Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Anthropologische Fragen

hat er sich das Verdienst erworben, die ohnehin herrschende Verwirrung in
der Lehre vom Staat um ein Erkleckliches vermehrt zu haben. Zum Teil
rührt diese Verwirrung daher, daß man den Staatsbegriff der Alten ohne
weiteres auf unsre modernen Staaten überträgt. In den alten Stadtstaaten
Hütte das, was Fichte den Vernunftstaat nennt, allenfalls verwirklicht werden
können. Eine 20000 Mann starke Bürgerschaft, die alle gröber" Beschäftigungen
auf rechtlose Sklave" abwälzt, ist einerseits klein und gleichartig genug, um
wie ein Man" fühlen u"d über die wichtigsten Dinge übereinstimmend denken
zu können, sodaß ihr Gesetz der Willensausfluß aller und der Gehorsam
gegen das Gesetz nur die Bethätigung der eignen Vernunft ist, und sie ist
andrerseits frei genug von niederdrückenden Arbeitslasten, um sich bis zum
ärmsten Bürger hinab täglich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen zu können;
wenn ihre Staaten trotzdem das Ideal nicht verwirklicht haben -- desto
schlimmer für den Vernunftstaat! Im modernen Großstaat ist keine der beiden
Bedingungen vorhanden. Selbst abgesehen von der zum unerträglichen Übel
gewordnen Nationalitätenmischung mancher dieser Staaten ist die Verschiedenheit
der Staatsbürger nach Stand, Beschäftigung, Bildung, Lebensgewohnheiten so
groß, sind sie einander teils wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte so
fremd und gleichgiltig, teils als Konkurrenten oder wegen sonstiger Interessen¬
gegensätze so feindlich gesinnt, daß sie nnr durch Zwang zusammengehalten
werden können. Nun ist es klar, daß ein solcher Zwangsstaat gar nicht denkbar
wäre, wenn alle seine Bürger mit den Eigenschaften ausgestattet würeu, die
Ammon unberechtigterweise für Vorzüge der Langschädel hält. Die Zahl derer,
die sich dienend und gehorchend unterordnen müssen, ist weit größer als die
Zahl der zum Herrschen und Gebieten berufnen. Angenommen also, die
Herrschertugenden wären wirklich an den Langschädel -- Nietzsche sagt lieber
an die prachtvolle blonde Bestie -- gebunden, die Unterthanentugend dagegen
c"> den Nnndschädel, so könnte ein moderner Staat nur unter der Voraus-
setzung bestehen, daß in ihm auf je eiuen Langschädel mindestens tausend
Nnndschädel kämen. Demnach wäre ein aus lauter Langschädeln bestehender
Staat überhaupt nicht denkbar, wohl aber ein Staat, bei dem das gemeine
Volk aus Nundschädeln bestünde, mit einer langschädligen Aristokratie. So
ungefähr mag sich ja Ammon die Sache auch denken, und so weit hat er ja
Recht, daß wirklich die modernen Staaten ans einem dienenden Volle und
einer in den verschiedensten Formen herrschenden Aristokratie bestehen. Aber
daß die beiden Stände, der herrschende und der dienende, die übrigens an un¬
zähligen Stellen in einander übergehen, mit dem Rassengegensatz von Lang-
und Rundköpfen zusammenfielen, das müßte denn doch noch etwas gründlicher
bewiesen werden; der eine Ruudtvpf des Herrenmenschen Napoleon wiegt die
Langschädel aller Karlsruher und Mannheimer Primaner samt denen der
dreißig Vereinsmitglieder ans. Außerdem ist doch selbst nach Anapus Dar-


Anthropologische Fragen

hat er sich das Verdienst erworben, die ohnehin herrschende Verwirrung in
der Lehre vom Staat um ein Erkleckliches vermehrt zu haben. Zum Teil
rührt diese Verwirrung daher, daß man den Staatsbegriff der Alten ohne
weiteres auf unsre modernen Staaten überträgt. In den alten Stadtstaaten
Hütte das, was Fichte den Vernunftstaat nennt, allenfalls verwirklicht werden
können. Eine 20000 Mann starke Bürgerschaft, die alle gröber» Beschäftigungen
auf rechtlose Sklave» abwälzt, ist einerseits klein und gleichartig genug, um
wie ein Man» fühlen u»d über die wichtigsten Dinge übereinstimmend denken
zu können, sodaß ihr Gesetz der Willensausfluß aller und der Gehorsam
gegen das Gesetz nur die Bethätigung der eignen Vernunft ist, und sie ist
andrerseits frei genug von niederdrückenden Arbeitslasten, um sich bis zum
ärmsten Bürger hinab täglich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen zu können;
wenn ihre Staaten trotzdem das Ideal nicht verwirklicht haben — desto
schlimmer für den Vernunftstaat! Im modernen Großstaat ist keine der beiden
Bedingungen vorhanden. Selbst abgesehen von der zum unerträglichen Übel
gewordnen Nationalitätenmischung mancher dieser Staaten ist die Verschiedenheit
