Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Gemeindebesitz mit der dazu gehörigen solidarischen Haftbarkeit nicht allein
tausende von Zeitungsartikeln, sondern auch zahllose Broschüren und sehr viele
dicke Bücher geschrieben worden, aber es läßt sich nicht behaupten, daß hier¬
durch die Masse des russischen -- namentlich des städtischen und gelehrten --
Publikums über diese für Rußland so außerordentlich wichtige Frage so weit
ins Klare gekommen wäre, daß sie wüßte, was unbedingt geschehen muß,
wenn der russischen Land- und Volkswirtschaft überhaupt geholfen werden soll.
Vergleicht man mit der Lage der russischen Bauern die der polnischen, lettischen,
chemischen, finnischen und deutschen Bauern (Kolonisten) des Reiches, die den
russischen Gemeindebesitz nicht kennen, so ist die Beantwortung der Frage, bei
Berücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sich diese entwickelt haben,
ziemlich leicht, aber derartige Vergleiche suchen die Verteidiger des Gemeinde¬
besitzes so viel als möglich zu vermeiden. Namentlich ist das gegenwärtig
bei den deutschen Kolonisten der Fall, die die Agrarverfassung der russischen
Bauern gleich bei ihrer Einwanderung unter den denkbar günstigsten Verhält¬
nissen, vollkommen frei, mit riesigem Besitz des wunderbarsten Bodens, un¬
mittelbar an dem größten europäischen Fluß bei kaum nennenswerten Zahlungen
und vielen wichtigen Privilegien angenommen haben. Von dieser Klasse der
deutschen Kolonisten wohnen die meisten in den nur durch die Wolga ge¬
trennten beiden Gouvernements Ssaratow und Ssamara. Hier läßt sich
-- strenge und unparteiische Untersuchung vorausgesetzt -- nicht allein er¬
kennen, was Rußland ohne Frage zu erwarten hätte, wenn es auch ferner bei
dem frühern beliebig teilbaren Gemeindebesitz bleiben wollte, sondern auch,
was aus der Menschheit überhaupt werden würde, wenn einmal die Ideen der
Sozialdemokraten allgemein durchgeführt werden sollten. Dadurch erhält das,
was sich seit 134 Jahren in diesen Kolonien vollzogen hat, auch sür die ge¬
samte übrige Welt eine mehr als gewöhnliche Bedeutung, und man könnte
sich wundern, daß eine offne Besprechung der dortigen Zustände und Lage
bisher unterblieben ist, wenn man nicht die Gründe kennte.

Zuerst ist es ganz natürlich, daß die intelligenten Kreise und Personen
in diesen Kolonien nicht wünschten, daß etwas von den unangenehmen Dingen,
die dort geschehen, in die Öffentlichkeit dränge, obgleich gerade sie am meisten
unter dem Terrorismus der Masse zu leiden hatten. Solange es irgend
möglich war, wurde über die eigentliche Lage der Dinge -- hauptsächlich seit
Verleihung der Selbstverwaltung -- peinlich geschwiegen, und man suchte
den frühern günstigen Ruf möglichst zu erhalten. Dann gab es wenige außer¬
halb der Kolonie, die die Lage und Entwicklung der dortigen Zustände hin¬
reichend kannten oder zum Gegenstand ernster Untersuchung machten, und diese
wenigen schwiegen wieder aus dem einen oder dem andern Grunde; und für
die Westeuropäer lagen die Wohnsitze dieser Kolonisten, fast an der astatischen
Grenze, allzu entfernt, als daß man sie eingehender hätte untersuchen können.


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Gemeindebesitz mit der dazu gehörigen solidarischen Haftbarkeit nicht allein
tausende von Zeitungsartikeln, sondern auch zahllose Broschüren und sehr viele
dicke Bücher geschrieben worden, aber es läßt sich nicht behaupten, daß hier¬
durch die Masse des russischen — namentlich des städtischen und gelehrten —
Publikums über diese für Rußland so außerordentlich wichtige Frage so weit
ins Klare gekommen wäre, daß sie wüßte, was unbedingt geschehen muß,
wenn der russischen Land- und Volkswirtschaft überhaupt geholfen werden soll.
