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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

und Amortisationsgeldern für die Hufe fünfzehn deutsche Mark -- also fünfzig
Pfennige auf den Morgen zu zahlen sind. 2. Bei der Geburt eines Knaben
wird dem Vater oder der Familie, zu der er gehört, eine weitere Hufe Land unter
denselben Bedingungen zugemessen. 3. Das Oberhaupt einer Wirtschaft oder
Familie ist der Älteste der Familie, oder beim Fehlen von erwachsenen Männern
dessen Witwe; ohne die Zustimmung des Oberhauptes darf keine Wirtschaft
geteilt werden. 4. Um zu verhindern, daß ein Wirt sein Land verschleudert
und besitzlose Proletarier entstehen, bleiben die den Einzelnen zugemessenen
Landanteile Eigentum der Gesamtheit der Bauern (der Gemeinde), die allein
mit gleichem Stimmrecht über die Art und Weise der Zuteilung und Bewirt¬
schaftung des Landes zu verfügen hat. 5. Daß für den pünktlichen Eingang der
Steuern und Zahlungen gesorgt wird, dafür haften sämtliche Bauern solidarisch,
also alle für einen, oder einer für alle -- oder deutlicher gesagt, wenn einer
seine Steuern und Abgaben nicht bezahlt, so müssen sie die übrigen bezahlen und
können daun zusehen, wie sie wieder zu ihrem Gelde kommen. 6. Das zum
Betriebe einer Wirtschaft unbedingt nötige, also das zugeteilte Land, Haus,
Vieh, Ackergerät, Saat- und nötige Brodgetreide usw. darf den Bauern unter
keiner Bedingung, also auch dann nicht genommen werden, wenn sie ihre
Steuern und Abgaben nicht bezahlen. 7. Jede Gemeinde hat die Verpflichtung,
ihre verarmten Bauern mit ihren Familien zu ernähren, ohne dabei aber
irgend ein Recht zur Anwendung von Zwangsmaßregeln gegenüber Arbeits¬
scheuen und gewerbsmäßigen Bettlern zu haben; die behalten mit ihren Kindern
unter allen Umständen das Recht auf gleiche Landanteile und beschließende
Stimme in den Gemeindeversammlungen. Fehlt einer Gemeinde die Möglich¬
keit, ihre Angehörigen zu ernähren und zu erhalten, so hat in erster Linie die
Landschaft (der Kreis) und zuletzt der Staat diese Verpflichtung zu über¬
nehmen.

So etwa ist die berühmte Verfassung der russischen Bauern beschaffen, mit
deren Hilfe ihre Freunde die soziale Frage auf ruhige Weise lösen wollen.
Dazu ist aber noch folgendes zu bemerken. Eigentümer des von ihnen
früher nur benutzten Landes sind sowohl die russischen Bauern wie die im
Gemeindebesitz lebenden deutschen Kolonisten erst nach Aufhebung der Leibeigen¬
schaft und nach Verleihung der Selbstverwaltung geworden. Vorher standen
die russischen Bauern unter der Kontrolle der Grundeigentümer: des Staats,
der Krone (Apanagengüter) und der Gutsbesitzer, wogegen sich die Oberbehörde
der Kolonisten an der Wolga in Ssaratow befand. Mit der Verleihung der
Selbstverwaltung und der Zuziehung der Kolonien zu den übrigen Bauern¬
gemeinden wurde das Kolvnistcnl'omptoir in Ssaratow aufgehoben. An Acker
wurde den russischen Bauern in den südlichen Steppen durchschnittlich mehr
als eine deutsche Hufe -- sieben russische Deßjatinen --in den dichter be¬
völkerten nördlichen Gegenden dagegen weniger zugemessen; im Durchschnitt


Grenzboten IV 1397 52
Die deutschen Kolonisten an der Wolga

und Amortisationsgeldern für die Hufe fünfzehn deutsche Mark — also fünfzig
Pfennige auf den Morgen zu zahlen sind. 2. Bei der Geburt eines Knaben
wird dem Vater oder der Familie, zu der er gehört, eine weitere Hufe Land unter
denselben Bedingungen zugemessen. 3. Das Oberhaupt einer Wirtschaft oder
Familie ist der Älteste der Familie, oder beim Fehlen von erwachsenen Männern
dessen Witwe; ohne die Zustimmung des Oberhauptes darf keine Wirtschaft
geteilt werden. 4. Um zu verhindern, daß ein Wirt sein Land verschleudert
und besitzlose Proletarier entstehen, bleiben die den Einzelnen zugemessenen
Landanteile Eigentum der Gesamtheit der Bauern (der Gemeinde), die allein
mit gleichem Stimmrecht über die Art und Weise der Zuteilung und Bewirt¬
schaftung des Landes zu verfügen hat. 5. Daß für den pünktlichen Eingang der
Steuern und Zahlungen gesorgt wird, dafür haften sämtliche Bauern solidarisch,
also alle für einen, oder einer für alle — oder deutlicher gesagt, wenn einer
seine Steuern und Abgaben nicht bezahlt, so müssen sie die übrigen bezahlen und
können daun zusehen, wie sie wieder zu ihrem Gelde kommen. 6. Das zum
Betriebe einer Wirtschaft unbedingt nötige, also das zugeteilte Land, Haus,
Vieh, Ackergerät, Saat- und nötige Brodgetreide usw. darf den Bauern unter
keiner Bedingung, also auch dann nicht genommen werden, wenn sie ihre
Steuern und Abgaben nicht bezahlen. 7. Jede Gemeinde hat die Verpflichtung,
ihre verarmten Bauern mit ihren Familien zu ernähren, ohne dabei aber
irgend ein Recht zur Anwendung von Zwangsmaßregeln gegenüber Arbeits¬
scheuen und gewerbsmäßigen Bettlern zu haben; die behalten mit ihren Kindern
unter allen Umständen das Recht auf gleiche Landanteile und beschließende
Stimme in den Gemeindeversammlungen. Fehlt einer Gemeinde die Möglich¬
keit, ihre Angehörigen zu ernähren und zu erhalten, so hat in erster Linie die
Landschaft (der Kreis) und zuletzt der Staat diese Verpflichtung zu über¬
nehmen.

