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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

erschienen nur zwölf Herren; die andern achtzehn wurden an einem andern
Tage gemessen, und siehe da! es ergab sich, daß die wackern deutschen Männer,
die sich trotz Sturm und Regen am ersten Abende eingefunden hatten, "ziemlich
viel langköpfiger" waren als die feigem oder bequemern Nachzügler. Übrigens
verstehen wir die Zahlen der Tabelle nicht. Er verzeichnet bei der Reihe
jener Tapfern: 41,7 Prozent Langköpfe, 0 Prozent Rundköpfe; wenn es gar
keine Rundköpfe darunter giebt, dann sind doch nicht 47,7, sondern 100 Pro¬
zent Langköpfe. Es wäre zu untersuchen, ob uicht die Köpfe der Gelehrten
infolge anhaltender Denkarbeit noch wachsen. Ammon behauptet, nach dem
zwanzigsten Jahre wüchse der Kopfumfang höchstens noch um 1 bis 2 Milli¬
meter; ist dieses das Ergebnis einer hinreichend großen Zahl vorgenommner
Messungen? Sollte es reine Einbildung sein, wenn man an alten Gelehrten
den prachtvollen Schädel bewundert, den man an jungen Leuten nicht zu be¬
merken pflegt? Wird der Schädel überhaupt durch Denkarbeit verändert, dann
kann sich nicht allein der Umfang, sondern auch die Form nach dem Bedürfnis
des wachsenden Gehirns ändern, und dann sind auffällige Schädelformen und
Schädelgrößen bei vieldenkenden Jünglingen und Männern Produkte ihrer
Thätigkeit und darum keine sichern Rassenmerkmale. Bedeutend scheint freilich
das Wachstum des Schädels auch bei den Denkern nach dem zwanzigsten Jahre
nicht mehr zu sein, wohl aber das der grauen Hirnsubstanz, die, so nimmt
man an, da sie den Schädel nicht mehr auszudehnen vermag, sich in die Weiße
Substanz eindrängt und darin die zahlreichen Falten erzeugt, die das Hirn
des geistig Thätigen von dem einfacher geformten des Handwerkers unterscheiden.
Aus Angaben von Wiedersheim und Welcker stellt Ammon eine Liste der Hirn¬
gewichte von 36 berühmten Personen zusammen. 25 davon hatten ein Gewicht
über. 11 ein solches unter dem Mittel; der Durchschnitt aller 36 beträgt
fast 100 Gramm über das Mittel. "Diese Ziffern sind beweisend," fügt er
hinzu. Gewiß! sie beweisen etwas sehr wichtiges, nämlich daß wir über die
Beziehung des Hirngewichtes zu den Geistesanlagen und zur Höhe ihrer Ent-
wicklung so gut wie nichts wissen. Wenn man mit einem Gehirn, das weniger
wiegt als ein durchschnittliches Philisterhirn, ein großer Gelehrter sein kann,
so ist damit doch bewiesen, daß zwischen Gehirngröße und Geistesgröße kein
Parallelismus besteht. Das kleinste der 36 Hirne hat Döllinger gehabt; es
hat nur 1207 Gramm gewogen; das größte Turgenjeff mit 2012 Gramm;
das Hirn dieses russischen Romanschreibers ist also beinahe doppelt so schwer
gewesen wie das des großem deutschen Gelehrten. Und Turgenjeff hat nicht
zu jenen Novellisten gehört -- heutzutage giebt es ja solche --, die angestrengt
studiren und arbeiten. Ludwig Pietsch, der mit ihm befreundet war und in
Baden-Baden eine Zeit lang Wand an Wand mit ihm gewohnt hat, erzählt,
wie der Russe, wenn ihn eine übcrnommne Verpflichtung drängte, immer erst
stundenlang geseufzt und schmerzbewegt: "Arbeiten, ach arbeiten" gerufen habe,


Gronzboten IV 1807 M
