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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der N)olga

Mitteln, die schon ausgewanderten eingerechnet, fast auf 500000, also auf das
Zwanzigfache der ursprünglichen Zahl vermehrt, eine Vermehrung, die kaum
ihresgleichen hat.

Seine heutige Menschenmasse hat also Nußland dem teilbaren Gemeinde¬
besitz -- oder richtiger gesagt, den riesigen freien Landmassen, die an Leute,
die heiraten und Kinder zeugen wollten, verteilt werden konnten -- allerdings
zu verdanken, aber in dieser bequemen und für den Staat früher so außer¬
ordentlich vorteilhaften Agrarverfasfung wurzelt auch seine Schwäche: der sorg¬
lose Sinn der durch die mühelose Landzuteilung seit Jahrhunderten verwöhnten
Bauern, und ihr Widerwille gegen jeden wirtschaftlichen Fortschritt, überhaupt
gegen eine Wirtschafts- und Lebensweise wie die der westeuropäischen Bauern,
wo jeder für seine Zukunft und die seiner Familie selbst zu sorgen hat. Eine
Änderung in der Gesinnung der Bauern und eine Besserung ihrer Lage kann wohl
dann eintreten, wenn mit der Einrichtung den Bauern auch jede Hoffnung ge¬
nommen wird, auch ferner noch ohne alle Mühe und Anstrengung zu der
nötigen Versorgung für sich und ihre Kinder zu kommen --darüber können
sich nur noch Menschen täuschen, sür die die Erfahrungen der letzten sechsund¬
dreißig Jahre nicht vorhanden sind, und die nur mit Einbildungen rechnen,
die dem Staate und den Bauern bisher nichts als Elend und Unheil gebracht
haben und bringen können.

Eine merkwürdige Beweisführung dieser Leute liegt u. a. in der Behauptung,
"daß der teilbare Gemeindebesitz viel zu sehr im Bewußtsein der russischen
Bauern wurzele, als daß er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden
könnte." Als ob es in der Welt schon jemals eine Verfassung und Einrichtung
gegeben hätte, die der Masse erlaubte, ein bequemes Bummelleben auf Kosten
andrer zu führen, und an die sich der verbummelte Haufe nicht mit der Kraft
der Verzweiflung geklammert Hütte. Hängt die Masse der deutschen Kolonisten
an der Wolga etwa weniger als die Masse der russischen Bauern an dieser
verderblichen Agrarverfassung, die alle zusammen mit der Sicherheit eines
Naturgesetzes zu Grunde richten muß? und würde die Sache im Westen
Europas irgendwie anders sein, wenn man dort den russischen Gemeindebesitz
mit seinem bequemen Landzuteilen einige Generationen lang einführen könnte?

Man spricht so häufig von den vorzüglichen Eigenschaften der west¬
europäischen Bauern, ihrer Arbeitsamkeit, ihrer Sparsamkeit und Sorge für
die Zukunft -- wie lange würden aber diese guten Eigenschaften wohl vor¬
halten, wenn es plötzlich hieße: Ihr lieben Leute! Bisher habt ihr euch
mit der Erziehung und Versorgung eurer Kinder quälen müssen, von jetzt
an wird euch die Sache wesentlich leichter gemacht werden, da folgendes
von der Regierung beschlossen worden ist: 1. Auf jeden männlichen Kopf
eurer Familie wird euch eine Hufe zu dreißig preußischen Morgen gleich sieben
russischen Deßjatinen guten Landes zugemessen, worauf alljährlich an Steuern


Die deutschen Kolonisten an der N)olga

Mitteln, die schon ausgewanderten eingerechnet, fast auf 500000, also auf das
Zwanzigfache der ursprünglichen Zahl vermehrt, eine Vermehrung, die kaum
ihresgleichen hat.

Seine heutige Menschenmasse hat also Nußland dem teilbaren Gemeinde¬
besitz — oder richtiger gesagt, den riesigen freien Landmassen, die an Leute,
die heiraten und Kinder zeugen wollten, verteilt werden konnten — allerdings
zu verdanken, aber in dieser bequemen und für den Staat früher so außer¬
ordentlich vorteilhaften Agrarverfasfung wurzelt auch seine Schwäche: der sorg¬
lose Sinn der durch die mühelose Landzuteilung seit Jahrhunderten verwöhnten
Bauern, und ihr Widerwille gegen jeden wirtschaftlichen Fortschritt, überhaupt
gegen eine Wirtschafts- und Lebensweise wie die der westeuropäischen Bauern,
wo jeder für seine Zukunft und die seiner Familie selbst zu sorgen hat. Eine
Änderung in der Gesinnung der Bauern und eine Besserung ihrer Lage kann wohl
dann eintreten, wenn mit der Einrichtung den Bauern auch jede Hoffnung ge¬
nommen wird, auch ferner noch ohne alle Mühe und Anstrengung zu der
nötigen Versorgung für sich und ihre Kinder zu kommen —darüber können
sich nur noch Menschen täuschen, sür die die Erfahrungen der letzten sechsund¬
dreißig Jahre nicht vorhanden sind, und die nur mit Einbildungen rechnen,
die dem Staate und den Bauern bisher nichts als Elend und Unheil gebracht
haben und bringen können.