der Staatsbürger nach Stand, Beschäftigung, Bildung, Lebensgewohnheiten so
groß, sind sie einander teils wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte so
fremd und gleichgiltig, teils als Konkurrenten oder wegen sonstiger Interessen¬
gegensätze so feindlich gesinnt, daß sie nnr durch Zwang zusammengehalten
werden können. Nun ist es klar, daß ein solcher Zwangsstaat gar nicht denkbar
wäre, wenn alle seine Bürger mit den Eigenschaften ausgestattet würeu, die
Ammon unberechtigterweise für Vorzüge der Langschädel hält. Die Zahl derer,
die sich dienend und gehorchend unterordnen müssen, ist weit größer als die
Zahl der zum Herrschen und Gebieten berufnen. Angenommen also, die
Herrschertugenden wären wirklich an den Langschädel — Nietzsche sagt lieber
an die prachtvolle blonde Bestie — gebunden, die Unterthanentugend dagegen
c»> den Nnndschädel, so könnte ein moderner Staat nur unter der Voraus-
setzung bestehen, daß in ihm auf je eiuen Langschädel mindestens tausend
Nnndschädel kämen. Demnach wäre ein aus lauter Langschädeln bestehender
Staat überhaupt nicht denkbar, wohl aber ein Staat, bei dem das gemeine
Volk aus Nundschädeln bestünde, mit einer langschädligen Aristokratie. So
ungefähr mag sich ja Ammon die Sache auch denken, und so weit hat er ja
Recht, daß wirklich die modernen Staaten ans einem dienenden Volle und
einer in den verschiedensten Formen herrschenden Aristokratie bestehen. Aber
daß die beiden Stände, der herrschende und der dienende, die übrigens an un¬
zähligen Stellen in einander übergehen, mit dem Rassengegensatz von Lang-
und Rundköpfen zusammenfielen, das müßte denn doch noch etwas gründlicher
bewiesen werden; der eine Ruudtvpf des Herrenmenschen Napoleon wiegt die
Langschädel aller Karlsruher und Mannheimer Primaner samt denen der
dreißig Vereinsmitglieder ans. Außerdem ist doch selbst nach Anapus Dar-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0431" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226661"/>
          <fw type="header" place="top"> Anthropologische Fragen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1062" prev="#ID_1061" next="#ID_1063"> hat er sich das Verdienst erworben, die ohnehin herrschende Verwirrung in<lb/>
der Lehre vom Staat um ein Erkleckliches vermehrt zu haben. Zum Teil<lb/>
rührt diese Verwirrung daher, daß man den Staatsbegriff der Alten ohne<lb/>
weiteres auf unsre modernen Staaten überträgt. In den alten Stadtstaaten<lb/>
Hütte das, was Fichte den Vernunftstaat nennt, allenfalls verwirklicht werden<lb/>
können. Eine 20000 Mann starke Bürgerschaft, die alle gröber» Beschäftigungen<lb/>
auf rechtlose Sklave» abwälzt, ist einerseits klein und gleichartig genug, um<lb/>
wie ein Man» fühlen u»d über die wichtigsten Dinge übereinstimmend denken<lb/>
zu können, sodaß ihr Gesetz der Willensausfluß aller und der Gehorsam<lb/>
gegen das Gesetz nur die Bethätigung der eignen Vernunft ist, und sie ist<lb/>
andrerseits frei genug von niederdrückenden Arbeitslasten, um sich bis zum<lb/>
ärmsten Bürger hinab täglich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen zu können;<lb/>
wenn ihre Staaten trotzdem das Ideal nicht verwirklicht haben &#x2014; desto<lb/>
schlimmer für den Vernunftstaat! Im modernen Großstaat ist keine der beiden<lb/>
Bedingungen vorhanden. Selbst abgesehen von der zum unerträglichen Übel<lb/>
gewordnen Nationalitätenmischung mancher dieser Staaten ist die Verschiedenheit<lb/>
der Staatsbürger nach Stand, Beschäftigung, Bildung, Lebensgewohnheiten so<lb/>
groß, sind sie einander teils wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte so<lb/>
fremd und gleichgiltig, teils als Konkurrenten oder wegen sonstiger Interessen¬<lb/>
gegensätze so feindlich gesinnt, daß sie nnr durch Zwang zusammengehalten<lb/>
werden können. Nun ist es klar, daß ein solcher Zwangsstaat gar nicht denkbar<lb/>
wäre, wenn alle seine Bürger mit den Eigenschaften ausgestattet würeu, die<lb/>
Ammon unberechtigterweise für Vorzüge der Langschädel hält. Die Zahl derer,<lb/>
die sich dienend und gehorchend unterordnen müssen, ist weit größer als die<lb/>
Zahl der zum Herrschen und Gebieten berufnen. Angenommen also, die<lb/>
Herrschertugenden wären wirklich an den Langschädel &#x2014; Nietzsche sagt lieber<lb/>
an die prachtvolle blonde Bestie &#x2014; gebunden, die Unterthanentugend dagegen<lb/>&gt; den Nnndschädel, so könnte ein moderner Staat nur unter der Voraus-<lb/>
