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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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es stets ein großer Kummer und eine wahrhafte Demütigung für eine Nation
ist, sich Land und Leute nehmen zu lassen und diese von einem andern Herren
regiert zu sehen. Der Irrtum der Franzosen besteht darin, daß sie sich ein¬
bilden, Europa betrachte ihre Absichten auf Ägypten in demselben Lichte, wie
es den wohlbegründeten Kummer Frankreichs und sein Verlangen nach seinen
Verlornen Provinzen ansieht. Es ist falsch von Frankreich, anzunehmen, daß
Europa dies natürliche und unvermeidliche Sehnen mit der erkünstelten,
sentimentalen Sehnsucht der Republik nach Ägypten verwechseln könne, seine
Armeen rüsten und Geld und Blut dazu hergeben werde, Frankreich bei der
Verdrängung Englands aus Ägypten zu helfen. Frankreich sieht nicht ein, daß
es in Europa keine Nation giebt, die das geringste wirkliche Interesse daran
haben könnte, ob England in Ägypten bleibt oder nicht. Ägypten selbst hat
wenig zu bedeuten, Englands Interesse am Suezkanal ist nur ein Handels¬
interesse, das von niemand bedroht wird und auch von niemand bedroht werden
kann. Das Öffnen und Schließen der Dardanellen ist etwas ganz andres, es
ist von höchster militärischer Wichtigkeit und unbestreitbarem Interesse sür
jedermann."

Daß Englands Interesse am Suezkanal zur Zeit von keiner Macht be¬
droht werden kann, ist richtig, obgleich man in England nicht fest darauf
rechnet, daß er im Kriegsfalle stets offen bleiben werde, und deshalb die süd¬
afrikanischen Häfen stärker armirt und mit größern Dockanlagen versieht. Für
die andern Ansichten und Wünsche der I'iingZ müssen die Gläubigen Wohl in
England selbst gesucht werden.

Die ^ray ana Mvy clÄMtts vom 2. Oktober warnt Frankreich, die
Dienstzeit in der Armee zu vermindern und seine Wehrkraft an der Ostgrenze
durch Gründung von Neuformationen an dieser bedrohten Stelle zu schwächen.
Dann schreibt sie weiter: "England ist nicht ohne Mitgefühl für Frankreich,
und es ist durchaus nicht im Interesse Englands, eine weitere Verminderung
der Kampffähigkeit Frankreichs mit anzusehen. England und Frankreich haben
keinen Grund, mit Eifersucht oder Furcht sich gegenseitig in der Entwicklung
der Seemacht des einen und der Landmacht des andern Staates zu überwachen.
Mit Bedauern sieht England, daß die abnehmende Bevölkerung von vierzig
Millionen in Frankreich anfängt, nicht mehr fähig zu sein, es mit den zu¬
nehmenden fünfzig Millionen Deutschlands aufzunehmen." Schließlich wird
die Hoffnung ausgesprochen, daß die zur Volksverminderung in Frankreich trei¬
benden Ideen durch vernünftigere werden ersetzt werden, damit die Franzosen
wieder wie früher die Zr^nah nation sein können. Das ist schon wirkliche
englische Weltpolitik, und der Gedanke, daß ein kräftig und ausdauernd ge¬
führter Krieg zwischen Frankreich und Deutschland die Interessen Englands
fördere, ist sehr aufrichtig darin ausgesprochen. Schon 1894 machte der
KtanäMä bei Gelegenheit der Erwerbung Madagaskars Frankreich darauf auf-


es stets ein großer Kummer und eine wahrhafte Demütigung für eine Nation
ist, sich Land und Leute nehmen zu lassen und diese von einem andern Herren
regiert zu sehen. Der Irrtum der Franzosen besteht darin, daß sie sich ein¬
bilden, Europa betrachte ihre Absichten auf Ägypten in demselben Lichte, wie
es den wohlbegründeten Kummer Frankreichs und sein Verlangen nach seinen
Verlornen Provinzen ansieht. Es ist falsch von Frankreich, anzunehmen, daß
Europa dies natürliche und unvermeidliche Sehnen mit der erkünstelten,
sentimentalen Sehnsucht der Republik nach Ägypten verwechseln könne, seine
Armeen rüsten und Geld und Blut dazu hergeben werde, Frankreich bei der
Verdrängung Englands aus Ägypten zu helfen. Frankreich sieht nicht ein, daß
es in Europa keine Nation giebt, die das geringste wirkliche Interesse daran
haben könnte, ob England in Ägypten bleibt oder nicht. Ägypten selbst hat
wenig zu bedeuten, Englands Interesse am Suezkanal ist nur ein Handels¬
interesse, das von niemand bedroht wird und auch von niemand bedroht werden
kann. Das Öffnen und Schließen der Dardanellen ist etwas ganz andres, es
ist von höchster militärischer Wichtigkeit und unbestreitbarem Interesse sür
jedermann."

Daß Englands Interesse am Suezkanal zur Zeit von keiner Macht be¬
droht werden kann, ist richtig, obgleich man in England nicht fest darauf
rechnet, daß er im Kriegsfalle stets offen bleiben werde, und deshalb die süd¬
afrikanischen Häfen stärker armirt und mit größern Dockanlagen versieht. Für
die andern Ansichten und Wünsche der I'iingZ müssen die Gläubigen Wohl in
England selbst gesucht werden.

Die ^ray ana Mvy clÄMtts vom 2. Oktober warnt Frankreich, die
Dienstzeit in der Armee zu vermindern und seine Wehrkraft an der Ostgrenze
durch Gründung von Neuformationen an dieser bedrohten Stelle zu schwächen.
Dann schreibt sie weiter: „England ist nicht ohne Mitgefühl für Frankreich,
und es ist durchaus nicht im Interesse Englands, eine weitere Verminderung
der Kampffähigkeit Frankreichs mit anzusehen. England und Frankreich haben
keinen Grund, mit Eifersucht oder Furcht sich gegenseitig in der Entwicklung
der Seemacht des einen und der Landmacht des andern Staates zu überwachen.
Mit Bedauern sieht England, daß die abnehmende Bevölkerung von vierzig
Millionen in Frankreich anfängt, nicht mehr fähig zu sein, es mit den zu¬
nehmenden fünfzig Millionen Deutschlands aufzunehmen." Schließlich wird
die Hoffnung ausgesprochen, daß die zur Volksverminderung in Frankreich trei¬
benden Ideen durch vernünftigere werden ersetzt werden, damit die Franzosen
wieder wie früher die Zr^nah nation sein können. Das ist schon wirkliche
englische Weltpolitik, und der Gedanke, daß ein kräftig und ausdauernd ge¬
führter Krieg zwischen Frankreich und Deutschland die Interessen Englands
fördere, ist sehr aufrichtig darin ausgesprochen. Schon 1894 machte der
KtanäMä bei Gelegenheit der Erwerbung Madagaskars Frankreich darauf auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/409>, abgerufen am 29.06.2024.