So etwa ist die berühmte Verfassung der russischen Bauern beschaffen, mit
deren Hilfe ihre Freunde die soziale Frage auf ruhige Weise lösen wollen.
Dazu ist aber noch folgendes zu bemerken. Eigentümer des von ihnen
früher nur benutzten Landes sind sowohl die russischen Bauern wie die im
Gemeindebesitz lebenden deutschen Kolonisten erst nach Aufhebung der Leibeigen¬
schaft und nach Verleihung der Selbstverwaltung geworden. Vorher standen
die russischen Bauern unter der Kontrolle der Grundeigentümer: des Staats,
der Krone (Apanagengüter) und der Gutsbesitzer, wogegen sich die Oberbehörde
der Kolonisten an der Wolga in Ssaratow befand. Mit der Verleihung der
Selbstverwaltung und der Zuziehung der Kolonien zu den übrigen Bauern¬
gemeinden wurde das Kolvnistcnl'omptoir in Ssaratow aufgehoben. An Acker
wurde den russischen Bauern in den südlichen Steppen durchschnittlich mehr
als eine deutsche Hufe — sieben russische Deßjatinen —in den dichter be¬
völkerten nördlichen Gegenden dagegen weniger zugemessen; im Durchschnitt


Grenzboten IV 1397 52
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[0419] Die deutschen Kolonisten an der Wolga und Amortisationsgeldern für die Hufe fünfzehn deutsche Mark — also fünfzig Pfennige auf den Morgen zu zahlen sind. 2. Bei der Geburt eines Knaben wird dem Vater oder der Familie, zu der er gehört, eine weitere Hufe Land unter denselben Bedingungen zugemessen. 3. Das Oberhaupt einer Wirtschaft oder Familie ist der Älteste der Familie, oder beim Fehlen von erwachsenen Männern dessen Witwe; ohne die Zustimmung des Oberhauptes darf keine Wirtschaft geteilt werden. 4. Um zu verhindern, daß ein Wirt sein Land verschleudert und besitzlose Proletarier entstehen, bleiben die den Einzelnen zugemessenen Landanteile Eigentum der Gesamtheit der Bauern (der Gemeinde), die allein mit gleichem Stimmrecht über die Art und Weise der Zuteilung und Bewirt¬ schaftung des Landes zu verfügen hat. 5. Daß für den pünktlichen Eingang der Steuern und Zahlungen gesorgt wird, dafür haften sämtliche Bauern solidarisch, also alle für einen, oder einer für alle — oder deutlicher gesagt, wenn einer seine Steuern und Abgaben nicht bezahlt, so müssen sie die übrigen bezahlen und können daun zusehen, wie sie wieder zu ihrem Gelde kommen. 6. Das zum Betriebe einer Wirtschaft unbedingt nötige, also das zugeteilte Land, Haus, Vieh, Ackergerät, Saat- und nötige Brodgetreide usw. darf den Bauern unter keiner Bedingung, also auch dann nicht genommen werden, wenn sie ihre Steuern und Abgaben nicht bezahlen. 7. Jede Gemeinde hat die Verpflichtung, ihre verarmten Bauern mit ihren Familien zu ernähren, ohne dabei aber irgend ein Recht zur Anwendung von Zwangsmaßregeln gegenüber Arbeits¬ scheuen und gewerbsmäßigen Bettlern zu haben; die behalten mit ihren Kindern unter allen Umständen das Recht auf gleiche Landanteile und beschließende Stimme in den Gemeindeversammlungen. Fehlt einer Gemeinde die Möglich¬ keit, ihre Angehörigen zu ernähren und zu erhalten, so hat in erster Linie die Landschaft (der Kreis) und zuletzt der Staat diese Verpflichtung zu über¬ nehmen. So etwa ist die berühmte Verfassung der russischen Bauern beschaffen, mit deren Hilfe ihre Freunde die soziale Frage auf ruhige Weise lösen wollen. Dazu ist aber noch folgendes zu bemerken. Eigentümer des von ihnen früher nur benutzten Landes sind sowohl die russischen Bauern wie die im Gemeindebesitz lebenden deutschen Kolonisten erst nach Aufhebung der Leibeigen¬ schaft und nach Verleihung der Selbstverwaltung geworden. Vorher standen die russischen Bauern unter der Kontrolle der Grundeigentümer: des Staats, der Krone (Apanagengüter) und der Gutsbesitzer, wogegen sich die Oberbehörde der Kolonisten an der Wolga in Ssaratow befand. Mit der Verleihung der Selbstverwaltung und der Zuziehung der Kolonien zu den übrigen Bauern¬ gemeinden wurde das Kolvnistcnl'omptoir in Ssaratow aufgehoben. An Acker wurde den russischen Bauern in den südlichen Steppen durchschnittlich mehr als eine deutsche Hufe — sieben russische Deßjatinen —in den dichter be¬ völkerten nördlichen Gegenden dagegen weniger zugemessen; im Durchschnitt Grenzboten IV 1397 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/419>, abgerufen am 29.06.2024.