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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

den Völkern so wenig zusammen wie beim einzelnen Menschen, der ja edel
und dabei nur mäßig begabt oder auch hochbegabt und ein schlechter Charakter
sein kann. Man darf jedoch annehmen, daß die höchste Begabung so wenig
bei unedeln Rassen wie bei unedeln Individuen anzutreffen sein wird, und bei
stumpfsinnigen Völkern und Menschen kann von einem edeln Charakter natür¬
lich keine Rede sein. Es ist ferner gewiß, daß die alten Germanen unter den
hochbegabten und edeln Völkern einen hervorragenden Rang einnehmen, und
daß sie ein sehr langschcidliges Volk gewesen sind. Aber es ist keineswegs
gewiß, daß jene geistigen Vorzüge an diese Kopfform gebunden sind. Denn
es giebt langschüdlige Stämme auch unter den Eingebornen Afrikas,"')
Amerikas und Ozeaniens, von denen bisher nicht nachgewiesen worden ist, daß
sie sich durch höhere Begabung oder idealem Sinn vor den übrigen Stämmen
jener Erdteile auszeichneten, und es sind andre körperliche Merkmale, an denen
man gewöhnlich die edlere Art erkennt, nämlich das Ebenmaß der Glieder
und die Schönheit des Antlitzes. Beide Eigenschaften finden wir im höchsten
Grade vereinigt bei den Hellenen, wie ihre hinterlassenen Bildwerke bezeugen,
und ihre Geistesart hat nach dem Zeugnis ihrer Litteratur in vollkommenster
Harmonie mit ihrer Leibesbeschaffenheit gestanden; sie sind aber, wie schon be¬
merkt wurde, ein mehr rund- als langköpfiges Volk gewesen. Was das Ver¬
hältnis des Gehirns zu den Geistesanlagen betrifft, so steht nur so viel fest,
daß die höher begabten Menschen im allgemeinen größere Gehirne haben, die
Idioten und die sehr unbegabten Stämme abnorm kleine, aber ein förmlicher
Parallelismus zwischen Gehirngröße und Geistesgröße besteht nicht, wie wir
gesehen haben. Und da wir unmöglich annehmen können, daß die durchschnitt¬
liche Begabung der Deutschen in den letzten zwei Jahrtausenden zurückgegangen
sei, so folgt daraus, wie aus dem, was wir von den alten Griechen wissen,
daß auch zwischen Schädelform und Geist kein Parallelismus besteht. Was
den Grad der Begabung anlangt, so gesteht ja Ammon selbst zu, daß man
sehr hohe Grade den Rundköpfen nicht absprechen dürfe; nur in der Art der
Begabung sollen sich die beiden Kopfformen unterscheiden. Aber wenn es
jemals eine weitverbreitete ideale Anlage gegeben hat, so ist sie bei dem Volke
zu suchen, das die griechischen Tragödien hervorgebracht und mit Andacht ge¬
schaut und angehört hat, und was giebt es Idealeres, als die Reden der
jüdischen Propheten, die freilich unter ihrem Volke mehr Gegner als willige
Hörer gefunden haben; jedenfalls also finden wir höchsten Idealismus auch
bei rundköpfigen Völkern. Den Idealismus der alten Germanen aber in allen
Ehren -- er offenbarte sich bekanntlich vorzugsweise in ihrer Empfänglichkeit für
die griechisch-römische Kultur --, wenn man ihnen nach allem, was man von



") Namentlich die Ncgcrschndel sind lang, und dabei nicht etwa flach, wie die der
Mikrozephalen. Ratzel II, 7.
Anthropologische Fragen

den Völkern so wenig zusammen wie beim einzelnen Menschen, der ja edel
und dabei nur mäßig begabt oder auch hochbegabt und ein schlechter Charakter
sein kann. Man darf jedoch annehmen, daß die höchste Begabung so wenig
bei unedeln Rassen wie bei unedeln Individuen anzutreffen sein wird, und bei
stumpfsinnigen Völkern und Menschen kann von einem edeln Charakter natür¬
lich keine Rede sein. Es ist ferner gewiß, daß die alten Germanen unter den
hochbegabten und edeln Völkern einen hervorragenden Rang einnehmen, und
daß sie ein sehr langschcidliges Volk gewesen sind. Aber es ist keineswegs
gewiß, daß jene geistigen Vorzüge an diese Kopfform gebunden sind. Denn
es giebt langschüdlige Stämme auch unter den Eingebornen Afrikas,"')
Amerikas und Ozeaniens, von denen bisher nicht nachgewiesen worden ist, daß
sie sich durch höhere Begabung oder idealem Sinn vor den übrigen Stämmen
jener Erdteile auszeichneten, und es sind andre körperliche Merkmale, an denen
man gewöhnlich die edlere Art erkennt, nämlich das Ebenmaß der Glieder
und die Schönheit des Antlitzes. Beide Eigenschaften finden wir im höchsten
Grade vereinigt bei den Hellenen, wie ihre hinterlassenen Bildwerke bezeugen,
und ihre Geistesart hat nach dem Zeugnis ihrer Litteratur in vollkommenster
Harmonie mit ihrer Leibesbeschaffenheit gestanden; sie sind aber, wie schon be¬
merkt wurde, ein mehr rund- als langköpfiges Volk gewesen. Was das Ver¬
hältnis des Gehirns zu den Geistesanlagen betrifft, so steht nur so viel fest,
daß die höher begabten Menschen im allgemeinen größere Gehirne haben, die
Idioten und die sehr unbegabten Stämme abnorm kleine, aber ein förmlicher
Parallelismus zwischen Gehirngröße und Geistesgröße besteht nicht, wie wir
gesehen haben. Und da wir unmöglich annehmen können, daß die durchschnitt¬
liche Begabung der Deutschen in den letzten zwei Jahrtausenden zurückgegangen
sei, so folgt daraus, wie aus dem, was wir von den alten Griechen wissen,
daß auch zwischen Schädelform und Geist kein Parallelismus besteht. Was
den Grad der Begabung anlangt, so gesteht ja Ammon selbst zu, daß man
sehr hohe Grade den Rundköpfen nicht absprechen dürfe; nur in der Art der
Begabung sollen sich die beiden Kopfformen unterscheiden. Aber wenn es
jemals eine weitverbreitete ideale Anlage gegeben hat, so ist sie bei dem Volke
zu suchen, das die griechischen Tragödien hervorgebracht und mit Andacht ge¬
schaut und angehört hat, und was giebt es Idealeres, als die Reden der
jüdischen Propheten, die freilich unter ihrem Volke mehr Gegner als willige
Hörer gefunden haben; jedenfalls also finden wir höchsten Idealismus auch
bei rundköpfigen Völkern. Den Idealismus der alten Germanen aber in allen
Ehren — er offenbarte sich bekanntlich vorzugsweise in ihrer Empfänglichkeit für
die griechisch-römische Kultur —, wenn man ihnen nach allem, was man von



