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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten ein der Wolga

hat aber der männliche Kopf der befreiten Bauern 5^ Deßjatinen gleich etwa
231/2 Morgen erhalten, eine Landmenge, die bei geregelter Wirtschaft mehr
als ausreichend war, die Bauern mit ihren Familien zu erhalten, die aber bei
der Wirtschaft mit Gemeindebesitz nie ausreichend gewesen ist und selbst dann
nicht ausreichen würde, wenn man den Herrschaften jetzt noch das Doppelte
der genannten Flache zuleiten wollte. Früher, wo der Haufe nicht machen
konnte, was er wollte, wo der unverbesserliche Faulenzer und Trinker nötigen¬
falls mit dem Stock dazu gebracht werden konnte, zu arbeiten und sein Geld
nicht durch die Gurgel zu jagen, ist die erwähnte Fläche auch ausreichend,
und die materielle Lage der Bauern -- mit geringen Ausnahmen -- weit
besser als gegenwärtig gewesen; seit der Zeit aber, wo der rohe Instinkt des
Haufens ganz beliebig, und ohne Strafe oder üble Folgen befürchten zu müssen,
wirtschaften konnte, wie er wollte, ist es mit der Masse der Bauern auch immer
weiter bergab gegangen. Nur mit Grauen denkt jeder, der an Ordnung und ge¬
regelte sittliche Zustände gewöhnt ist, an die Zeit zurück, während Tausende noch
heute wie vom Verlornen Paradiese von ihr träumen; es läßt sich auch gar
nicht leugnen, daß diese -- von ihrem Standpunkte aus -- alle Ursache haben,
zu klagen.

Waren das damals sür die Inhaber der Schcinken und Geschäftemacher
goldne Zeiten, als sich die Bauern weder um die Bezahlung der Steuern
und Abgaben, noch sonstige Verpflichtungen zu kümmern brauchten und
den letzten Kopeken oder das letzte Maß Brotkorn mit dem Bewußtsein ver¬
himmeln konnten, daß sie die Gemeinde oder die Behörde doch nicht ver¬
hungern lassen dürfe! wo von ihren Freunden jeder Hinweis auf die Folgen
einer solchen Wirtschaft mit der Phrase zurückgewiesen oder entschuldigt wurde,
daß man doch Nachsicht haben müsse mit den armen während der langen Leib¬
eigenschaft so sehr Gequälten, die ohne Frage nach sehr kurzer Zeit weit über
den westeuropäischen Bauern stehen und die ganze Welt durch ihre Thätigkeit,
Sparsamkeit und Intelligenz in Erstaunen setzen würden! Und als von allen
diesen Prophezeiungen sich keine einzige verwirklichte, im Gegenteil die Lage
der Bauern immer schlimmer wurde, und mehr als die Hälfte des Bauern¬
landes unbearbeitet blieb, so wußten diese Leute wieder nichts besseres zu thun,
als der Regierung Vorwürfe darüber zu machen, daß den Bauern nicht Land
genug gegeben sei, damit sie sorgloser leben könnten und nicht bei den mise-
rabeln Gutsbesitzern zu arbeiten brauchten, denn alle ihre Trinkerei und
Faulenzerei sei uur die Folge der Verzweiflung darüber, daß man sie bei
Aufhebung der Leibeigenschaft so schlecht behandelt habe. Das Versäumte sei
aber schleunigst nachzuholen, zumal da bei den Gutsbesitzern noch Land genug
vorhanden sei, das man ihnen nehmen und den Bauern schenken könne.

Die Antwort auf die Frage, was wohl aus den jahrhundertelang durch
die Verhältnisse zu strenger Arbeit, Sparsamkeit und Sorge um die Zukunft


Die deutschen Kolonisten ein der Wolga

hat aber der männliche Kopf der befreiten Bauern 5^ Deßjatinen gleich etwa
231/2 Morgen erhalten, eine Landmenge, die bei geregelter Wirtschaft mehr
als ausreichend war, die Bauern mit ihren Familien zu erhalten, die aber bei
der Wirtschaft mit Gemeindebesitz nie ausreichend gewesen ist und selbst dann
nicht ausreichen würde, wenn man den Herrschaften jetzt noch das Doppelte
der genannten Flache zuleiten wollte. Früher, wo der Haufe nicht machen
konnte, was er wollte, wo der unverbesserliche Faulenzer und Trinker nötigen¬
falls mit dem Stock dazu gebracht werden konnte, zu arbeiten und sein Geld
nicht durch die Gurgel zu jagen, ist die erwähnte Fläche auch ausreichend,
und die materielle Lage der Bauern — mit geringen Ausnahmen — weit
besser als gegenwärtig gewesen; seit der Zeit aber, wo der rohe Instinkt des
Haufens ganz beliebig, und ohne Strafe oder üble Folgen befürchten zu müssen,
wirtschaften konnte, wie er wollte, ist es mit der Masse der Bauern auch immer
weiter bergab gegangen. Nur mit Grauen denkt jeder, der an Ordnung und ge¬
regelte sittliche Zustände gewöhnt ist, an die Zeit zurück, während Tausende noch
heute wie vom Verlornen Paradiese von ihr träumen; es läßt sich auch gar
nicht leugnen, daß diese — von ihrem Standpunkte aus — alle Ursache haben,
zu klagen.