Vergleicht man mit der Lage der russischen Bauern die der polnischen, lettischen,
chemischen, finnischen und deutschen Bauern (Kolonisten) des Reiches, die den
russischen Gemeindebesitz nicht kennen, so ist die Beantwortung der Frage, bei
Berücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sich diese entwickelt haben,
ziemlich leicht, aber derartige Vergleiche suchen die Verteidiger des Gemeinde¬
besitzes so viel als möglich zu vermeiden. Namentlich ist das gegenwärtig
bei den deutschen Kolonisten der Fall, die die Agrarverfassung der russischen
Bauern gleich bei ihrer Einwanderung unter den denkbar günstigsten Verhält¬
nissen, vollkommen frei, mit riesigem Besitz des wunderbarsten Bodens, un¬
mittelbar an dem größten europäischen Fluß bei kaum nennenswerten Zahlungen
und vielen wichtigen Privilegien angenommen haben. Von dieser Klasse der
deutschen Kolonisten wohnen die meisten in den nur durch die Wolga ge¬
trennten beiden Gouvernements Ssaratow und Ssamara. Hier läßt sich
— strenge und unparteiische Untersuchung vorausgesetzt — nicht allein er¬
kennen, was Rußland ohne Frage zu erwarten hätte, wenn es auch ferner bei
dem frühern beliebig teilbaren Gemeindebesitz bleiben wollte, sondern auch,
was aus der Menschheit überhaupt werden würde, wenn einmal die Ideen der
Sozialdemokraten allgemein durchgeführt werden sollten. Dadurch erhält das,
was sich seit 134 Jahren in diesen Kolonien vollzogen hat, auch sür die ge¬
samte übrige Welt eine mehr als gewöhnliche Bedeutung, und man könnte
sich wundern, daß eine offne Besprechung der dortigen Zustände und Lage
bisher unterblieben ist, wenn man nicht die Gründe kennte.

Zuerst ist es ganz natürlich, daß die intelligenten Kreise und Personen
in diesen Kolonien nicht wünschten, daß etwas von den unangenehmen Dingen,
die dort geschehen, in die Öffentlichkeit dränge, obgleich gerade sie am meisten
unter dem Terrorismus der Masse zu leiden hatten. Solange es irgend
möglich war, wurde über die eigentliche Lage der Dinge — hauptsächlich seit
Verleihung der Selbstverwaltung — peinlich geschwiegen, und man suchte
den frühern günstigen Ruf möglichst zu erhalten. Dann gab es wenige außer¬
halb der Kolonie, die die Lage und Entwicklung der dortigen Zustände hin¬
reichend kannten oder zum Gegenstand ernster Untersuchung machten, und diese
wenigen schwiegen wieder aus dem einen oder dem andern Grunde; und für
die Westeuropäer lagen die Wohnsitze dieser Kolonisten, fast an der astatischen
Grenze, allzu entfernt, als daß man sie eingehender hätte untersuchen können.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0415" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226645"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutschen Kolonisten an der Wolga</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1024" prev="#ID_1023"> Gemeindebesitz mit der dazu gehörigen solidarischen Haftbarkeit nicht allein<lb/>
tausende von Zeitungsartikeln, sondern auch zahllose Broschüren und sehr viele<lb/>
dicke Bücher geschrieben worden, aber es läßt sich nicht behaupten, daß hier¬<lb/>
durch die Masse des russischen &#x2014; namentlich des städtischen und gelehrten &#x2014;<lb/>
Publikums über diese für Rußland so außerordentlich wichtige Frage so weit<lb/>
ins Klare gekommen wäre, daß sie wüßte, was unbedingt geschehen muß,<lb/>
wenn der russischen Land- und Volkswirtschaft überhaupt geholfen werden soll.<lb/>
Vergleicht man mit der Lage der russischen Bauern die der polnischen, lettischen,<lb/>
chemischen, finnischen und deutschen Bauern (Kolonisten) des Reiches, die den<lb/>
russischen Gemeindebesitz nicht kennen, so ist die Beantwortung der Frage, bei<lb/>
Berücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sich diese entwickelt haben,<lb/>
ziemlich leicht, aber derartige Vergleiche suchen die Verteidiger des Gemeinde¬<lb/>
besitzes so viel als möglich zu vermeiden. Namentlich ist das gegenwärtig<lb/>
bei den deutschen Kolonisten der Fall, die die Agrarverfassung der russischen<lb/>
Bauern gleich bei ihrer Einwanderung unter den denkbar günstigsten Verhält¬<lb/>
nissen, vollkommen frei, mit riesigem Besitz des wunderbarsten Bodens, un¬<lb/>
mittelbar an dem größten europäischen Fluß bei kaum nennenswerten Zahlungen<lb/>
und vielen wichtigen Privilegien angenommen haben. Von dieser Klasse der<lb/>
deutschen Kolonisten wohnen die meisten in den nur durch die Wolga ge¬<lb/>
trennten beiden Gouvernements Ssaratow und Ssamara. Hier läßt sich<lb/>
&#x2014; strenge und unparteiische Untersuchung vorausgesetzt &#x2014; nicht allein er¬<lb/>
kennen, was Rußland ohne Frage zu erwarten hätte, wenn es auch ferner bei<lb/>
dem frühern beliebig teilbaren Gemeindebesitz bleiben wollte, sondern auch,<lb/>
was aus der Menschheit überhaupt werden würde, wenn einmal die Ideen der<lb/>
