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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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England und Deutschland

merksam, daß es sich überlegen möge, ob es durch solche Erwerbungen auch
stärker gegen seine wirklichen Feinde werde. Und jedesmal, sobald Frankreichs
Rachegefühl und Mißtrauen schwächer zu werden scheinen, und es sich mehr
der Kolonisation widmet, erklingt von England her die milde Mahnung, doch
ja nicht die Feinde jenseits der Vogesen zu vergessen. Solche für England ja
berechtigte, für den Kontinent aber recht unangenehme Politik nicht erkannt
zu haben, hat Europa schon viel Blut gekostet, dem weisen England aber zu
manchem schönen Preise, z. B. zu Cypern und Ägypten verholfen. Das
Traurige dabei ist nur, daß uicht bloß der, der solchen Anregungen nachgiebt,
zur Strafe dafür leidet, sondern daß auch der Angegriffne dabei mit für
Englands Vorteil bluten muß.

In ganz andrer Weise behandelt die deutschfeindliche Lawrä-^ lisviev
vom 11. September d. I. das Verhältnis Englands zu Deutschland. Sie
erwähnt zunächst, daß Fürst Bismarck Rußland als ungefährlich für Deutsch¬
land ansehe, solange es sich noch auf dem Wege zum Mittelmeer durch die
Türkei hindurch befinde, während er Frankreich nach dem Kriege von Deutsch¬
land abgelenkt habe, indem er zu Ferry sagte: "Sucht euch Entschädigung,
gründet Kolonien; nehmt außerhalb Europas, was ihr wollt; ihr könnt es
haben." Frankreich habe darauf in Tunis und Tonkin ungehindert zugegriffen,
und während Rußland im Süden und Osten beschäftigt gewesen sei, habe
Deutschland ruhig auf seinen Schätzen sitzen können, habe seine Kaufleute
sich an Englands Handel vergreifen lassen und durch seine Diplomaten die
englischen zu fortwährenden Zänkereien mit allen Ländern gebracht. Dann
führt die Lawrcla^ R-soie^v fort: "Fürst Bismarck hat schon lange erkannt,
was in England das Volk schließlich zu verstehen anfängt, daß es in Europa
zwei große, unversöhnliche Gegner giebt, zwei große Nationen, die die ganze
Welt sich unterthänig machen und von ihr den Handelsgewinn allein beziehen
möchten. Es sind das England, das mit seiner langen Geschichte von erfolg¬
reichen Eroberungen überzeugt ist, daß es bei der Verfolgung seines eignen
Vorteils zugleich den noch in Dunkelheit wandelnden Völkern das Licht der
Kultur bringt, und das Stamm- und blutsverwandte Deutschland, das zwar
geringere Willenskraft, aber vielleicht mehr durchdringenden Verstand hat.
Beide wetteifern an allen Punkten der Erde. Überall, in Transvaal, am Kap,
in Zentralafrika, in Indien, im fernen Osten, auf den Inseln der Südsee und
im äußersten Nordwesten, wo immer dem Missionar die Flagge und der Flagge
der Handel gefolgt ist, ringt der deutsche Handelsmann mit dem englischen
Hausirer. Wo eine Mine auszubeuten, eine Eisenbahn zu bauen, ein Ein-
geborner vom Genuß der Brotfrucht zu dem des Fleisches in Blechdosen, von
Mäßigkeit zum Schnapsverbrauch zu bekehren ist, da kämpfen der Engländer
und der Deutsche um den Vorrang. So schafft eine Million kleiner Nörge¬
leien schließlich einen so bedeutenden Grund zum Kriege, wie ihn die Welt


England und Deutschland

merksam, daß es sich überlegen möge, ob es durch solche Erwerbungen auch
stärker gegen seine wirklichen Feinde werde. Und jedesmal, sobald Frankreichs
Rachegefühl und Mißtrauen schwächer zu werden scheinen, und es sich mehr
der Kolonisation widmet, erklingt von England her die milde Mahnung, doch
ja nicht die Feinde jenseits der Vogesen zu vergessen. Solche für England ja
berechtigte, für den Kontinent aber recht unangenehme Politik nicht erkannt
zu haben, hat Europa schon viel Blut gekostet, dem weisen England aber zu
manchem schönen Preise, z. B. zu Cypern und Ägypten verholfen. Das
Traurige dabei ist nur, daß uicht bloß der, der solchen Anregungen nachgiebt,
zur Strafe dafür leidet, sondern daß auch der Angegriffne dabei mit für
Englands Vorteil bluten muß.

