast nur RePression gestattet, gerichtliche und
polizeiliche. Sie macht in der That oft den Eindruck der "Tratasserie," genügt
aber auch deshalb uicht, weil sie das Übel erst geschehen lassen muß, und weil
der als Thäter Verdächtige oder Gefaßte oft nur vorgeschoben ist, während
Einbläser, Führer und Verführer freies Feld behalten. Diese schlimmen oder
halben Folgen sind bei der Prüvention weniger zu befürchten; deren Folgen
sind nachdrücklicher, entsprechen eher der verschiednen Schwere und Gefährlichkeit
und können vorzugsweise auf die Häupter gerichtet werden. Alles läßt sich


Mittelstadt? politische Briefe

Auf kleinerm Raum, aber in dem Lande, das Mittelstadt bis vor kurzem
bewohnt hat, herrscht noch jetzt diese edle Auffassung der Königspflicht. Keiner
der größern Bundesstaaten leidet so schwer unter der Sozialdemokratie wie
Sachsen, hat sie doch schon in zahlreichen Gemeindeverwaltungen die Oberhand
erreicht; die Staatsverwaltung würde bei unzureichenden Machtmitteln unter
ihrem Beruf erliegen, wenn nicht ihr Pflichtgefühl durch das Beispiel des
Königs gehoben würde. Der Zustand in Sachsen ist höchst gefährlich und
nur als Übergangszustand erträglich, bis das Reich durch ein Gesetz gegen die
Revolution zu Hilfe kommt- Daß das frühere Gesetz aufgegeben worden ist,
hat den König in seiner ebenfalls vorbildlichen Bundestreue nicht wankend
gemacht, aber die von Mittelstadt empfohlenen einheitsstaatlichen Experimente
müßten ihn abstoßen. Das ist doch der Stein statt des Brotes.

Die Gefahren des sozialdemokratischen Treibens in Deutschland verkennt
auch Mittelstadt nicht; trotzdem ist er gegen ein neues Sozialistengesetz und
verurteilt in Ernst und Spott das, was mit den jetzigen Mitteln gegen die
Agitation versucht wird. So sagt er S. 131: „Was man durch all diese plan¬
losen Trakasserien erreicht, ist die Zerstörung des letzten Restes von Autorität
unsrer Gerichte, die Befestigung des Glaubens an das Vorwalten einer par¬
teiischen Klassenjustiz und das gewaltsame Hineindrängen des gesamten vierten
Standes in die revolutionäre Überzeugung, daß er soziale Gerechtigkeit und
soziale Rettung niemals von monarchischen Institutionen, einzig und allein
von der Eroberung der Staatsgewalt durch die Demokratie zu hoffen habe.
Darnach ist dem fernern Anschwellen der sozialdemokratischen Flut allerdings
kein Ende abzusehen." Unmittelbar vorher bezeichnet er es als „kurzsichtige
und naive" „Genugthnng, wenn man ein paar rote Bänder, ein paar revo¬
lutionäre Preßerzeugnisfe, ein paar rednerische Exzesse der verhaßten Partei
zu unterdrücken vermocht hat." An einer dritten Stelle behauptet er die Erfolg¬
losigkeit des frühern Sozialistengesetzes und macht darauf aufmerksam, daß „die
deutsche Monarchie nichts energischer vermeiden sollte, als schon den Schein
einer Parteinahme für oder gegen eine der sich wirtschaftlich befehdenden
sozialen Klassen." Gewiß bemerkenswerte Ausführungen, von der Seichtigkeit
der meisten Gesinnungsgenossen Mittelstädts abstechend, und doch nicht über¬
zeugend.

