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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Mittelstädts politische Briefe

für verständige Entwicklung unsrer Seemacht. Ob damit Rechte des Reichstags
eingeschränkt werden oder nicht, das ist im Grunde eine Doktorsrage. So gut
wie der Kaiser-Wilhelm-Kanal erbaut worden ist, obwohl die Ausgaben im
Laufe mehrerer Jahre gemacht werden mußten, als der Bau einmal begonnen
war, so gut läßt sich auch dieses Flottengesetz schaffen. Und an Beispielen
dafür fehlt es nicht: ähnliche Flottengesetze sind in England, in Italien und
Frankreich von den Parlamenten festgesetzt worden, obwohl in jenen Ländern
die Macht der Volksvertretung größer ist. Aber freilich, Einigkeit über ein
Ziel, das ist immer noch unsre schwächste Seite, und noch immer müssen wir
uns vom Auslande beschämen lassen in nationalen Lebensfragen. Die Franzosen
erhöhen ihre Flottenausgaben auf das Drängen ihres Parlaments, wo in der
Flottenfrage die Losung gilt: II no s'gZit vW in, an triompds et'um p^rei,
INAS Zu salut An xg,/s lui inülNiz! Und bei uns im Volke der Denker?
Sollen wir uns immer wieder und mit vollem Rechte den beschämenden Vor¬
wurf macheu lassen, daß wir noch jetzt, siebenundzwanzig Jahre nach der
Reichsgründung, eine politisch durch und durch unreife Nation sind, in der die
doktrinären Rechthaber überwiegen?


Georg Ivislicenus


Mittelstädts politische Briefe
Linn Kühn von

in ernstes Älsmunto mori, denen zugerufen, die in faulem Frieden
leben wollen.^) Aber Tod und Krieg stehen in Gottes Hand, der
Mensch soll sie nicht verhänge", wenn noch ein andres Mittel
übrig bleibt; er darf sie nur annehmen und aufnehmen. Und
auch im Völkerfrieden giebt es erfrischenden und die Volkskraft
erneuernden Kampf. Unser Verhängnis ist, daß wir das nicht wissen und
sehen wollen; daß wir dem Streit nicht aus dem Wege gehen, wo es sich
um Erwerb, Genuß und Vorrechte handelt, für uns selber oder für die Ge¬
meinschaften, zu denen wir uns am liebsten halten, daß wir aber nur zu¬
schauen, richten und rechten, nicht die Haut allein, sondern jede Anstrengung
und jedes Opfer sparen, wenn es im regelmäßigen Gang des Lebens Wohl



") Vor der Flut. Sechs Briefe zur Politik der deutschen Gegenwart von Otto
Mittelstadt. Leipzig. S. Hirzel, 18!)7.
Mittelstädts politische Briefe

für verständige Entwicklung unsrer Seemacht. Ob damit Rechte des Reichstags
eingeschränkt werden oder nicht, das ist im Grunde eine Doktorsrage. So gut
wie der Kaiser-Wilhelm-Kanal erbaut worden ist, obwohl die Ausgaben im
Laufe mehrerer Jahre gemacht werden mußten, als der Bau einmal begonnen
war, so gut läßt sich auch dieses Flottengesetz schaffen. Und an Beispielen
dafür fehlt es nicht: ähnliche Flottengesetze sind in England, in Italien und
Frankreich von den Parlamenten festgesetzt worden, obwohl in jenen Ländern
die Macht der Volksvertretung größer ist. Aber freilich, Einigkeit über ein
Ziel, das ist immer noch unsre schwächste Seite, und noch immer müssen wir
uns vom Auslande beschämen lassen in nationalen Lebensfragen. Die Franzosen
erhöhen ihre Flottenausgaben auf das Drängen ihres Parlaments, wo in der
Flottenfrage die Losung gilt: II no s'gZit vW in, an triompds et'um p^rei,
INAS Zu salut An xg,/s lui inülNiz! Und bei uns im Volke der Denker?
Sollen wir uns immer wieder und mit vollem Rechte den beschämenden Vor¬
wurf macheu lassen, daß wir noch jetzt, siebenundzwanzig Jahre nach der
Reichsgründung, eine politisch durch und durch unreife Nation sind, in der die
doktrinären Rechthaber überwiegen?