Waren das damals sür die Inhaber der Schcinken und Geschäftemacher
goldne Zeiten, als sich die Bauern weder um die Bezahlung der Steuern
und Abgaben, noch sonstige Verpflichtungen zu kümmern brauchten und
den letzten Kopeken oder das letzte Maß Brotkorn mit dem Bewußtsein ver¬
himmeln konnten, daß sie die Gemeinde oder die Behörde doch nicht ver¬
hungern lassen dürfe! wo von ihren Freunden jeder Hinweis auf die Folgen
einer solchen Wirtschaft mit der Phrase zurückgewiesen oder entschuldigt wurde,
daß man doch Nachsicht haben müsse mit den armen während der langen Leib¬
eigenschaft so sehr Gequälten, die ohne Frage nach sehr kurzer Zeit weit über
den westeuropäischen Bauern stehen und die ganze Welt durch ihre Thätigkeit,
Sparsamkeit und Intelligenz in Erstaunen setzen würden! Und als von allen
diesen Prophezeiungen sich keine einzige verwirklichte, im Gegenteil die Lage
der Bauern immer schlimmer wurde, und mehr als die Hälfte des Bauern¬
landes unbearbeitet blieb, so wußten diese Leute wieder nichts besseres zu thun,
als der Regierung Vorwürfe darüber zu machen, daß den Bauern nicht Land
genug gegeben sei, damit sie sorgloser leben könnten und nicht bei den mise-
rabeln Gutsbesitzern zu arbeiten brauchten, denn alle ihre Trinkerei und
Faulenzerei sei uur die Folge der Verzweiflung darüber, daß man sie bei
Aufhebung der Leibeigenschaft so schlecht behandelt habe. Das Versäumte sei
aber schleunigst nachzuholen, zumal da bei den Gutsbesitzern noch Land genug
vorhanden sei, das man ihnen nehmen und den Bauern schenken könne.

Die Antwort auf die Frage, was wohl aus den jahrhundertelang durch
die Verhältnisse zu strenger Arbeit, Sparsamkeit und Sorge um die Zukunft


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[0420] Die deutschen Kolonisten ein der Wolga hat aber der männliche Kopf der befreiten Bauern 5^ Deßjatinen gleich etwa 231/2 Morgen erhalten, eine Landmenge, die bei geregelter Wirtschaft mehr als ausreichend war, die Bauern mit ihren Familien zu erhalten, die aber bei der Wirtschaft mit Gemeindebesitz nie ausreichend gewesen ist und selbst dann nicht ausreichen würde, wenn man den Herrschaften jetzt noch das Doppelte der genannten Flache zuleiten wollte. Früher, wo der Haufe nicht machen konnte, was er wollte, wo der unverbesserliche Faulenzer und Trinker nötigen¬ falls mit dem Stock dazu gebracht werden konnte, zu arbeiten und sein Geld nicht durch die Gurgel zu jagen, ist die erwähnte Fläche auch ausreichend, und die materielle Lage der Bauern — mit geringen Ausnahmen — weit besser als gegenwärtig gewesen; seit der Zeit aber, wo der rohe Instinkt des Haufens ganz beliebig, und ohne Strafe oder üble Folgen befürchten zu müssen, wirtschaften konnte, wie er wollte, ist es mit der Masse der Bauern auch immer weiter bergab gegangen. Nur mit Grauen denkt jeder, der an Ordnung und ge¬ regelte sittliche Zustände gewöhnt ist, an die Zeit zurück, während Tausende noch heute wie vom Verlornen Paradiese von ihr träumen; es läßt sich auch gar nicht leugnen, daß diese — von ihrem Standpunkte aus — alle Ursache haben, zu klagen. Waren das damals sür die Inhaber der Schcinken und Geschäftemacher goldne Zeiten, als sich die Bauern weder um die Bezahlung der Steuern und Abgaben, noch sonstige Verpflichtungen zu kümmern brauchten und den letzten Kopeken oder das letzte Maß Brotkorn mit dem Bewußtsein ver¬ himmeln konnten, daß sie die Gemeinde oder die Behörde doch nicht ver¬ hungern lassen dürfe! wo von ihren Freunden jeder Hinweis auf die Folgen einer solchen Wirtschaft mit der Phrase zurückgewiesen oder entschuldigt wurde, daß man doch Nachsicht haben müsse mit den armen während der langen Leib¬ eigenschaft so sehr Gequälten, die ohne Frage nach sehr kurzer Zeit weit über den westeuropäischen Bauern stehen und die ganze Welt durch ihre Thätigkeit, Sparsamkeit und Intelligenz in Erstaunen setzen würden! Und als von allen diesen Prophezeiungen sich keine einzige verwirklichte, im Gegenteil die Lage der Bauern immer schlimmer wurde, und mehr als die Hälfte des Bauern¬ landes unbearbeitet blieb, so wußten diese Leute wieder nichts besseres zu thun, als der Regierung Vorwürfe darüber zu machen, daß den Bauern nicht Land genug gegeben sei, damit sie sorgloser leben könnten und nicht bei den mise- rabeln Gutsbesitzern zu arbeiten brauchten, denn alle ihre Trinkerei und Faulenzerei sei uur die Folge der Verzweiflung darüber, daß man sie bei Aufhebung der Leibeigenschaft so schlecht behandelt habe. Das Versäumte sei aber schleunigst nachzuholen, zumal da bei den Gutsbesitzern noch Land genug vorhanden sei, das man ihnen nehmen und den Bauern schenken könne. Die Antwort auf die Frage, was wohl aus den jahrhundertelang durch die Verhältnisse zu strenger Arbeit, Sparsamkeit und Sorge um die Zukunft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/420>, abgerufen am 29.06.2024.