In ganz andrer Weise behandelt die deutschfeindliche Lawrä-^ lisviev
vom 11. September d. I. das Verhältnis Englands zu Deutschland. Sie
erwähnt zunächst, daß Fürst Bismarck Rußland als ungefährlich für Deutsch¬
land ansehe, solange es sich noch auf dem Wege zum Mittelmeer durch die
Türkei hindurch befinde, während er Frankreich nach dem Kriege von Deutsch¬
land abgelenkt habe, indem er zu Ferry sagte: „Sucht euch Entschädigung,
gründet Kolonien; nehmt außerhalb Europas, was ihr wollt; ihr könnt es
haben." Frankreich habe darauf in Tunis und Tonkin ungehindert zugegriffen,
und während Rußland im Süden und Osten beschäftigt gewesen sei, habe
Deutschland ruhig auf seinen Schätzen sitzen können, habe seine Kaufleute
sich an Englands Handel vergreifen lassen und durch seine Diplomaten die
englischen zu fortwährenden Zänkereien mit allen Ländern gebracht. Dann
führt die Lawrcla^ R-soie^v fort: „Fürst Bismarck hat schon lange erkannt,
was in England das Volk schließlich zu verstehen anfängt, daß es in Europa
zwei große, unversöhnliche Gegner giebt, zwei große Nationen, die die ganze
Welt sich unterthänig machen und von ihr den Handelsgewinn allein beziehen
möchten. Es sind das England, das mit seiner langen Geschichte von erfolg¬
reichen Eroberungen überzeugt ist, daß es bei der Verfolgung seines eignen
Vorteils zugleich den noch in Dunkelheit wandelnden Völkern das Licht der
Kultur bringt, und das Stamm- und blutsverwandte Deutschland, das zwar
geringere Willenskraft, aber vielleicht mehr durchdringenden Verstand hat.
Beide wetteifern an allen Punkten der Erde. Überall, in Transvaal, am Kap,
in Zentralafrika, in Indien, im fernen Osten, auf den Inseln der Südsee und
im äußersten Nordwesten, wo immer dem Missionar die Flagge und der Flagge
der Handel gefolgt ist, ringt der deutsche Handelsmann mit dem englischen
Hausirer. Wo eine Mine auszubeuten, eine Eisenbahn zu bauen, ein Ein-
geborner vom Genuß der Brotfrucht zu dem des Fleisches in Blechdosen, von
Mäßigkeit zum Schnapsverbrauch zu bekehren ist, da kämpfen der Engländer
und der Deutsche um den Vorrang. So schafft eine Million kleiner Nörge¬
leien schließlich einen so bedeutenden Grund zum Kriege, wie ihn die Welt


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[0410] England und Deutschland merksam, daß es sich überlegen möge, ob es durch solche Erwerbungen auch stärker gegen seine wirklichen Feinde werde. Und jedesmal, sobald Frankreichs Rachegefühl und Mißtrauen schwächer zu werden scheinen, und es sich mehr der Kolonisation widmet, erklingt von England her die milde Mahnung, doch ja nicht die Feinde jenseits der Vogesen zu vergessen. Solche für England ja berechtigte, für den Kontinent aber recht unangenehme Politik nicht erkannt zu haben, hat Europa schon viel Blut gekostet, dem weisen England aber zu manchem schönen Preise, z. B. zu Cypern und Ägypten verholfen. Das Traurige dabei ist nur, daß uicht bloß der, der solchen Anregungen nachgiebt, zur Strafe dafür leidet, sondern daß auch der Angegriffne dabei mit für Englands Vorteil bluten muß. In ganz andrer Weise behandelt die deutschfeindliche Lawrä-^ lisviev vom 11. September d. I. das Verhältnis Englands zu Deutschland. Sie erwähnt zunächst, daß Fürst Bismarck Rußland als ungefährlich für Deutsch¬ land ansehe, solange es sich noch auf dem Wege zum Mittelmeer durch die Türkei hindurch befinde, während er Frankreich nach dem Kriege von Deutsch¬ land abgelenkt habe, indem er zu Ferry sagte: „Sucht euch Entschädigung, gründet Kolonien; nehmt außerhalb Europas, was ihr wollt; ihr könnt es haben." Frankreich habe darauf in Tunis und Tonkin ungehindert zugegriffen, und während Rußland im Süden und Osten beschäftigt gewesen sei, habe Deutschland ruhig auf seinen Schätzen sitzen können, habe seine Kaufleute sich an Englands Handel vergreifen lassen und durch seine Diplomaten die englischen zu fortwährenden Zänkereien mit allen Ländern gebracht. Dann führt die Lawrcla^ R-soie^v fort: „Fürst Bismarck hat schon lange erkannt, was in England das Volk schließlich zu verstehen anfängt, daß es in Europa zwei große, unversöhnliche Gegner giebt, zwei große Nationen, die die ganze Welt sich unterthänig machen und von ihr den Handelsgewinn allein beziehen möchten. Es sind das England, das mit seiner langen Geschichte von erfolg¬ reichen Eroberungen überzeugt ist, daß es bei der Verfolgung seines eignen Vorteils zugleich den noch in Dunkelheit wandelnden Völkern das Licht der Kultur bringt, und das Stamm- und blutsverwandte Deutschland, das zwar geringere Willenskraft, aber vielleicht mehr durchdringenden Verstand hat. Beide wetteifern an allen Punkten der Erde. Überall, in Transvaal, am Kap, in Zentralafrika, in Indien, im fernen Osten, auf den Inseln der Südsee und im äußersten Nordwesten, wo immer dem Missionar die Flagge und der Flagge der Handel gefolgt ist, ringt der deutsche Handelsmann mit dem englischen Hausirer. Wo eine Mine auszubeuten, eine Eisenbahn zu bauen, ein Ein- geborner vom Genuß der Brotfrucht zu dem des Fleisches in Blechdosen, von Mäßigkeit zum Schnapsverbrauch zu bekehren ist, da kämpfen der Engländer und der Deutsche um den Vorrang. So schafft eine Million kleiner Nörge¬ leien schließlich einen so bedeutenden Grund zum Kriege, wie ihn die Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/410>, abgerufen am 28.09.2024.