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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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-Schon hierdurch wird verständlich, daß diese Kolonien -- wenigstens in den
letzten fünfzehn Jahren -- fast gar nicht öffentlich besprochen worden sind.
Früher war ihr Name fortwährend in den russischen Zeitungen zu finden, wo
sie von den Verkündigern des Gemeindebesitzes, die mehr oder weniger auch
Anhänger der Ideen der Sozialdemokratie sind, als Paradepferd und "un¬
widerlegbarer Beweis der Richtigkeit ihrer Ansichten" dem Publikum vor¬
geritten wurden. Diese Herren sind aber still geworden, seit ihnen das dunkle
Gegenteil ihrer Behauptungen durch die Thatsache bewiesen wurde, daß gerade
die Lage der Wolgakolonisten das vernichtendste Urteil über den russischen
Gemeindebesitz und die Hirngespinste der Sozialdemokra.tie fällt; seitdem ver¬
mieden sie es, die Wolgakolonien überhaupt noch zu erwähnen. Bei der
Wichtigkeit der Sache wollen wir uns aber hier etwas eingehender mit
ihnen befassen.

Es ist überflüssig, hier alles das zu wiederholen, was früher von den
Verteidigern des teilbaren Gemeindebesitzes behauptet worden ist. Ihrer
Meinung nach lag in diesem Gemeindebesitz der unwiderlegliche Beweis, daß
das russische Volk ganz andre Anlagen habe, als alle übrigen Völker der
Welt, namentlich die westeuropäischen, und daß es hierdurch auch befähigt sei,
die sozialen Fragen, die anderwärts seit Jahrtausenden zu Kampf und Streit
zwischen den verschiednen Klasse" geführt haben, ruhig und ohne Kampf
zu lösen. Andre Leute aber, die durch lange Beobachtung den russischen
Bauer genau kannten und dabei die Sache vollkommen nüchtern betrachteten,
waren der Meinung, daß die gesamte russische Bauern- und Volkswirtschaft
in den Kinderschuhen stecken geblieben sei, und daß Nußland früher oder
später unvermeidlich den schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krisen ent¬
gegengehen werde, für deren Ausgang hauptsächlich entscheidend sei, wie
die Sache behandelt würde. Diese zwei Ansichten standen sich jahrzehntelang
-- hauptsächlich während der Regierung Alexanders II. -- unversöhnlich gegen¬
über, bis den Verteidigern des kommunistischen Gemeindebesitzes namentlich
von ausländischen Gelehrten klar und deutlich bewiesen wurde, daß diese
primitive Besitzform schon überall bestanden habe, also von einer be¬
sondern russischen Agrarverfasfuug gar nicht die Rede sein könne, und bis
dann auch die fürchterlichen Verwüstungen auf dem wirtschaftlichen wie auf
dem sittlichen Gebiet bei allen diesen Bauern und Kolonisten nicht mehr
zu leugnen waren. Obgleich diese nun zur größten Vorsicht mahnten, hörten
die Anhänger des Gemeindebesitzes, denen vor allem daran lag, die Gutsbesitzer
zu ruimren und als Stand aus der Welt zu schaffen, mit ihrem Hetzen und
ihren Treibereien nicht eher auf, als bis ihnen am Tage nach der Ermordung
Alexanders II. energisch das Handwerk gelegt wurde. Infolge dessen war es
während der vorigen Negierung nicht allein in der Presse über diese Sache
ziemlich ruhig, sondern die Bauern bequemten sich auch nach der Erklärung


-Schon hierdurch wird verständlich, daß diese Kolonien — wenigstens in den
letzten fünfzehn Jahren — fast gar nicht öffentlich besprochen worden sind.
Früher war ihr Name fortwährend in den russischen Zeitungen zu finden, wo
sie von den Verkündigern des Gemeindebesitzes, die mehr oder weniger auch
Anhänger der Ideen der Sozialdemokratie sind, als Paradepferd und „un¬
widerlegbarer Beweis der Richtigkeit ihrer Ansichten" dem Publikum vor¬
geritten wurden. Diese Herren sind aber still geworden, seit ihnen das dunkle
Gegenteil ihrer Behauptungen durch die Thatsache bewiesen wurde, daß gerade
die Lage der Wolgakolonisten das vernichtendste Urteil über den russischen
Gemeindebesitz und die Hirngespinste der Sozialdemokra.tie fällt; seitdem ver¬
mieden sie es, die Wolgakolonien überhaupt noch zu erwähnen. Bei der
Wichtigkeit der Sache wollen wir uns aber hier etwas eingehender mit
ihnen befassen.

