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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

gezwungnen deutschen Bauern werden würde, wenn man sie in der eben be-
sprochnen Weise ausstatten und sich dann ohne jede Kontrolle selbst überlassen
wollte, können wir wohl jedem, der mit den deutschen Verhältnissen bekannt ist,
überlassen. Man vergegenwärtige sich aber einmal das Maß von Sinn und
Logik, das in der Forderung und Erwartung der russischen Bauernfreunde
liegt: der jahrhundertelang an ein dem westeuropäischen Bauer gegenüber
vollkommen sorgenloses und bequemes Leben gewöhnte russische Bauer werde
sich die Eigenschaften seines westeuropäischen Kollegen nur dann angewöhnen,
wenn ihm die Regierung das zu einer noch bequemern Existenz nötige auf dem
Präsentirteller, fast ohne jede Gegenleistung überreiche; dann wird man be¬
greifen, weshalb die russische Negierung ihre eignen Wege geht und sich nicht
um die Ansichten und Forderungen dieser Leute kümmert. Und sucht man
diesen das Irrige und Bedenkliche ihrer Ansichten auseinanderzusetzen, so
heißt es in der Regel: "Was wissen Sie vom russischen Wesen und Volke,
Sie sind Deutscher und Lutheraner und können als solcher hundert Jahre
unter dem russischen Volke leben, ohne dahin zu kommen, russisches Wesen
und Denken zu verstehen." Verweise man dann auf die zahllosen gebildeten
Russen, die derselben Ansicht sind, so heißt es weiter: "Nun ja, das sind An¬
hänger des Westens und keine eigentlichen Russen mehr" usw.

Nun ist es aber merkwürdig, daß gegenwärtig schon Millionen von stock¬
russischen Bauern zu der Überzeugung gekommen sind, daß die bisherige Agrar-
verfassung der Russen jedem Thätigen und Fleißigen Hände und Füße bindet
und ihn vollkommen zum Sklaven und Knecht des faulenzenden Hansens
macht, überhaupt jeder, der vorwärts kommen will, entweder ganz auswandern
oder sich so von den übrigen trennen muß, daß er mit den im Gemeindebesitz
wirtschaftenden gar nichts mehr zu thun hat. Vou dieser jetzt überall zu
Tage tretenden Erscheinung, die am deutlichsten beweist, daß die Behauptung
der Vertreter des teilbaren Gemeindebesitzes, der russische Bauer wünsche
und verlange nur in dieser Besitzform zu leben, genau so Windbeutelei und
Täuschung ist wie die andre, daß der russische Bauer ein ganz anders gearteter
Mensch als alle übrigen sei, wird jetzt ebenso wenig wie davon gesprochen,
was in den deutschen Kolonien an der Wolga vorgegangen ist, denn beides
beweist, daß das Fundament dieser Behauptungen äußerst wacklig steht.

Am 22. Juli 1763 unterzeichnete die Kaiserin Katharina II. ein Manifest,
das deutsche Bauern und Handwerker nach Rußland berief, einesteils um un¬
produktive Landstrecken zu bevölkern, andernteils damit die deutschen Bauern
Beispiel und Lehrer für die vorhandnen russischen werden sollten. Dieser
Wunsch der vormaligen Prinzessin von Anhalt ist leider nur in sehr be¬
schränkter Weise in Erfüllung gegangen, und am allerwenigsten bei den russischen
Bauern. Am meisten Nutzen haben von den damals Eingewanderten die im
Norden angesiedelten den umwohnenden finnischen Bauern gebracht, wogegen


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

gezwungnen deutschen Bauern werden würde, wenn man sie in der eben be-
sprochnen Weise ausstatten und sich dann ohne jede Kontrolle selbst überlassen
wollte, können wir wohl jedem, der mit den deutschen Verhältnissen bekannt ist,
überlassen. Man vergegenwärtige sich aber einmal das Maß von Sinn und
Logik, das in der Forderung und Erwartung der russischen Bauernfreunde
liegt: der jahrhundertelang an ein dem westeuropäischen Bauer gegenüber
vollkommen sorgenloses und bequemes Leben gewöhnte russische Bauer werde
sich die Eigenschaften seines westeuropäischen Kollegen nur dann angewöhnen,
wenn ihm die Regierung das zu einer noch bequemern Existenz nötige auf dem
Präsentirteller, fast ohne jede Gegenleistung überreiche; dann wird man be¬
greifen, weshalb die russische Negierung ihre eignen Wege geht und sich nicht
um die Ansichten und Forderungen dieser Leute kümmert. Und sucht man
diesen das Irrige und Bedenkliche ihrer Ansichten auseinanderzusetzen, so
heißt es in der Regel: „Was wissen Sie vom russischen Wesen und Volke,
Sie sind Deutscher und Lutheraner und können als solcher hundert Jahre
unter dem russischen Volke leben, ohne dahin zu kommen, russisches Wesen
und Denken zu verstehen." Verweise man dann auf die zahllosen gebildeten
Russen, die derselben Ansicht sind, so heißt es weiter: „Nun ja, das sind An¬
hänger des Westens und keine eigentlichen Russen mehr" usw.