Von Gesetzes wegen ist jetzt fast nur RePression gestattet, gerichtliche und
polizeiliche. Sie macht in der That oft den Eindruck der „Tratasserie," genügt
aber auch deshalb uicht, weil sie das Übel erst geschehen lassen muß, und weil
der als Thäter Verdächtige oder Gefaßte oft nur vorgeschoben ist, während
Einbläser, Führer und Verführer freies Feld behalten. Diese schlimmen oder
halben Folgen sind bei der Prüvention weniger zu befürchten; deren Folgen
sind nachdrücklicher, entsprechen eher der verschiednen Schwere und Gefährlichkeit
und können vorzugsweise auf die Häupter gerichtet werden. Alles läßt sich


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[0470] Mittelstadt? politische Briefe Auf kleinerm Raum, aber in dem Lande, das Mittelstadt bis vor kurzem bewohnt hat, herrscht noch jetzt diese edle Auffassung der Königspflicht. Keiner der größern Bundesstaaten leidet so schwer unter der Sozialdemokratie wie Sachsen, hat sie doch schon in zahlreichen Gemeindeverwaltungen die Oberhand erreicht; die Staatsverwaltung würde bei unzureichenden Machtmitteln unter ihrem Beruf erliegen, wenn nicht ihr Pflichtgefühl durch das Beispiel des Königs gehoben würde. Der Zustand in Sachsen ist höchst gefährlich und nur als Übergangszustand erträglich, bis das Reich durch ein Gesetz gegen die Revolution zu Hilfe kommt- Daß das frühere Gesetz aufgegeben worden ist, hat den König in seiner ebenfalls vorbildlichen Bundestreue nicht wankend gemacht, aber die von Mittelstadt empfohlenen einheitsstaatlichen Experimente müßten ihn abstoßen. Das ist doch der Stein statt des Brotes. Die Gefahren des sozialdemokratischen Treibens in Deutschland verkennt auch Mittelstadt nicht; trotzdem ist er gegen ein neues Sozialistengesetz und verurteilt in Ernst und Spott das, was mit den jetzigen Mitteln gegen die Agitation versucht wird. So sagt er S. 131: „Was man durch all diese plan¬ losen Trakasserien erreicht, ist die Zerstörung des letzten Restes von Autorität unsrer Gerichte, die Befestigung des Glaubens an das Vorwalten einer par¬ teiischen Klassenjustiz und das gewaltsame Hineindrängen des gesamten vierten Standes in die revolutionäre Überzeugung, daß er soziale Gerechtigkeit und soziale Rettung niemals von monarchischen Institutionen, einzig und allein von der Eroberung der Staatsgewalt durch die Demokratie zu hoffen habe. Darnach ist dem fernern Anschwellen der sozialdemokratischen Flut allerdings kein Ende abzusehen." Unmittelbar vorher bezeichnet er es als „kurzsichtige und naive" „Genugthnng, wenn man ein paar rote Bänder, ein paar revo¬ lutionäre Preßerzeugnisfe, ein paar rednerische Exzesse der verhaßten Partei zu unterdrücken vermocht hat." An einer dritten Stelle behauptet er die Erfolg¬ losigkeit des frühern Sozialistengesetzes und macht darauf aufmerksam, daß „die deutsche Monarchie nichts energischer vermeiden sollte, als schon den Schein einer Parteinahme für oder gegen eine der sich wirtschaftlich befehdenden sozialen Klassen." Gewiß bemerkenswerte Ausführungen, von der Seichtigkeit der meisten Gesinnungsgenossen Mittelstädts abstechend, und doch nicht über¬ zeugend. Von Gesetzes wegen ist jetzt fast nur RePression gestattet, gerichtliche und polizeiliche. Sie macht in der That oft den Eindruck der „Tratasserie," genügt aber auch deshalb uicht, weil sie das Übel erst geschehen lassen muß, und weil der als Thäter Verdächtige oder Gefaßte oft nur vorgeschoben ist, während Einbläser, Führer und Verführer freies Feld behalten. Diese schlimmen oder halben Folgen sind bei der Prüvention weniger zu befürchten; deren Folgen sind nachdrücklicher, entsprechen eher der verschiednen Schwere und Gefährlichkeit und können vorzugsweise auf die Häupter gerichtet werden. Alles läßt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/470>, abgerufen am 26.06.2024.