Georg Ivislicenus


Mittelstädts politische Briefe
Linn Kühn von

in ernstes Älsmunto mori, denen zugerufen, die in faulem Frieden
leben wollen.^) Aber Tod und Krieg stehen in Gottes Hand, der
Mensch soll sie nicht verhänge», wenn noch ein andres Mittel
übrig bleibt; er darf sie nur annehmen und aufnehmen. Und
auch im Völkerfrieden giebt es erfrischenden und die Volkskraft
erneuernden Kampf. Unser Verhängnis ist, daß wir das nicht wissen und
sehen wollen; daß wir dem Streit nicht aus dem Wege gehen, wo es sich
um Erwerb, Genuß und Vorrechte handelt, für uns selber oder für die Ge¬
meinschaften, zu denen wir uns am liebsten halten, daß wir aber nur zu¬
schauen, richten und rechten, nicht die Haut allein, sondern jede Anstrengung
und jedes Opfer sparen, wenn es im regelmäßigen Gang des Lebens Wohl



") Vor der Flut. Sechs Briefe zur Politik der deutschen Gegenwart von Otto
Mittelstadt. Leipzig. S. Hirzel, 18!)7.
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[0464] Mittelstädts politische Briefe für verständige Entwicklung unsrer Seemacht. Ob damit Rechte des Reichstags eingeschränkt werden oder nicht, das ist im Grunde eine Doktorsrage. So gut wie der Kaiser-Wilhelm-Kanal erbaut worden ist, obwohl die Ausgaben im Laufe mehrerer Jahre gemacht werden mußten, als der Bau einmal begonnen war, so gut läßt sich auch dieses Flottengesetz schaffen. Und an Beispielen dafür fehlt es nicht: ähnliche Flottengesetze sind in England, in Italien und Frankreich von den Parlamenten festgesetzt worden, obwohl in jenen Ländern die Macht der Volksvertretung größer ist. Aber freilich, Einigkeit über ein Ziel, das ist immer noch unsre schwächste Seite, und noch immer müssen wir uns vom Auslande beschämen lassen in nationalen Lebensfragen. Die Franzosen erhöhen ihre Flottenausgaben auf das Drängen ihres Parlaments, wo in der Flottenfrage die Losung gilt: II no s'gZit vW in, an triompds et'um p^rei, INAS Zu salut An xg,/s lui inülNiz! Und bei uns im Volke der Denker? Sollen wir uns immer wieder und mit vollem Rechte den beschämenden Vor¬ wurf macheu lassen, daß wir noch jetzt, siebenundzwanzig Jahre nach der Reichsgründung, eine politisch durch und durch unreife Nation sind, in der die doktrinären Rechthaber überwiegen? Georg Ivislicenus Mittelstädts politische Briefe Linn Kühn von in ernstes Älsmunto mori, denen zugerufen, die in faulem Frieden leben wollen.^) Aber Tod und Krieg stehen in Gottes Hand, der Mensch soll sie nicht verhänge», wenn noch ein andres Mittel übrig bleibt; er darf sie nur annehmen und aufnehmen. Und auch im Völkerfrieden giebt es erfrischenden und die Volkskraft erneuernden Kampf. Unser Verhängnis ist, daß wir das nicht wissen und sehen wollen; daß wir dem Streit nicht aus dem Wege gehen, wo es sich um Erwerb, Genuß und Vorrechte handelt, für uns selber oder für die Ge¬ meinschaften, zu denen wir uns am liebsten halten, daß wir aber nur zu¬ schauen, richten und rechten, nicht die Haut allein, sondern jede Anstrengung und jedes Opfer sparen, wenn es im regelmäßigen Gang des Lebens Wohl ") Vor der Flut. Sechs Briefe zur Politik der deutschen Gegenwart von Otto Mittelstadt. Leipzig. S. Hirzel, 18!)7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/464>, abgerufen am 26.06.2024.