Es ist überflüssig, hier alles das zu wiederholen, was früher von den
Verteidigern des teilbaren Gemeindebesitzes behauptet worden ist. Ihrer
Meinung nach lag in diesem Gemeindebesitz der unwiderlegliche Beweis, daß
das russische Volk ganz andre Anlagen habe, als alle übrigen Völker der
Welt, namentlich die westeuropäischen, und daß es hierdurch auch befähigt sei,
die sozialen Fragen, die anderwärts seit Jahrtausenden zu Kampf und Streit
zwischen den verschiednen Klasse» geführt haben, ruhig und ohne Kampf
zu lösen. Andre Leute aber, die durch lange Beobachtung den russischen
Bauer genau kannten und dabei die Sache vollkommen nüchtern betrachteten,
waren der Meinung, daß die gesamte russische Bauern- und Volkswirtschaft
in den Kinderschuhen stecken geblieben sei, und daß Nußland früher oder
später unvermeidlich den schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krisen ent¬
gegengehen werde, für deren Ausgang hauptsächlich entscheidend sei, wie
die Sache behandelt würde. Diese zwei Ansichten standen sich jahrzehntelang
— hauptsächlich während der Regierung Alexanders II. — unversöhnlich gegen¬
über, bis den Verteidigern des kommunistischen Gemeindebesitzes namentlich
von ausländischen Gelehrten klar und deutlich bewiesen wurde, daß diese
primitive Besitzform schon überall bestanden habe, also von einer be¬
sondern russischen Agrarverfasfuug gar nicht die Rede sein könne, und bis
dann auch die fürchterlichen Verwüstungen auf dem wirtschaftlichen wie auf
dem sittlichen Gebiet bei allen diesen Bauern und Kolonisten nicht mehr
zu leugnen waren. Obgleich diese nun zur größten Vorsicht mahnten, hörten
die Anhänger des Gemeindebesitzes, denen vor allem daran lag, die Gutsbesitzer
zu ruimren und als Stand aus der Welt zu schaffen, mit ihrem Hetzen und
ihren Treibereien nicht eher auf, als bis ihnen am Tage nach der Ermordung
Alexanders II. energisch das Handwerk gelegt wurde. Infolge dessen war es
während der vorigen Negierung nicht allein in der Presse über diese Sache
ziemlich ruhig, sondern die Bauern bequemten sich auch nach der Erklärung


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[0416] -Schon hierdurch wird verständlich, daß diese Kolonien — wenigstens in den letzten fünfzehn Jahren — fast gar nicht öffentlich besprochen worden sind. Früher war ihr Name fortwährend in den russischen Zeitungen zu finden, wo sie von den Verkündigern des Gemeindebesitzes, die mehr oder weniger auch Anhänger der Ideen der Sozialdemokratie sind, als Paradepferd und „un¬ widerlegbarer Beweis der Richtigkeit ihrer Ansichten" dem Publikum vor¬ geritten wurden. Diese Herren sind aber still geworden, seit ihnen das dunkle Gegenteil ihrer Behauptungen durch die Thatsache bewiesen wurde, daß gerade die Lage der Wolgakolonisten das vernichtendste Urteil über den russischen Gemeindebesitz und die Hirngespinste der Sozialdemokra.tie fällt; seitdem ver¬ mieden sie es, die Wolgakolonien überhaupt noch zu erwähnen. Bei der Wichtigkeit der Sache wollen wir uns aber hier etwas eingehender mit ihnen befassen. Es ist überflüssig, hier alles das zu wiederholen, was früher von den Verteidigern des teilbaren Gemeindebesitzes behauptet worden ist. Ihrer Meinung nach lag in diesem Gemeindebesitz der unwiderlegliche Beweis, daß das russische Volk ganz andre Anlagen habe, als alle übrigen Völker der Welt, namentlich die westeuropäischen, und daß es hierdurch auch befähigt sei, die sozialen Fragen, die anderwärts seit Jahrtausenden zu Kampf und Streit zwischen den verschiednen Klasse» geführt haben, ruhig und ohne Kampf zu lösen. Andre Leute aber, die durch lange Beobachtung den russischen Bauer genau kannten und dabei die Sache vollkommen nüchtern betrachteten, waren der Meinung, daß die gesamte russische Bauern- und Volkswirtschaft in den Kinderschuhen stecken geblieben sei, und daß Nußland früher oder später unvermeidlich den schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krisen ent¬ gegengehen werde, für deren Ausgang hauptsächlich entscheidend sei, wie die Sache behandelt würde. Diese zwei Ansichten standen sich jahrzehntelang — hauptsächlich während der Regierung Alexanders II. — unversöhnlich gegen¬ über, bis den Verteidigern des kommunistischen Gemeindebesitzes namentlich von ausländischen Gelehrten klar und deutlich bewiesen wurde, daß diese primitive Besitzform schon überall bestanden habe, also von einer be¬ sondern russischen Agrarverfasfuug gar nicht die Rede sein könne, und bis dann auch die fürchterlichen Verwüstungen auf dem wirtschaftlichen wie auf dem sittlichen Gebiet bei allen diesen Bauern und Kolonisten nicht mehr zu leugnen waren. Obgleich diese nun zur größten Vorsicht mahnten, hörten die Anhänger des Gemeindebesitzes, denen vor allem daran lag, die Gutsbesitzer zu ruimren und als Stand aus der Welt zu schaffen, mit ihrem Hetzen und ihren Treibereien nicht eher auf, als bis ihnen am Tage nach der Ermordung Alexanders II. energisch das Handwerk gelegt wurde. Infolge dessen war es während der vorigen Negierung nicht allein in der Presse über diese Sache ziemlich ruhig, sondern die Bauern bequemten sich auch nach der Erklärung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/416>, abgerufen am 29.06.2024.