Sozialdemokraten allgemein durchgeführt werden sollten. Dadurch erhält das,<lb/>
was sich seit 134 Jahren in diesen Kolonien vollzogen hat, auch sür die ge¬<lb/>
samte übrige Welt eine mehr als gewöhnliche Bedeutung, und man könnte<lb/>
sich wundern, daß eine offne Besprechung der dortigen Zustände und Lage<lb/>
bisher unterblieben ist, wenn man nicht die Gründe kennte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1025" next="#ID_1026"> Zuerst ist es ganz natürlich, daß die intelligenten Kreise und Personen<lb/>
in diesen Kolonien nicht wünschten, daß etwas von den unangenehmen Dingen,<lb/>
die dort geschehen, in die Öffentlichkeit dränge, obgleich gerade sie am meisten<lb/>
unter dem Terrorismus der Masse zu leiden hatten. Solange es irgend<lb/>
möglich war, wurde über die eigentliche Lage der Dinge &#x2014; hauptsächlich seit<lb/>
Verleihung der Selbstverwaltung &#x2014; peinlich geschwiegen, und man suchte<lb/>
den frühern günstigen Ruf möglichst zu erhalten. Dann gab es wenige außer¬<lb/>
halb der Kolonie, die die Lage und Entwicklung der dortigen Zustände hin¬<lb/>
reichend kannten oder zum Gegenstand ernster Untersuchung machten, und diese<lb/>
wenigen schwiegen wieder aus dem einen oder dem andern Grunde; und für<lb/>
die Westeuropäer lagen die Wohnsitze dieser Kolonisten, fast an der astatischen<lb/>
Grenze, allzu entfernt, als daß man sie eingehender hätte untersuchen können.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0415] Die deutschen Kolonisten an der Wolga Gemeindebesitz mit der dazu gehörigen solidarischen Haftbarkeit nicht allein tausende von Zeitungsartikeln, sondern auch zahllose Broschüren und sehr viele dicke Bücher geschrieben worden, aber es läßt sich nicht behaupten, daß hier¬ durch die Masse des russischen — namentlich des städtischen und gelehrten — Publikums über diese für Rußland so außerordentlich wichtige Frage so weit ins Klare gekommen wäre, daß sie wüßte, was unbedingt geschehen muß, wenn der russischen Land- und Volkswirtschaft überhaupt geholfen werden soll. Vergleicht man mit der Lage der russischen Bauern die der polnischen, lettischen, chemischen, finnischen und deutschen Bauern (Kolonisten) des Reiches, die den russischen Gemeindebesitz nicht kennen, so ist die Beantwortung der Frage, bei Berücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sich diese entwickelt haben, ziemlich leicht, aber derartige Vergleiche suchen die Verteidiger des Gemeinde¬ besitzes so viel als möglich zu vermeiden. Namentlich ist das gegenwärtig bei den deutschen Kolonisten der Fall, die die Agrarverfassung der russischen Bauern gleich bei ihrer Einwanderung unter den denkbar günstigsten Verhält¬ nissen, vollkommen frei, mit riesigem Besitz des wunderbarsten Bodens, un¬ mittelbar an dem größten europäischen Fluß bei kaum nennenswerten Zahlungen und vielen wichtigen Privilegien angenommen haben. Von dieser Klasse der deutschen Kolonisten wohnen die meisten in den nur durch die Wolga ge¬ trennten beiden Gouvernements Ssaratow und Ssamara. Hier läßt sich — strenge und unparteiische Untersuchung vorausgesetzt — nicht allein er¬ kennen, was Rußland ohne Frage zu erwarten hätte, wenn es auch ferner bei dem frühern beliebig teilbaren Gemeindebesitz bleiben wollte, sondern auch, was aus der Menschheit überhaupt werden würde, wenn einmal die Ideen der Sozialdemokraten allgemein durchgeführt werden sollten. Dadurch erhält das, was sich seit 134 Jahren in diesen Kolonien vollzogen hat, auch sür die ge¬ samte übrige Welt eine mehr als gewöhnliche Bedeutung, und man könnte sich wundern, daß eine offne Besprechung der dortigen Zustände und Lage bisher unterblieben ist, wenn man nicht die Gründe kennte. Zuerst ist es ganz natürlich, daß die intelligenten Kreise und Personen in diesen Kolonien nicht wünschten, daß etwas von den unangenehmen Dingen, die dort geschehen, in die Öffentlichkeit dränge, obgleich gerade sie am meisten unter dem Terrorismus der Masse zu leiden hatten. Solange es irgend möglich war, wurde über die eigentliche Lage der Dinge — hauptsächlich seit Verleihung der Selbstverwaltung — peinlich geschwiegen, und man suchte den frühern günstigen Ruf möglichst zu erhalten. Dann gab es wenige außer¬ halb der Kolonie, die die Lage und Entwicklung der dortigen Zustände hin¬ reichend kannten oder zum Gegenstand ernster Untersuchung machten, und diese wenigen schwiegen wieder aus dem einen oder dem andern Grunde; und für die Westeuropäer lagen die Wohnsitze dieser Kolonisten, fast an der astatischen Grenze, allzu entfernt, als daß man sie eingehender hätte untersuchen können.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/415
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/415>, abgerufen am 28.09.2024.