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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Alexanders III. bei seiner Krönung am 21. Mai 1883 gegen die Bauern-
delegirten, daß an eine weitere unentgeltliche Zuteilung von Gutsland nicht
zu denken sei, wieder mehr zur Arbeit, anstatt, wie bis dahin, im Ver¬
trauen auf die Versprechungen ihrer Freunde, die Hände in die Taschen zu
stecken und das übrige ihrem Herrgott und dem Kaiser zu überlassen.

Seit einiger Zeit beginnen nun aber wieder häufiger Artikel der Vauern-
sreunde über das alte Thema zu erscheinen, und wenn sie auch bisher noch
vernünftiger und ruhiger als früher gehalten sind, so ist doch zu befürchten,
daß sie bei ruhigem Gehenlassen sehr bald wieder in denselben leidenschaftlichen
und unüberlegten Ton verfallen werden, den alle Auslassungen dieser Partei
während der Regierung Alexanders II. zeigten. Gegenwärtig beschränkt sich
die Partei auf die abgedroschne Behauptung, daß der Gemeindebesitz als
Agrarverfassung zu tief in dem Bewußtsein der Bauern wurzle, als daß
er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden konnte, und daß die
bisherige so schlimme Lage der Bauern nur eine Folge der langen Leib¬
eigenschaft, der ungenügenden Landanteile und unerschwinglichen Zahlungen,
sowie des Mangels an Schulen sei. Alle Übelstände würden verschwinden,
wenn den Bauern so viel Land überwiesen würde, daß sie bestehen könnten,
wenn überall Schulen eingerichtet würden, und dergleichen Dinge mehr. Die
deutschen Kolonisten sind aber weder Leibeigne gewesen, noch hat es ihnen an
Schulen und genügenden Acker gefehlt, sie haben dazu lange Steuerfreiheit und
ein Jahrhundert lang äußerst wertvolle Privilegien gehabt; ist die Lage und
Entwicklung der Dinge bei diesen Kolonisten aber irgendwie anders als bei
den russischen Bauern im allgemeinen gewesen? Wenn heute noch ein Unter¬
schied zwischen ihnen und den russischen Bauern besteht, so hat das seinen Grund
nur darin, daß die russischen Bauern von jeher unter den entsittlichenden
Wirkungen des teilbaren Gemeindebesitzes zu leiden hatten, die deutschen Kolo¬
nisten dagegen nur hundertdreißig Jahre, und daß es auch Leute gab, die sich
dem Verfall mit allen Kräften entgegenstellten, während das bei den russischen
Bauern nicht der Fall war.

Richtig ist von den Behauptungen der Anhänger des teilbaren Gemeinde¬
sitzes nur das eine, daß das russische Volk diesem freilich hauptsächlich seine
Größe und heutige Macht verdankt. Damit ist aber noch lange nicht bewiesen,
daß dies auch ferner unter ganz veränderten Verhältnissen so sein müsse. Wie
der teilbare Gemeindebesitz hauptsächlich dazu beigetragen hat, für die im
Süden und Osten früher vorhandnen unendlichen menschenleeren Flächen des
fruchtbarsten Bodens in verhältnismäßig kurzer Zeit riesige Massen von
Arbeitern und Steuerzahlern zu züchten, kann mau gerade an den deutschen
Kolonisten sehe", die die Einrichtung angenommen haben. Während z. B. die
an der Wolga unmittelbar nach ihrer Einwanderung -- 1764 -- aus 23000
Köpfen bestanden, haben sie sich, dank dem Überfluß von Acker und Lebens-


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Alexanders III. bei seiner Krönung am 21. Mai 1883 gegen die Bauern-
delegirten, daß an eine weitere unentgeltliche Zuteilung von Gutsland nicht
zu denken sei, wieder mehr zur Arbeit, anstatt, wie bis dahin, im Ver¬
trauen auf die Versprechungen ihrer Freunde, die Hände in die Taschen zu
stecken und das übrige ihrem Herrgott und dem Kaiser zu überlassen.

Seit einiger Zeit beginnen nun aber wieder häufiger Artikel der Vauern-
sreunde über das alte Thema zu erscheinen, und wenn sie auch bisher noch
vernünftiger und ruhiger als früher gehalten sind, so ist doch zu befürchten,
daß sie bei ruhigem Gehenlassen sehr bald wieder in denselben leidenschaftlichen
und unüberlegten Ton verfallen werden, den alle Auslassungen dieser Partei
während der Regierung Alexanders II. zeigten. Gegenwärtig beschränkt sich
die Partei auf die abgedroschne Behauptung, daß der Gemeindebesitz als
Agrarverfassung zu tief in dem Bewußtsein der Bauern wurzle, als daß
er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden konnte, und daß die
bisherige so schlimme Lage der Bauern nur eine Folge der langen Leib¬
eigenschaft, der ungenügenden Landanteile und unerschwinglichen Zahlungen,
sowie des Mangels an Schulen sei. Alle Übelstände würden verschwinden,
wenn den Bauern so viel Land überwiesen würde, daß sie bestehen könnten,
wenn überall Schulen eingerichtet würden, und dergleichen Dinge mehr. Die
deutschen Kolonisten sind aber weder Leibeigne gewesen, noch hat es ihnen an
Schulen und genügenden Acker gefehlt, sie haben dazu lange Steuerfreiheit und
ein Jahrhundert lang äußerst wertvolle Privilegien gehabt; ist die Lage und
Entwicklung der Dinge bei diesen Kolonisten aber irgendwie anders als bei
den russischen Bauern im allgemeinen gewesen? Wenn heute noch ein Unter¬
schied zwischen ihnen und den russischen Bauern besteht, so hat das seinen Grund
nur darin, daß die russischen Bauern von jeher unter den entsittlichenden
Wirkungen des teilbaren Gemeindebesitzes zu leiden hatten, die deutschen Kolo¬
nisten dagegen nur hundertdreißig Jahre, und daß es auch Leute gab, die sich
dem Verfall mit allen Kräften entgegenstellten, während das bei den russischen
Bauern nicht der Fall war.

