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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

der Völkerwanderung, von den mittelalterlichen Eroberungs- und Kolonisativus-
zügcn, von der Volkspoesie und den Volksvergnügungen weiß, den gesunden
Materialismus und Realismus absprechen will, so ist das doch ein sehr aus¬
sichtsloses Unternehmen-

Sodann ist wohl zu beachten, was Friedrich Ratzel in seiner Völkerkunde
wiederholt und nachdrücklich hervorhebt, daß geringere Kulturleistungen keines¬
wegs zu dem Schlüsse auf geringere Begabung berechtigen, weil es eine Menge
Ursachen giebt (unter denen die Gunst oder Ungunst der geographischen Lage
die wichtigste ist), die den Kulturfortschritt der Völker beschleunigen oder hemmen,
sodaß zwei Völker von gleicher Begabung eine ganz verschiedne Stellung in
der Kulturwelt einnehmen und eine ganz verschiedne Rolle in der Weltgeschichte
spielen können. Was nun von Völkern gilt, das gilt natürlich auch von den
verschiednen Stämmen, Ständen und Schichten desselben Volkes. Von allem
Verkehr abgeschnittne Dörfler und Hinterwäldler zeigen ein ganz andres Wesen
als Großstädter, und wohlhabende Bauern einer verkehrsreichen Gegend sind
wieder anders geartet als jene beiden, ohne Rücksicht auf Abstammung, obwohl
sich natürlich die Rasse auch geltend macht und mit dem Kulturzustande zu¬
sammen die verschiedensten Kombinationen erzeugt. Chinesen und Mongolen,
schreibt Ratzel, "gehören derselben Nasse an, und doch welcher Unterschied der
Kultur!" Die Starrheit der chinesischen Kultur im Gegensatz zur unbegrenzten
Entwicklungsfähigkeit der Europäer ist freilich auch nach ihm auf einen Unter¬
schied der Begabung zurückzuführen. Der Gegensatz zwischen Mongolen und
Chinesen ist aber nicht bloß deswegen interessant, weil wir da ein zivilisirtes
und ein sehr rohes Vol-k, beide desselben Stammes, nachbarlich bei einander
wohnen sehen, sondern auch, weil sich das zivilisirtere Volk seit 600 Jahren,
wenn auch mit Unterbrechungen, die Herrschaft von Dynastien gefallen läßt,
die einem der verwandten rohern Völker entstammen. Schon vor Ratzel ist
es vielfach hervorgehoben worden, daß die Nomaden in der Weltgeschichte
häufig als Eroberer und Staatengrüuder auftreten und höher zivilisirte Acker¬
bauer unterjochen; in Ungarn herrscht ein den Türken verwandtes Volk über
eine Mehrheit andrer Nationalitäten, darunter mehr als zwei Millionen
Deutsche.

Damit kommen wir auf die politische Stellung, die Ammon den beiden
Menschenarten anweist. Die Langschädel sollen geborne Herrscher, Aristokraten,
Verteidiger des Vaterlands und der gesellschaftlichen Ordnung, die Rundköpfe
Demokraten, aber trotzdem "meist fügsame Unterthanen" sein. Der Grund¬
fehler besteht hier darin, daß überhaupt die Menschen in zwei politische Schub¬
fächer gedrängt werden, von der Ungeheuerlichkeit ganz zu schweigen, daß noch
dazu die Schädelform zum Hauptmerkmale des Nasfenunterschieds gemacht wird,
wovon man, wie im Konversationslexikon zu lesen steht, schon vor mehr als
zwanzig Jahren zurückgekommen ist. Wenn Ammon gläubige Leser findet, so


Anthropologische Fragen

der Völkerwanderung, von den mittelalterlichen Eroberungs- und Kolonisativus-
zügcn, von der Volkspoesie und den Volksvergnügungen weiß, den gesunden
Materialismus und Realismus absprechen will, so ist das doch ein sehr aus¬
sichtsloses Unternehmen-

Sodann ist wohl zu beachten, was Friedrich Ratzel in seiner Völkerkunde
wiederholt und nachdrücklich hervorhebt, daß geringere Kulturleistungen keines¬
wegs zu dem Schlüsse auf geringere Begabung berechtigen, weil es eine Menge
Ursachen giebt (unter denen die Gunst oder Ungunst der geographischen Lage
die wichtigste ist), die den Kulturfortschritt der Völker beschleunigen oder hemmen,
sodaß zwei Völker von gleicher Begabung eine ganz verschiedne Stellung in
der Kulturwelt einnehmen und eine ganz verschiedne Rolle in der Weltgeschichte
spielen können. Was nun von Völkern gilt, das gilt natürlich auch von den
verschiednen Stämmen, Ständen und Schichten desselben Volkes. Von allem
Verkehr abgeschnittne Dörfler und Hinterwäldler zeigen ein ganz andres Wesen
als Großstädter, und wohlhabende Bauern einer verkehrsreichen Gegend sind
wieder anders geartet als jene beiden, ohne Rücksicht auf Abstammung, obwohl
sich natürlich die Rasse auch geltend macht und mit dem Kulturzustande zu¬
sammen die verschiedensten Kombinationen erzeugt. Chinesen und Mongolen,
schreibt Ratzel, „gehören derselben Nasse an, und doch welcher Unterschied der
Kultur!" Die Starrheit der chinesischen Kultur im Gegensatz zur unbegrenzten
Entwicklungsfähigkeit der Europäer ist freilich auch nach ihm auf einen Unter¬
schied der Begabung zurückzuführen. Der Gegensatz zwischen Mongolen und
Chinesen ist aber nicht bloß deswegen interessant, weil wir da ein zivilisirtes
und ein sehr rohes Vol-k, beide desselben Stammes, nachbarlich bei einander
wohnen sehen, sondern auch, weil sich das zivilisirtere Volk seit 600 Jahren,
wenn auch mit Unterbrechungen, die Herrschaft von Dynastien gefallen läßt,
die einem der verwandten rohern Völker entstammen. Schon vor Ratzel ist
es vielfach hervorgehoben worden, daß die Nomaden in der Weltgeschichte
häufig als Eroberer und Staatengrüuder auftreten und höher zivilisirte Acker¬
bauer unterjochen; in Ungarn herrscht ein den Türken verwandtes Volk über
eine Mehrheit andrer Nationalitäten, darunter mehr als zwei Millionen
Deutsche.