Nun ist es aber merkwürdig, daß gegenwärtig schon Millionen von stock¬
russischen Bauern zu der Überzeugung gekommen sind, daß die bisherige Agrar-
verfassung der Russen jedem Thätigen und Fleißigen Hände und Füße bindet
und ihn vollkommen zum Sklaven und Knecht des faulenzenden Hansens
macht, überhaupt jeder, der vorwärts kommen will, entweder ganz auswandern
oder sich so von den übrigen trennen muß, daß er mit den im Gemeindebesitz
wirtschaftenden gar nichts mehr zu thun hat. Vou dieser jetzt überall zu
Tage tretenden Erscheinung, die am deutlichsten beweist, daß die Behauptung
der Vertreter des teilbaren Gemeindebesitzes, der russische Bauer wünsche
und verlange nur in dieser Besitzform zu leben, genau so Windbeutelei und
Täuschung ist wie die andre, daß der russische Bauer ein ganz anders gearteter
Mensch als alle übrigen sei, wird jetzt ebenso wenig wie davon gesprochen,
was in den deutschen Kolonien an der Wolga vorgegangen ist, denn beides
beweist, daß das Fundament dieser Behauptungen äußerst wacklig steht.

Am 22. Juli 1763 unterzeichnete die Kaiserin Katharina II. ein Manifest,
das deutsche Bauern und Handwerker nach Rußland berief, einesteils um un¬
produktive Landstrecken zu bevölkern, andernteils damit die deutschen Bauern
Beispiel und Lehrer für die vorhandnen russischen werden sollten. Dieser
Wunsch der vormaligen Prinzessin von Anhalt ist leider nur in sehr be¬
schränkter Weise in Erfüllung gegangen, und am allerwenigsten bei den russischen
Bauern. Am meisten Nutzen haben von den damals Eingewanderten die im
Norden angesiedelten den umwohnenden finnischen Bauern gebracht, wogegen


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[0421] Die deutschen Kolonisten an der Wolga gezwungnen deutschen Bauern werden würde, wenn man sie in der eben be- sprochnen Weise ausstatten und sich dann ohne jede Kontrolle selbst überlassen wollte, können wir wohl jedem, der mit den deutschen Verhältnissen bekannt ist, überlassen. Man vergegenwärtige sich aber einmal das Maß von Sinn und Logik, das in der Forderung und Erwartung der russischen Bauernfreunde liegt: der jahrhundertelang an ein dem westeuropäischen Bauer gegenüber vollkommen sorgenloses und bequemes Leben gewöhnte russische Bauer werde sich die Eigenschaften seines westeuropäischen Kollegen nur dann angewöhnen, wenn ihm die Regierung das zu einer noch bequemern Existenz nötige auf dem Präsentirteller, fast ohne jede Gegenleistung überreiche; dann wird man be¬ greifen, weshalb die russische Negierung ihre eignen Wege geht und sich nicht um die Ansichten und Forderungen dieser Leute kümmert. Und sucht man diesen das Irrige und Bedenkliche ihrer Ansichten auseinanderzusetzen, so heißt es in der Regel: „Was wissen Sie vom russischen Wesen und Volke, Sie sind Deutscher und Lutheraner und können als solcher hundert Jahre unter dem russischen Volke leben, ohne dahin zu kommen, russisches Wesen und Denken zu verstehen." Verweise man dann auf die zahllosen gebildeten Russen, die derselben Ansicht sind, so heißt es weiter: „Nun ja, das sind An¬ hänger des Westens und keine eigentlichen Russen mehr" usw. Nun ist es aber merkwürdig, daß gegenwärtig schon Millionen von stock¬ russischen Bauern zu der Überzeugung gekommen sind, daß die bisherige Agrar- verfassung der Russen jedem Thätigen und Fleißigen Hände und Füße bindet und ihn vollkommen zum Sklaven und Knecht des faulenzenden Hansens macht, überhaupt jeder, der vorwärts kommen will, entweder ganz auswandern oder sich so von den übrigen trennen muß, daß er mit den im Gemeindebesitz wirtschaftenden gar nichts mehr zu thun hat. Vou dieser jetzt überall zu Tage tretenden Erscheinung, die am deutlichsten beweist, daß die Behauptung der Vertreter des teilbaren Gemeindebesitzes, der russische Bauer wünsche und verlange nur in dieser Besitzform zu leben, genau so Windbeutelei und Täuschung ist wie die andre, daß der russische Bauer ein ganz anders gearteter Mensch als alle übrigen sei, wird jetzt ebenso wenig wie davon gesprochen, was in den deutschen Kolonien an der Wolga vorgegangen ist, denn beides beweist, daß das Fundament dieser Behauptungen äußerst wacklig steht. Am 22. Juli 1763 unterzeichnete die Kaiserin Katharina II. ein Manifest, das deutsche Bauern und Handwerker nach Rußland berief, einesteils um un¬ produktive Landstrecken zu bevölkern, andernteils damit die deutschen Bauern Beispiel und Lehrer für die vorhandnen russischen werden sollten. Dieser Wunsch der vormaligen Prinzessin von Anhalt ist leider nur in sehr be¬ schränkter Weise in Erfüllung gegangen, und am allerwenigsten bei den russischen Bauern. Am meisten Nutzen haben von den damals Eingewanderten die im Norden angesiedelten den umwohnenden finnischen Bauern gebracht, wogegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/421>, abgerufen am 29.06.2024.