Anthropologische Fragen

erschienen nur zwölf Herren; die andern achtzehn wurden an einem andern
Tage gemessen, und siehe da! es ergab sich, daß die wackern deutschen Männer,
die sich trotz Sturm und Regen am ersten Abende eingefunden hatten, „ziemlich
viel langköpfiger" waren als die feigem oder bequemern Nachzügler. Übrigens
verstehen wir die Zahlen der Tabelle nicht. Er verzeichnet bei der Reihe
jener Tapfern: 41,7 Prozent Langköpfe, 0 Prozent Rundköpfe; wenn es gar
keine Rundköpfe darunter giebt, dann sind doch nicht 47,7, sondern 100 Pro¬
zent Langköpfe. Es wäre zu untersuchen, ob uicht die Köpfe der Gelehrten
infolge anhaltender Denkarbeit noch wachsen. Ammon behauptet, nach dem
zwanzigsten Jahre wüchse der Kopfumfang höchstens noch um 1 bis 2 Milli¬
meter; ist dieses das Ergebnis einer hinreichend großen Zahl vorgenommner
Messungen? Sollte es reine Einbildung sein, wenn man an alten Gelehrten
den prachtvollen Schädel bewundert, den man an jungen Leuten nicht zu be¬
merken pflegt? Wird der Schädel überhaupt durch Denkarbeit verändert, dann
kann sich nicht allein der Umfang, sondern auch die Form nach dem Bedürfnis
des wachsenden Gehirns ändern, und dann sind auffällige Schädelformen und
Schädelgrößen bei vieldenkenden Jünglingen und Männern Produkte ihrer
Thätigkeit und darum keine sichern Rassenmerkmale. Bedeutend scheint freilich
das Wachstum des Schädels auch bei den Denkern nach dem zwanzigsten Jahre
nicht mehr zu sein, wohl aber das der grauen Hirnsubstanz, die, so nimmt
man an, da sie den Schädel nicht mehr auszudehnen vermag, sich in die Weiße
Substanz eindrängt und darin die zahlreichen Falten erzeugt, die das Hirn
des geistig Thätigen von dem einfacher geformten des Handwerkers unterscheiden.
Aus Angaben von Wiedersheim und Welcker stellt Ammon eine Liste der Hirn¬
gewichte von 36 berühmten Personen zusammen. 25 davon hatten ein Gewicht
über. 11 ein solches unter dem Mittel; der Durchschnitt aller 36 beträgt
fast 100 Gramm über das Mittel. „Diese Ziffern sind beweisend," fügt er
hinzu. Gewiß! sie beweisen etwas sehr wichtiges, nämlich daß wir über die
Beziehung des Hirngewichtes zu den Geistesanlagen und zur Höhe ihrer Ent-
wicklung so gut wie nichts wissen. Wenn man mit einem Gehirn, das weniger
wiegt als ein durchschnittliches Philisterhirn, ein großer Gelehrter sein kann,
so ist damit doch bewiesen, daß zwischen Gehirngröße und Geistesgröße kein
Parallelismus besteht. Das kleinste der 36 Hirne hat Döllinger gehabt; es
hat nur 1207 Gramm gewogen; das größte Turgenjeff mit 2012 Gramm;
das Hirn dieses russischen Romanschreibers ist also beinahe doppelt so schwer
gewesen wie das des großem deutschen Gelehrten. Und Turgenjeff hat nicht
zu jenen Novellisten gehört — heutzutage giebt es ja solche —, die angestrengt
studiren und arbeiten. Ludwig Pietsch, der mit ihm befreundet war und in
Baden-Baden eine Zeit lang Wand an Wand mit ihm gewohnt hat, erzählt,
wie der Russe, wenn ihn eine übcrnommne Verpflichtung drängte, immer erst
stundenlang geseufzt und schmerzbewegt: „Arbeiten, ach arbeiten" gerufen habe,


Gronzboten IV 1807 M