Damit kommen wir auf die politische Stellung, die Ammon den beiden
Menschenarten anweist. Die Langschädel sollen geborne Herrscher, Aristokraten,
Verteidiger des Vaterlands und der gesellschaftlichen Ordnung, die Rundköpfe
Demokraten, aber trotzdem „meist fügsame Unterthanen" sein. Der Grund¬
fehler besteht hier darin, daß überhaupt die Menschen in zwei politische Schub¬
fächer gedrängt werden, von der Ungeheuerlichkeit ganz zu schweigen, daß noch
dazu die Schädelform zum Hauptmerkmale des Nasfenunterschieds gemacht wird,
wovon man, wie im Konversationslexikon zu lesen steht, schon vor mehr als
zwanzig Jahren zurückgekommen ist. Wenn Ammon gläubige Leser findet, so


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[0430] Anthropologische Fragen der Völkerwanderung, von den mittelalterlichen Eroberungs- und Kolonisativus- zügcn, von der Volkspoesie und den Volksvergnügungen weiß, den gesunden Materialismus und Realismus absprechen will, so ist das doch ein sehr aus¬ sichtsloses Unternehmen- Sodann ist wohl zu beachten, was Friedrich Ratzel in seiner Völkerkunde wiederholt und nachdrücklich hervorhebt, daß geringere Kulturleistungen keines¬ wegs zu dem Schlüsse auf geringere Begabung berechtigen, weil es eine Menge Ursachen giebt (unter denen die Gunst oder Ungunst der geographischen Lage die wichtigste ist), die den Kulturfortschritt der Völker beschleunigen oder hemmen, sodaß zwei Völker von gleicher Begabung eine ganz verschiedne Stellung in der Kulturwelt einnehmen und eine ganz verschiedne Rolle in der Weltgeschichte spielen können. Was nun von Völkern gilt, das gilt natürlich auch von den verschiednen Stämmen, Ständen und Schichten desselben Volkes. Von allem Verkehr abgeschnittne Dörfler und Hinterwäldler zeigen ein ganz andres Wesen als Großstädter, und wohlhabende Bauern einer verkehrsreichen Gegend sind wieder anders geartet als jene beiden, ohne Rücksicht auf Abstammung, obwohl sich natürlich die Rasse auch geltend macht und mit dem Kulturzustande zu¬ sammen die verschiedensten Kombinationen erzeugt. Chinesen und Mongolen, schreibt Ratzel, „gehören derselben Nasse an, und doch welcher Unterschied der Kultur!" Die Starrheit der chinesischen Kultur im Gegensatz zur unbegrenzten Entwicklungsfähigkeit der Europäer ist freilich auch nach ihm auf einen Unter¬ schied der Begabung zurückzuführen. Der Gegensatz zwischen Mongolen und Chinesen ist aber nicht bloß deswegen interessant, weil wir da ein zivilisirtes und ein sehr rohes Vol-k, beide desselben Stammes, nachbarlich bei einander wohnen sehen, sondern auch, weil sich das zivilisirtere Volk seit 600 Jahren, wenn auch mit Unterbrechungen, die Herrschaft von Dynastien gefallen läßt, die einem der verwandten rohern Völker entstammen. Schon vor Ratzel ist es vielfach hervorgehoben worden, daß die Nomaden in der Weltgeschichte häufig als Eroberer und Staatengrüuder auftreten und höher zivilisirte Acker¬ bauer unterjochen; in Ungarn herrscht ein den Türken verwandtes Volk über eine Mehrheit andrer Nationalitäten, darunter mehr als zwei Millionen Deutsche. Damit kommen wir auf die politische Stellung, die Ammon den beiden Menschenarten anweist. Die Langschädel sollen geborne Herrscher, Aristokraten, Verteidiger des Vaterlands und der gesellschaftlichen Ordnung, die Rundköpfe Demokraten, aber trotzdem „meist fügsame Unterthanen" sein. Der Grund¬ fehler besteht hier darin, daß überhaupt die Menschen in zwei politische Schub¬ fächer gedrängt werden, von der Ungeheuerlichkeit ganz zu schweigen, daß noch dazu die Schädelform zum Hauptmerkmale des Nasfenunterschieds gemacht wird, wovon man, wie im Konversationslexikon zu lesen steht, schon vor mehr als zwanzig Jahren zurückgekommen ist. Wenn Ammon gläubige Leser findet, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/430>, abgerufen am 29.06.2024.