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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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mit Wehe der Gemeinschaft gilt, die alle andern umfaßt: des Staats. Im
Kriege wollen und werden ja nur wenige versagen, denn das Gefühl für das
ganze Vaterland hat seit der Gründung des Reichs die größten Fortschritte
gemacht. Es ist in Kreisen mächtig, die es vorher kaum kannten oder gar
ablehnten, und darf nicht mehr verleugnet oder verspottet werden, sonst würde
die Gefolgschaft, die des Zentrums z. B., wie Schnee in der Sonne zusammen¬
schmelzen. Aber mittelbar, allmählich, von den Genossen unbemerkt dürfen der
Kraft des Vaterlandes die schwersten Wunden geschlagen, darf fremden und
feindlichen Mächten Eingang und Schutz gewährt werden, ist jede Opposition
gegen die berufne Hüterin der allgemeinen Wohlfahrt und geordneter Freiheit,
die Regierung, gestattet, fast volkstümlich. Woher dieser Gegensatz? Weil sich
Augen und Herzen dagegen verschließen, daß zwar die Vaterlandsliebe und
ihre Bethätigung in der höchsten Gemeingefahr die edelste Blüte an dem Baume
des Staats ist, daß aber Wurzel, Stamm und Zweige ihre Nahrung aus
einer andern Form des Gemeingefühls ziehen, die fortwährend Arbeit und
Kampf verlangt, sich aber auch darin stetig erneuert. Dieses Gemeinfühl ist
die Staatsgcsinnung.

Auf dem Gebiete des Gemeinlebens ist die Staatsgesinnung dasselbe, was
in Schillers Lebensgang "der Seele Sturm beschwor," nie ermattende Be¬
schäftigung; auch sie schafft langsam und ohne je zu zerstören, doch es sind
nicht bloße Sandkörner, die sie dem Ban des Staates reicht, und das Schuld¬
buch, dessen Seiten sie eine nach der andern tilgt, ist das der im Leben besser
bedachten, die den Vorzug durch größer" Einsatz gemeinnütziger Thätigkeit
auszugleichen haben. Die Staatsgesinnung ist in Deutschland nicht unbekannt
geblieben und hat lauge, wenn auch mit beschränkten Mitteln und in be¬
schränkten Kreisen, segensreich gewirkt; vor allem in Preußen, obgleich dieses
fast zuletzt in einem Staatsparlament die Stätte erhielt, von der man sich für
gemeinnützige Arbeit Wunder versprach. Das Parlament ist ja auch deren
unentbehrliches und oberstes Feld, aber die Staatsgesinnung hat sich, seitdem
ihr dieses Feld überall offen steht, weder verallgemeinert noch verstärkt, und
im Parlament haben gegen sie Erwerbsinteressen und gesellschaftliche Sonder¬
zwecke, eiugestandne und geheim gehaltne, je länger je mehr die Vorherrschaft
erhalten. In der Vertretung des ganzen Volkes sind eigennützige Siege die
Regel geworden. Es ist auch nicht so, daß am Niedergange dieser oder jener
Interessenkreis, die eine oder die andre Partei die Schuld trüge, sondern wir
sind alle schuldig, weil wir alle statt des gemeinen Besten das Unsre suchen
oder uns rat- und thatlos abseits halten, der geringere Teil vom Kampf ent¬
mutigt, der größere, ohne ihn nur zu versuchen. Im Reich zumal ist nach
einem kurzen Aufschwung die Staatsgesinnung immer schwächer geworden, und
es sieht nicht so aus. als ob sie in dem geeinigten Staatswesen das Maß
erreichen könnte, das sie in der Zerrissenheit bewährt hat.


mit Wehe der Gemeinschaft gilt, die alle andern umfaßt: des Staats. Im
Kriege wollen und werden ja nur wenige versagen, denn das Gefühl für das
ganze Vaterland hat seit der Gründung des Reichs die größten Fortschritte
gemacht. Es ist in Kreisen mächtig, die es vorher kaum kannten oder gar
ablehnten, und darf nicht mehr verleugnet oder verspottet werden, sonst würde
die Gefolgschaft, die des Zentrums z. B., wie Schnee in der Sonne zusammen¬
schmelzen. Aber mittelbar, allmählich, von den Genossen unbemerkt dürfen der
Kraft des Vaterlandes die schwersten Wunden geschlagen, darf fremden und
feindlichen Mächten Eingang und Schutz gewährt werden, ist jede Opposition
gegen die berufne Hüterin der allgemeinen Wohlfahrt und geordneter Freiheit,
die Regierung, gestattet, fast volkstümlich. Woher dieser Gegensatz? Weil sich
Augen und Herzen dagegen verschließen, daß zwar die Vaterlandsliebe und
ihre Bethätigung in der höchsten Gemeingefahr die edelste Blüte an dem Baume
des Staats ist, daß aber Wurzel, Stamm und Zweige ihre Nahrung aus
einer andern Form des Gemeingefühls ziehen, die fortwährend Arbeit und
Kampf verlangt, sich aber auch darin stetig erneuert. Dieses Gemeinfühl ist
die Staatsgcsinnung.