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[0427] Anthropologische Fragen erschienen nur zwölf Herren; die andern achtzehn wurden an einem andern Tage gemessen, und siehe da! es ergab sich, daß die wackern deutschen Männer, die sich trotz Sturm und Regen am ersten Abende eingefunden hatten, „ziemlich viel langköpfiger" waren als die feigem oder bequemern Nachzügler. Übrigens verstehen wir die Zahlen der Tabelle nicht. Er verzeichnet bei der Reihe jener Tapfern: 41,7 Prozent Langköpfe, 0 Prozent Rundköpfe; wenn es gar keine Rundköpfe darunter giebt, dann sind doch nicht 47,7, sondern 100 Pro¬ zent Langköpfe. Es wäre zu untersuchen, ob uicht die Köpfe der Gelehrten infolge anhaltender Denkarbeit noch wachsen. Ammon behauptet, nach dem zwanzigsten Jahre wüchse der Kopfumfang höchstens noch um 1 bis 2 Milli¬ meter; ist dieses das Ergebnis einer hinreichend großen Zahl vorgenommner Messungen? Sollte es reine Einbildung sein, wenn man an alten Gelehrten den prachtvollen Schädel bewundert, den man an jungen Leuten nicht zu be¬ merken pflegt? Wird der Schädel überhaupt durch Denkarbeit verändert, dann kann sich nicht allein der Umfang, sondern auch die Form nach dem Bedürfnis des wachsenden Gehirns ändern, und dann sind auffällige Schädelformen und Schädelgrößen bei vieldenkenden Jünglingen und Männern Produkte ihrer Thätigkeit und darum keine sichern Rassenmerkmale. Bedeutend scheint freilich das Wachstum des Schädels auch bei den Denkern nach dem zwanzigsten Jahre nicht mehr zu sein, wohl aber das der grauen Hirnsubstanz, die, so nimmt man an, da sie den Schädel nicht mehr auszudehnen vermag, sich in die Weiße Substanz eindrängt und darin die zahlreichen Falten erzeugt, die das Hirn des geistig Thätigen von dem einfacher geformten des Handwerkers unterscheiden. Aus Angaben von Wiedersheim und Welcker stellt Ammon eine Liste der Hirn¬ gewichte von 36 berühmten Personen zusammen. 25 davon hatten ein Gewicht über. 11 ein solches unter dem Mittel; der Durchschnitt aller 36 beträgt fast 100 Gramm über das Mittel. „Diese Ziffern sind beweisend," fügt er hinzu. Gewiß! sie beweisen etwas sehr wichtiges, nämlich daß wir über die Beziehung des Hirngewichtes zu den Geistesanlagen und zur Höhe ihrer Ent- wicklung so gut wie nichts wissen. Wenn man mit einem Gehirn, das weniger wiegt als ein durchschnittliches Philisterhirn, ein großer Gelehrter sein kann, so ist damit doch bewiesen, daß zwischen Gehirngröße und Geistesgröße kein Parallelismus besteht. Das kleinste der 36 Hirne hat Döllinger gehabt; es hat nur 1207 Gramm gewogen; das größte Turgenjeff mit 2012 Gramm; das Hirn dieses russischen Romanschreibers ist also beinahe doppelt so schwer gewesen wie das des großem deutschen Gelehrten. Und Turgenjeff hat nicht zu jenen Novellisten gehört — heutzutage giebt es ja solche —, die angestrengt studiren und arbeiten. Ludwig Pietsch, der mit ihm befreundet war und in Baden-Baden eine Zeit lang Wand an Wand mit ihm gewohnt hat, erzählt, wie der Russe, wenn ihn eine übcrnommne Verpflichtung drängte, immer erst stundenlang geseufzt und schmerzbewegt: „Arbeiten, ach arbeiten" gerufen habe, Gronzboten IV 1807 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/427>, abgerufen am 29.06.2024.