") Namentlich die Ncgcrschndel sind lang, und dabei nicht etwa flach, wie die der
Mikrozephalen. Ratzel II, 7.
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[0429] Anthropologische Fragen den Völkern so wenig zusammen wie beim einzelnen Menschen, der ja edel und dabei nur mäßig begabt oder auch hochbegabt und ein schlechter Charakter sein kann. Man darf jedoch annehmen, daß die höchste Begabung so wenig bei unedeln Rassen wie bei unedeln Individuen anzutreffen sein wird, und bei stumpfsinnigen Völkern und Menschen kann von einem edeln Charakter natür¬ lich keine Rede sein. Es ist ferner gewiß, daß die alten Germanen unter den hochbegabten und edeln Völkern einen hervorragenden Rang einnehmen, und daß sie ein sehr langschcidliges Volk gewesen sind. Aber es ist keineswegs gewiß, daß jene geistigen Vorzüge an diese Kopfform gebunden sind. Denn es giebt langschüdlige Stämme auch unter den Eingebornen Afrikas,"') Amerikas und Ozeaniens, von denen bisher nicht nachgewiesen worden ist, daß sie sich durch höhere Begabung oder idealem Sinn vor den übrigen Stämmen jener Erdteile auszeichneten, und es sind andre körperliche Merkmale, an denen man gewöhnlich die edlere Art erkennt, nämlich das Ebenmaß der Glieder und die Schönheit des Antlitzes. Beide Eigenschaften finden wir im höchsten Grade vereinigt bei den Hellenen, wie ihre hinterlassenen Bildwerke bezeugen, und ihre Geistesart hat nach dem Zeugnis ihrer Litteratur in vollkommenster Harmonie mit ihrer Leibesbeschaffenheit gestanden; sie sind aber, wie schon be¬ merkt wurde, ein mehr rund- als langköpfiges Volk gewesen. Was das Ver¬ hältnis des Gehirns zu den Geistesanlagen betrifft, so steht nur so viel fest, daß die höher begabten Menschen im allgemeinen größere Gehirne haben, die Idioten und die sehr unbegabten Stämme abnorm kleine, aber ein förmlicher Parallelismus zwischen Gehirngröße und Geistesgröße besteht nicht, wie wir gesehen haben. Und da wir unmöglich annehmen können, daß die durchschnitt¬ liche Begabung der Deutschen in den letzten zwei Jahrtausenden zurückgegangen sei, so folgt daraus, wie aus dem, was wir von den alten Griechen wissen, daß auch zwischen Schädelform und Geist kein Parallelismus besteht. Was den Grad der Begabung anlangt, so gesteht ja Ammon selbst zu, daß man sehr hohe Grade den Rundköpfen nicht absprechen dürfe; nur in der Art der Begabung sollen sich die beiden Kopfformen unterscheiden. Aber wenn es jemals eine weitverbreitete ideale Anlage gegeben hat, so ist sie bei dem Volke zu suchen, das die griechischen Tragödien hervorgebracht und mit Andacht ge¬ schaut und angehört hat, und was giebt es Idealeres, als die Reden der jüdischen Propheten, die freilich unter ihrem Volke mehr Gegner als willige Hörer gefunden haben; jedenfalls also finden wir höchsten Idealismus auch bei rundköpfigen Völkern. Den Idealismus der alten Germanen aber in allen Ehren — er offenbarte sich bekanntlich vorzugsweise in ihrer Empfänglichkeit für die griechisch-römische Kultur —, wenn man ihnen nach allem, was man von ") Namentlich die Ncgcrschndel sind lang, und dabei nicht etwa flach, wie die der Mikrozephalen. Ratzel II, 7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/429>, abgerufen am 29.06.2024.