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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

auf eine andre Stelle des russischen Reiches gehen, zeigt zur Genüge, daß es
sich um etwas ganz andres handelt, als in der Nachricht behauptet wird,
denn sonst würden sie wohl sonst wohin, nur nicht wieder in russische Ge¬
biete gehen.

In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß die russische Regierung -- vor¬
läufig im europäischen Rußland -- nicht mehr den Versorger des Nach¬
wuchses der Bauern, wie während der vergangnen Jahrhunderte, spielen will,
und daß sie von ihren Bauern verlangt, daß sie wie jeder andre die Sorge
um die Zukunft ihrer Kinder selbst übernehmen. Wegen dieser Forderung, die
sich im westlichen Europa auch für den kleinsten Bauer ganz von selbst ver¬
steht, hat es unter den russischen Bauern und ihren Freunden schon seit mehr
als dreißig Jahren Jammern und Klagen ohne Ende gegeben, und nur die
Hoffnung darauf, daß die Regierung in Sibirien auch ferner den Nachwuchs
mit Grundbesitz ausstatten werde, ist bei der großen Mehrzahl der Auswandrer
der Grund, daß sie ihrer bisherigen Heimat den Rücken kehren.

Was die "Sorge um die Zukunft der Kinder" im westlichen Europa
heißt, braucht hier nicht weiter auseinandergesetzt zu werden; von der Schwere
dieser Sorge hat aber die Masse der Kolonisten an der Wolga bis vor einigen
Jahrzehnten ebensowenig eine Vorstellung gehabt, wie alle im Gemeindebesitz
lebenden russischen Bauern. Bis zu der Aufhebung der Leibeigenschaft und
dem Selbständigmachen dieser Bauern hatten deren Herren, also entweder die
Krone oder die Gutsbesitzer, thatsächlich die Verpflichtung, für die Zukunft
der Bauern und ihrer Kinder zu sorgen. Während unter Verhältnissen, wie
sie im westlichen Europa bestehen, viele Kinder gewöhnlich als eine Last und
unter Umstünden als der Ruin der Eltern betrachtet werden, hatten die Herren
Väter unter den russischen Bauern und den Kolonisten, die die Agrarverfassung
der Bauern -- teilbaren Gemeindebesitz mit solidarischer Haftbarkeit --
angenommen hatten, von vielen Kindern -- hauptsächlich Knaben -- den
größten Vorteil. Dank dieser Agrarverfassung, bei der jedem zur Gemeinde
gehörigen, ohne die geringste Rücksicht auf seine geistigen und sittlichen Eigen¬
schaften, auf jeden in seiner Familie vorhandnen männlichen Kopf der gleiche
Lcindcmtcil zugemessen wurde, konnte auch der verkommenste Lump, dem es
Zeit seines ganzen Lebens nicht eingefallen war, nur einen Finger zu rühren,
zum Großgrundbesitzer werden, wenn er nur das Glück hatte, recht viele
Jungen zu haben. Unter den neuern Kolonien oder "Anstedlungen" an der
Wolga, wie sie in den ältern oder Stammkolonien allgemein genannt werden,
sind verschiedne, wo noch in der neuern Zeit auf den männlichen Kopf bis
30 Deßjatinen zu 4,23 preußische Morgen, auf zehn männliche Köpfe in einer
Familie -- was heute noch durchaus nichts seltnes ist -- also 300 Deßjatinen
gleich 1284 Morgen kamen.

Es sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft für und wider den russischen


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

auf eine andre Stelle des russischen Reiches gehen, zeigt zur Genüge, daß es
sich um etwas ganz andres handelt, als in der Nachricht behauptet wird,
denn sonst würden sie wohl sonst wohin, nur nicht wieder in russische Ge¬
biete gehen.

In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß die russische Regierung — vor¬
läufig im europäischen Rußland — nicht mehr den Versorger des Nach¬
wuchses der Bauern, wie während der vergangnen Jahrhunderte, spielen will,
und daß sie von ihren Bauern verlangt, daß sie wie jeder andre die Sorge
um die Zukunft ihrer Kinder selbst übernehmen. Wegen dieser Forderung, die
sich im westlichen Europa auch für den kleinsten Bauer ganz von selbst ver¬
steht, hat es unter den russischen Bauern und ihren Freunden schon seit mehr
als dreißig Jahren Jammern und Klagen ohne Ende gegeben, und nur die
Hoffnung darauf, daß die Regierung in Sibirien auch ferner den Nachwuchs
mit Grundbesitz ausstatten werde, ist bei der großen Mehrzahl der Auswandrer
der Grund, daß sie ihrer bisherigen Heimat den Rücken kehren.