Richtig ist von den Behauptungen der Anhänger des teilbaren Gemeinde¬
sitzes nur das eine, daß das russische Volk diesem freilich hauptsächlich seine
Größe und heutige Macht verdankt. Damit ist aber noch lange nicht bewiesen,
daß dies auch ferner unter ganz veränderten Verhältnissen so sein müsse. Wie
der teilbare Gemeindebesitz hauptsächlich dazu beigetragen hat, für die im
Süden und Osten früher vorhandnen unendlichen menschenleeren Flächen des
fruchtbarsten Bodens in verhältnismäßig kurzer Zeit riesige Massen von
Arbeitern und Steuerzahlern zu züchten, kann mau gerade an den deutschen
Kolonisten sehe», die die Einrichtung angenommen haben. Während z. B. die
an der Wolga unmittelbar nach ihrer Einwanderung — 1764 — aus 23000
Köpfen bestanden, haben sie sich, dank dem Überfluß von Acker und Lebens-


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[0417] Die deutschen Kolonisten an der Wolga Alexanders III. bei seiner Krönung am 21. Mai 1883 gegen die Bauern- delegirten, daß an eine weitere unentgeltliche Zuteilung von Gutsland nicht zu denken sei, wieder mehr zur Arbeit, anstatt, wie bis dahin, im Ver¬ trauen auf die Versprechungen ihrer Freunde, die Hände in die Taschen zu stecken und das übrige ihrem Herrgott und dem Kaiser zu überlassen. Seit einiger Zeit beginnen nun aber wieder häufiger Artikel der Vauern- sreunde über das alte Thema zu erscheinen, und wenn sie auch bisher noch vernünftiger und ruhiger als früher gehalten sind, so ist doch zu befürchten, daß sie bei ruhigem Gehenlassen sehr bald wieder in denselben leidenschaftlichen und unüberlegten Ton verfallen werden, den alle Auslassungen dieser Partei während der Regierung Alexanders II. zeigten. Gegenwärtig beschränkt sich die Partei auf die abgedroschne Behauptung, daß der Gemeindebesitz als Agrarverfassung zu tief in dem Bewußtsein der Bauern wurzle, als daß er ohne Schaden für die Gesamtheit beseitigt werden konnte, und daß die bisherige so schlimme Lage der Bauern nur eine Folge der langen Leib¬ eigenschaft, der ungenügenden Landanteile und unerschwinglichen Zahlungen, sowie des Mangels an Schulen sei. Alle Übelstände würden verschwinden, wenn den Bauern so viel Land überwiesen würde, daß sie bestehen könnten, wenn überall Schulen eingerichtet würden, und dergleichen Dinge mehr. Die deutschen Kolonisten sind aber weder Leibeigne gewesen, noch hat es ihnen an Schulen und genügenden Acker gefehlt, sie haben dazu lange Steuerfreiheit und ein Jahrhundert lang äußerst wertvolle Privilegien gehabt; ist die Lage und Entwicklung der Dinge bei diesen Kolonisten aber irgendwie anders als bei den russischen Bauern im allgemeinen gewesen? Wenn heute noch ein Unter¬ schied zwischen ihnen und den russischen Bauern besteht, so hat das seinen Grund nur darin, daß die russischen Bauern von jeher unter den entsittlichenden Wirkungen des teilbaren Gemeindebesitzes zu leiden hatten, die deutschen Kolo¬ nisten dagegen nur hundertdreißig Jahre, und daß es auch Leute gab, die sich dem Verfall mit allen Kräften entgegenstellten, während das bei den russischen Bauern nicht der Fall war. Richtig ist von den Behauptungen der Anhänger des teilbaren Gemeinde¬ sitzes nur das eine, daß das russische Volk diesem freilich hauptsächlich seine Größe und heutige Macht verdankt. Damit ist aber noch lange nicht bewiesen, daß dies auch ferner unter ganz veränderten Verhältnissen so sein müsse. Wie der teilbare Gemeindebesitz hauptsächlich dazu beigetragen hat, für die im Süden und Osten früher vorhandnen unendlichen menschenleeren Flächen des fruchtbarsten Bodens in verhältnismäßig kurzer Zeit riesige Massen von Arbeitern und Steuerzahlern zu züchten, kann mau gerade an den deutschen Kolonisten sehe», die die Einrichtung angenommen haben. Während z. B. die an der Wolga unmittelbar nach ihrer Einwanderung — 1764 — aus 23000 Köpfen bestanden, haben sie sich, dank dem Überfluß von Acker und Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/417>, abgerufen am 28.09.2024.