Auf dem Gebiete des Gemeinlebens ist die Staatsgesinnung dasselbe, was
in Schillers Lebensgang „der Seele Sturm beschwor," nie ermattende Be¬
schäftigung; auch sie schafft langsam und ohne je zu zerstören, doch es sind
nicht bloße Sandkörner, die sie dem Ban des Staates reicht, und das Schuld¬
buch, dessen Seiten sie eine nach der andern tilgt, ist das der im Leben besser
bedachten, die den Vorzug durch größer« Einsatz gemeinnütziger Thätigkeit
auszugleichen haben. Die Staatsgesinnung ist in Deutschland nicht unbekannt
geblieben und hat lauge, wenn auch mit beschränkten Mitteln und in be¬
schränkten Kreisen, segensreich gewirkt; vor allem in Preußen, obgleich dieses
fast zuletzt in einem Staatsparlament die Stätte erhielt, von der man sich für
gemeinnützige Arbeit Wunder versprach. Das Parlament ist ja auch deren
unentbehrliches und oberstes Feld, aber die Staatsgesinnung hat sich, seitdem
ihr dieses Feld überall offen steht, weder verallgemeinert noch verstärkt, und
im Parlament haben gegen sie Erwerbsinteressen und gesellschaftliche Sonder¬
zwecke, eiugestandne und geheim gehaltne, je länger je mehr die Vorherrschaft
erhalten. In der Vertretung des ganzen Volkes sind eigennützige Siege die
Regel geworden. Es ist auch nicht so, daß am Niedergange dieser oder jener
Interessenkreis, die eine oder die andre Partei die Schuld trüge, sondern wir
sind alle schuldig, weil wir alle statt des gemeinen Besten das Unsre suchen
oder uns rat- und thatlos abseits halten, der geringere Teil vom Kampf ent¬
mutigt, der größere, ohne ihn nur zu versuchen. Im Reich zumal ist nach
einem kurzen Aufschwung die Staatsgesinnung immer schwächer geworden, und
es sieht nicht so aus. als ob sie in dem geeinigten Staatswesen das Maß
erreichen könnte, das sie in der Zerrissenheit bewährt hat.


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[0465] mit Wehe der Gemeinschaft gilt, die alle andern umfaßt: des Staats. Im Kriege wollen und werden ja nur wenige versagen, denn das Gefühl für das ganze Vaterland hat seit der Gründung des Reichs die größten Fortschritte gemacht. Es ist in Kreisen mächtig, die es vorher kaum kannten oder gar ablehnten, und darf nicht mehr verleugnet oder verspottet werden, sonst würde die Gefolgschaft, die des Zentrums z. B., wie Schnee in der Sonne zusammen¬ schmelzen. Aber mittelbar, allmählich, von den Genossen unbemerkt dürfen der Kraft des Vaterlandes die schwersten Wunden geschlagen, darf fremden und feindlichen Mächten Eingang und Schutz gewährt werden, ist jede Opposition gegen die berufne Hüterin der allgemeinen Wohlfahrt und geordneter Freiheit, die Regierung, gestattet, fast volkstümlich. Woher dieser Gegensatz? Weil sich Augen und Herzen dagegen verschließen, daß zwar die Vaterlandsliebe und ihre Bethätigung in der höchsten Gemeingefahr die edelste Blüte an dem Baume des Staats ist, daß aber Wurzel, Stamm und Zweige ihre Nahrung aus einer andern Form des Gemeingefühls ziehen, die fortwährend Arbeit und Kampf verlangt, sich aber auch darin stetig erneuert. Dieses Gemeinfühl ist die Staatsgcsinnung. Auf dem Gebiete des Gemeinlebens ist die Staatsgesinnung dasselbe, was in Schillers Lebensgang „der Seele Sturm beschwor," nie ermattende Be¬ schäftigung; auch sie schafft langsam und ohne je zu zerstören, doch es sind nicht bloße Sandkörner, die sie dem Ban des Staates reicht, und das Schuld¬ buch, dessen Seiten sie eine nach der andern tilgt, ist das der im Leben besser bedachten, die den Vorzug durch größer« Einsatz gemeinnütziger Thätigkeit auszugleichen haben. Die Staatsgesinnung ist in Deutschland nicht unbekannt geblieben und hat lauge, wenn auch mit beschränkten Mitteln und in be¬ schränkten Kreisen, segensreich gewirkt; vor allem in Preußen, obgleich dieses fast zuletzt in einem Staatsparlament die Stätte erhielt, von der man sich für gemeinnützige Arbeit Wunder versprach. Das Parlament ist ja auch deren unentbehrliches und oberstes Feld, aber die Staatsgesinnung hat sich, seitdem ihr dieses Feld überall offen steht, weder verallgemeinert noch verstärkt, und im Parlament haben gegen sie Erwerbsinteressen und gesellschaftliche Sonder¬ zwecke, eiugestandne und geheim gehaltne, je länger je mehr die Vorherrschaft erhalten. In der Vertretung des ganzen Volkes sind eigennützige Siege die Regel geworden. Es ist auch nicht so, daß am Niedergange dieser oder jener Interessenkreis, die eine oder die andre Partei die Schuld trüge, sondern wir sind alle schuldig, weil wir alle statt des gemeinen Besten das Unsre suchen oder uns rat- und thatlos abseits halten, der geringere Teil vom Kampf ent¬ mutigt, der größere, ohne ihn nur zu versuchen. Im Reich zumal ist nach einem kurzen Aufschwung die Staatsgesinnung immer schwächer geworden, und es sieht nicht so aus. als ob sie in dem geeinigten Staatswesen das Maß erreichen könnte, das sie in der Zerrissenheit bewährt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/465>, abgerufen am 26.06.2024.