Was die „Sorge um die Zukunft der Kinder" im westlichen Europa
heißt, braucht hier nicht weiter auseinandergesetzt zu werden; von der Schwere
dieser Sorge hat aber die Masse der Kolonisten an der Wolga bis vor einigen
Jahrzehnten ebensowenig eine Vorstellung gehabt, wie alle im Gemeindebesitz
lebenden russischen Bauern. Bis zu der Aufhebung der Leibeigenschaft und
dem Selbständigmachen dieser Bauern hatten deren Herren, also entweder die
Krone oder die Gutsbesitzer, thatsächlich die Verpflichtung, für die Zukunft
der Bauern und ihrer Kinder zu sorgen. Während unter Verhältnissen, wie
sie im westlichen Europa bestehen, viele Kinder gewöhnlich als eine Last und
unter Umstünden als der Ruin der Eltern betrachtet werden, hatten die Herren
Väter unter den russischen Bauern und den Kolonisten, die die Agrarverfassung
der Bauern — teilbaren Gemeindebesitz mit solidarischer Haftbarkeit —
angenommen hatten, von vielen Kindern — hauptsächlich Knaben — den
größten Vorteil. Dank dieser Agrarverfassung, bei der jedem zur Gemeinde
gehörigen, ohne die geringste Rücksicht auf seine geistigen und sittlichen Eigen¬
schaften, auf jeden in seiner Familie vorhandnen männlichen Kopf der gleiche
Lcindcmtcil zugemessen wurde, konnte auch der verkommenste Lump, dem es
Zeit seines ganzen Lebens nicht eingefallen war, nur einen Finger zu rühren,
zum Großgrundbesitzer werden, wenn er nur das Glück hatte, recht viele
Jungen zu haben. Unter den neuern Kolonien oder „Anstedlungen" an der
Wolga, wie sie in den ältern oder Stammkolonien allgemein genannt werden,
sind verschiedne, wo noch in der neuern Zeit auf den männlichen Kopf bis
30 Deßjatinen zu 4,23 preußische Morgen, auf zehn männliche Köpfe in einer
Familie — was heute noch durchaus nichts seltnes ist — also 300 Deßjatinen
gleich 1284 Morgen kamen.

Es sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft für und wider den russischen


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[0414] Die deutschen Kolonisten an der Wolga auf eine andre Stelle des russischen Reiches gehen, zeigt zur Genüge, daß es sich um etwas ganz andres handelt, als in der Nachricht behauptet wird, denn sonst würden sie wohl sonst wohin, nur nicht wieder in russische Ge¬ biete gehen. In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß die russische Regierung — vor¬ läufig im europäischen Rußland — nicht mehr den Versorger des Nach¬ wuchses der Bauern, wie während der vergangnen Jahrhunderte, spielen will, und daß sie von ihren Bauern verlangt, daß sie wie jeder andre die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder selbst übernehmen. Wegen dieser Forderung, die sich im westlichen Europa auch für den kleinsten Bauer ganz von selbst ver¬ steht, hat es unter den russischen Bauern und ihren Freunden schon seit mehr als dreißig Jahren Jammern und Klagen ohne Ende gegeben, und nur die Hoffnung darauf, daß die Regierung in Sibirien auch ferner den Nachwuchs mit Grundbesitz ausstatten werde, ist bei der großen Mehrzahl der Auswandrer der Grund, daß sie ihrer bisherigen Heimat den Rücken kehren. Was die „Sorge um die Zukunft der Kinder" im westlichen Europa heißt, braucht hier nicht weiter auseinandergesetzt zu werden; von der Schwere dieser Sorge hat aber die Masse der Kolonisten an der Wolga bis vor einigen Jahrzehnten ebensowenig eine Vorstellung gehabt, wie alle im Gemeindebesitz lebenden russischen Bauern. Bis zu der Aufhebung der Leibeigenschaft und dem Selbständigmachen dieser Bauern hatten deren Herren, also entweder die Krone oder die Gutsbesitzer, thatsächlich die Verpflichtung, für die Zukunft der Bauern und ihrer Kinder zu sorgen. Während unter Verhältnissen, wie sie im westlichen Europa bestehen, viele Kinder gewöhnlich als eine Last und unter Umstünden als der Ruin der Eltern betrachtet werden, hatten die Herren Väter unter den russischen Bauern und den Kolonisten, die die Agrarverfassung der Bauern — teilbaren Gemeindebesitz mit solidarischer Haftbarkeit — angenommen hatten, von vielen Kindern — hauptsächlich Knaben — den größten Vorteil. Dank dieser Agrarverfassung, bei der jedem zur Gemeinde gehörigen, ohne die geringste Rücksicht auf seine geistigen und sittlichen Eigen¬ schaften, auf jeden in seiner Familie vorhandnen männlichen Kopf der gleiche Lcindcmtcil zugemessen wurde, konnte auch der verkommenste Lump, dem es Zeit seines ganzen Lebens nicht eingefallen war, nur einen Finger zu rühren, zum Großgrundbesitzer werden, wenn er nur das Glück hatte, recht viele Jungen zu haben. Unter den neuern Kolonien oder „Anstedlungen" an der Wolga, wie sie in den ältern oder Stammkolonien allgemein genannt werden, sind verschiedne, wo noch in der neuern Zeit auf den männlichen Kopf bis 30 Deßjatinen zu 4,23 preußische Morgen, auf zehn männliche Köpfe in einer Familie — was heute noch durchaus nichts seltnes ist — also 300 Deßjatinen gleich 1284 Morgen kamen. Es sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft für und wider den russischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/414>, abgerufen am 28.09.2024.