Eine merkwürdige Beweisführung dieser Leute liegt u. a. in der Behauptung,
„daß der teilbare Gemeindebesitz viel zu sehr im Bewußtsein der russischen
Bauern wurzele, als daß er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden
könnte." Als ob es in der Welt schon jemals eine Verfassung und Einrichtung
gegeben hätte, die der Masse erlaubte, ein bequemes Bummelleben auf Kosten
andrer zu führen, und an die sich der verbummelte Haufe nicht mit der Kraft
der Verzweiflung geklammert Hütte. Hängt die Masse der deutschen Kolonisten
an der Wolga etwa weniger als die Masse der russischen Bauern an dieser
verderblichen Agrarverfassung, die alle zusammen mit der Sicherheit eines
Naturgesetzes zu Grunde richten muß? und würde die Sache im Westen
Europas irgendwie anders sein, wenn man dort den russischen Gemeindebesitz
mit seinem bequemen Landzuteilen einige Generationen lang einführen könnte?

Man spricht so häufig von den vorzüglichen Eigenschaften der west¬
europäischen Bauern, ihrer Arbeitsamkeit, ihrer Sparsamkeit und Sorge für
die Zukunft — wie lange würden aber diese guten Eigenschaften wohl vor¬
halten, wenn es plötzlich hieße: Ihr lieben Leute! Bisher habt ihr euch
mit der Erziehung und Versorgung eurer Kinder quälen müssen, von jetzt
an wird euch die Sache wesentlich leichter gemacht werden, da folgendes
von der Regierung beschlossen worden ist: 1. Auf jeden männlichen Kopf
eurer Familie wird euch eine Hufe zu dreißig preußischen Morgen gleich sieben
russischen Deßjatinen guten Landes zugemessen, worauf alljährlich an Steuern


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[0418] Die deutschen Kolonisten an der N)olga Mitteln, die schon ausgewanderten eingerechnet, fast auf 500000, also auf das Zwanzigfache der ursprünglichen Zahl vermehrt, eine Vermehrung, die kaum ihresgleichen hat. Seine heutige Menschenmasse hat also Nußland dem teilbaren Gemeinde¬ besitz — oder richtiger gesagt, den riesigen freien Landmassen, die an Leute, die heiraten und Kinder zeugen wollten, verteilt werden konnten — allerdings zu verdanken, aber in dieser bequemen und für den Staat früher so außer¬ ordentlich vorteilhaften Agrarverfasfung wurzelt auch seine Schwäche: der sorg¬ lose Sinn der durch die mühelose Landzuteilung seit Jahrhunderten verwöhnten Bauern, und ihr Widerwille gegen jeden wirtschaftlichen Fortschritt, überhaupt gegen eine Wirtschafts- und Lebensweise wie die der westeuropäischen Bauern, wo jeder für seine Zukunft und die seiner Familie selbst zu sorgen hat. Eine Änderung in der Gesinnung der Bauern und eine Besserung ihrer Lage kann wohl dann eintreten, wenn mit der Einrichtung den Bauern auch jede Hoffnung ge¬ nommen wird, auch ferner noch ohne alle Mühe und Anstrengung zu der nötigen Versorgung für sich und ihre Kinder zu kommen —darüber können sich nur noch Menschen täuschen, sür die die Erfahrungen der letzten sechsund¬ dreißig Jahre nicht vorhanden sind, und die nur mit Einbildungen rechnen, die dem Staate und den Bauern bisher nichts als Elend und Unheil gebracht haben und bringen können. Eine merkwürdige Beweisführung dieser Leute liegt u. a. in der Behauptung, „daß der teilbare Gemeindebesitz viel zu sehr im Bewußtsein der russischen Bauern wurzele, als daß er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden könnte." Als ob es in der Welt schon jemals eine Verfassung und Einrichtung gegeben hätte, die der Masse erlaubte, ein bequemes Bummelleben auf Kosten andrer zu führen, und an die sich der verbummelte Haufe nicht mit der Kraft der Verzweiflung geklammert Hütte. Hängt die Masse der deutschen Kolonisten an der Wolga etwa weniger als die Masse der russischen Bauern an dieser verderblichen Agrarverfassung, die alle zusammen mit der Sicherheit eines Naturgesetzes zu Grunde richten muß? und würde die Sache im Westen Europas irgendwie anders sein, wenn man dort den russischen Gemeindebesitz mit seinem bequemen Landzuteilen einige Generationen lang einführen könnte? Man spricht so häufig von den vorzüglichen Eigenschaften der west¬ europäischen Bauern, ihrer Arbeitsamkeit, ihrer Sparsamkeit und Sorge für die Zukunft — wie lange würden aber diese guten Eigenschaften wohl vor¬ halten, wenn es plötzlich hieße: Ihr lieben Leute! Bisher habt ihr euch mit der Erziehung und Versorgung eurer Kinder quälen müssen, von jetzt an wird euch die Sache wesentlich leichter gemacht werden, da folgendes von der Regierung beschlossen worden ist: 1. Auf jeden männlichen Kopf eurer Familie wird euch eine Hufe zu dreißig preußischen Morgen gleich sieben russischen Deßjatinen guten Landes zugemessen, worauf alljährlich an Steuern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/418>, abgerufen am 29.06.2024.