setzung bestehen, daß in ihm auf je eiuen Langschädel mindestens tausend<lb/>
Nnndschädel kämen. Demnach wäre ein aus lauter Langschädeln bestehender<lb/>
Staat überhaupt nicht denkbar, wohl aber ein Staat, bei dem das gemeine<lb/>
Volk aus Nundschädeln bestünde, mit einer langschädligen Aristokratie. So<lb/>
ungefähr mag sich ja Ammon die Sache auch denken, und so weit hat er ja<lb/>
Recht, daß wirklich die modernen Staaten ans einem dienenden Volle und<lb/>
einer in den verschiedensten Formen herrschenden Aristokratie bestehen. Aber<lb/>
daß die beiden Stände, der herrschende und der dienende, die übrigens an un¬<lb/>
zähligen Stellen in einander übergehen, mit dem Rassengegensatz von Lang-<lb/>
und Rundköpfen zusammenfielen, das müßte denn doch noch etwas gründlicher<lb/>
bewiesen werden; der eine Ruudtvpf des Herrenmenschen Napoleon wiegt die<lb/>
Langschädel aller Karlsruher und Mannheimer Primaner samt denen der<lb/>
dreißig Vereinsmitglieder ans.  Außerdem ist doch selbst nach Anapus Dar-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0431] Anthropologische Fragen hat er sich das Verdienst erworben, die ohnehin herrschende Verwirrung in der Lehre vom Staat um ein Erkleckliches vermehrt zu haben. Zum Teil rührt diese Verwirrung daher, daß man den Staatsbegriff der Alten ohne weiteres auf unsre modernen Staaten überträgt. In den alten Stadtstaaten Hütte das, was Fichte den Vernunftstaat nennt, allenfalls verwirklicht werden können. Eine 20000 Mann starke Bürgerschaft, die alle gröber» Beschäftigungen auf rechtlose Sklave» abwälzt, ist einerseits klein und gleichartig genug, um wie ein Man» fühlen u»d über die wichtigsten Dinge übereinstimmend denken zu können, sodaß ihr Gesetz der Willensausfluß aller und der Gehorsam gegen das Gesetz nur die Bethätigung der eignen Vernunft ist, und sie ist andrerseits frei genug von niederdrückenden Arbeitslasten, um sich bis zum ärmsten Bürger hinab täglich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen zu können; wenn ihre Staaten trotzdem das Ideal nicht verwirklicht haben — desto schlimmer für den Vernunftstaat! Im modernen Großstaat ist keine der beiden Bedingungen vorhanden. Selbst abgesehen von der zum unerträglichen Übel gewordnen Nationalitätenmischung mancher dieser Staaten ist die Verschiedenheit der Staatsbürger nach Stand, Beschäftigung, Bildung, Lebensgewohnheiten so groß, sind sie einander teils wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte so fremd und gleichgiltig, teils als Konkurrenten oder wegen sonstiger Interessen¬ gegensätze so feindlich gesinnt, daß sie nnr durch Zwang zusammengehalten werden können. Nun ist es klar, daß ein solcher Zwangsstaat gar nicht denkbar wäre, wenn alle seine Bürger mit den Eigenschaften ausgestattet würeu, die Ammon unberechtigterweise für Vorzüge der Langschädel hält. Die Zahl derer, die sich dienend und gehorchend unterordnen müssen, ist weit größer als die Zahl der zum Herrschen und Gebieten berufnen. Angenommen also, die Herrschertugenden wären wirklich an den Langschädel — Nietzsche sagt lieber an die prachtvolle blonde Bestie — gebunden, die Unterthanentugend dagegen c»> den Nnndschädel, so könnte ein moderner Staat nur unter der Voraus- setzung bestehen, daß in ihm auf je eiuen Langschädel mindestens tausend Nnndschädel kämen. Demnach wäre ein aus lauter Langschädeln bestehender Staat überhaupt nicht denkbar, wohl aber ein Staat, bei dem das gemeine Volk aus Nundschädeln bestünde, mit einer langschädligen Aristokratie. So ungefähr mag sich ja Ammon die Sache auch denken, und so weit hat er ja Recht, daß wirklich die modernen Staaten ans einem dienenden Volle und einer in den verschiedensten Formen herrschenden Aristokratie bestehen. Aber daß die beiden Stände, der herrschende und der dienende, die übrigens an un¬ zähligen Stellen in einander übergehen, mit dem Rassengegensatz von Lang- und Rundköpfen zusammenfielen, das müßte denn doch noch etwas gründlicher bewiesen werden; der eine Ruudtvpf des Herrenmenschen Napoleon wiegt die Langschädel aller Karlsruher und Mannheimer Primaner samt denen der dreißig Vereinsmitglieder ans. Außerdem ist doch selbst nach Anapus Dar-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/431
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/431>, abgerufen am 28.09.2024.