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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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England und Deutschland

Spaniens und Portugals auf kolonialen und auf dem Seehandelsgebiet, und
schließlich wurde während der großen Kriege auf dem Kontinent im Anfang
dieses Jahrhunderts Frankreichs Seemacht und Handel lahm gelegt und mit
der riesigen Vergrößerung der eignen Kolonien begonnen. Je mehr die Mächte
des Festlands in Krieg und Zwist verwickelt waren, um so leichter hatte es
Großbritannien, ein Stück der Erde nach dem andern für seinen Volksüber¬
schuß zu erwerben und seiner Industrie immer neue Absatzgebiete zu sichern.
Sein Hcinptmittel war die rücksichtslose Ausnutzung seiner Seeherrschaft,
während die andern Staaten der Seemacht zu wenig Beachtung schenken
konnten. Rußlands noch unentwickelte Kraft und seine Stellung zur Türkei,
die durch innere Unruhen verursachte Selbstbeschränkung in der auswärtigen
Politik der Vereinigten Staaten, die Vielstaaterei in Deutschland und später
sein gespanntes Verhältnis mit Frankreich begünstigten die ungeheure Aus¬
dehnung der britischen Kolonial- und Seemacht. Frankreichs Feindseligkeit
gegen Deutschland, die beide Staaten in ihrer auswärtigen Politik und in der
Machtentfaltung zur See hinderte, ist der beste Mitarbeiter sür Englands
Größe gewesen. Die Sorge Englands um die Fortdauer solcher Spannungen
zwischen den Großmächten des Kontinents ist nicht zu verkennen. Sein ge¬
fährlichster Gegner, der in Indien den Reichtum des Jnselreichs bedrohen
kann, Nußland, scheint sich nicht recht in europäischen Wirren fesseln zu
lassen.

England zu regieren wird durch das Verständnis seiner Volksvertretung
und seiner Gebildeten für die auswärtige Politik und für die Bedeutung der
Seeherrschaft als Grund des Wohlstands der ganzen Nation sehr erleichtert.
Englands Missionare, Beamte, Kaufleute und Offiziere arbeiten alle im Sinne
der Weltpolitik im Auslande mit, ohne die Reibungen in und außer Dienst
zu kennen, die bei uns leider oft vorkommen, oder sie gar bis zur Schädigung
der Staatsinteressen anwachsen zu lassen. Es bedürfte 1889 und 1897 nur
des Hinweises, daß andre Nationen nach mehr Seemacht strebten als bisher,
und daß Englands Seeherrschaft gegenüber jeder denkbaren Vereinigung andrer
Mächte nicht mehr völlig außer Frage sei, um weitgehende, zum Teil sür
mehrere Jahre im voraus gesicherte Geldbewilligungen für Neubauten von
Kriegsschiffen zu erlangen. Dieses Jahr hat das Volk selbst die Admiralität
zur Vergrößerung der Flotte gedrängt. Als Lohn seiner Seeherrschaft und
Politik hat Großbritannien während der sechzigjärigen Negierung seiner
Königin um neun Millionen englische Quadratmeilen um Landbesitz und gegen
zweihundert Millionen Unterthanen zugenommen. Es ist jetzt das größte
Weltreich; das Geld seiner unternehmungslustigen Kaufleute und sein Handel
beherrschen den Weltverkehr, seine Kabel umspannen die Erde und werden in
Kriegszeiten nur für englische Interessen arbeiten; an allen Hauptverkehrs¬
straßen hat England Festungen und Flvttenstationen. Aber das alles genügt


England und Deutschland

Spaniens und Portugals auf kolonialen und auf dem Seehandelsgebiet, und
schließlich wurde während der großen Kriege auf dem Kontinent im Anfang
dieses Jahrhunderts Frankreichs Seemacht und Handel lahm gelegt und mit
der riesigen Vergrößerung der eignen Kolonien begonnen. Je mehr die Mächte
des Festlands in Krieg und Zwist verwickelt waren, um so leichter hatte es
Großbritannien, ein Stück der Erde nach dem andern für seinen Volksüber¬
schuß zu erwerben und seiner Industrie immer neue Absatzgebiete zu sichern.
Sein Hcinptmittel war die rücksichtslose Ausnutzung seiner Seeherrschaft,
während die andern Staaten der Seemacht zu wenig Beachtung schenken
konnten. Rußlands noch unentwickelte Kraft und seine Stellung zur Türkei,
die durch innere Unruhen verursachte Selbstbeschränkung in der auswärtigen
Politik der Vereinigten Staaten, die Vielstaaterei in Deutschland und später
sein gespanntes Verhältnis mit Frankreich begünstigten die ungeheure Aus¬
dehnung der britischen Kolonial- und Seemacht. Frankreichs Feindseligkeit
gegen Deutschland, die beide Staaten in ihrer auswärtigen Politik und in der
Machtentfaltung zur See hinderte, ist der beste Mitarbeiter sür Englands
Größe gewesen. Die Sorge Englands um die Fortdauer solcher Spannungen
zwischen den Großmächten des Kontinents ist nicht zu verkennen. Sein ge¬
fährlichster Gegner, der in Indien den Reichtum des Jnselreichs bedrohen
kann, Nußland, scheint sich nicht recht in europäischen Wirren fesseln zu
lassen.

England zu regieren wird durch das Verständnis seiner Volksvertretung
und seiner Gebildeten für die auswärtige Politik und für die Bedeutung der
Seeherrschaft als Grund des Wohlstands der ganzen Nation sehr erleichtert.
Englands Missionare, Beamte, Kaufleute und Offiziere arbeiten alle im Sinne
der Weltpolitik im Auslande mit, ohne die Reibungen in und außer Dienst
zu kennen, die bei uns leider oft vorkommen, oder sie gar bis zur Schädigung
der Staatsinteressen anwachsen zu lassen. Es bedürfte 1889 und 1897 nur
des Hinweises, daß andre Nationen nach mehr Seemacht strebten als bisher,
und daß Englands Seeherrschaft gegenüber jeder denkbaren Vereinigung andrer
Mächte nicht mehr völlig außer Frage sei, um weitgehende, zum Teil sür
mehrere Jahre im voraus gesicherte Geldbewilligungen für Neubauten von
Kriegsschiffen zu erlangen. Dieses Jahr hat das Volk selbst die Admiralität
zur Vergrößerung der Flotte gedrängt. Als Lohn seiner Seeherrschaft und
Politik hat Großbritannien während der sechzigjärigen Negierung seiner
Königin um neun Millionen englische Quadratmeilen um Landbesitz und gegen
zweihundert Millionen Unterthanen zugenommen. Es ist jetzt das größte
Weltreich; das Geld seiner unternehmungslustigen Kaufleute und sein Handel
beherrschen den Weltverkehr, seine Kabel umspannen die Erde und werden in
Kriegszeiten nur für englische Interessen arbeiten; an allen Hauptverkehrs¬
straßen hat England Festungen und Flvttenstationen. Aber das alles genügt


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[0405] England und Deutschland Spaniens und Portugals auf kolonialen und auf dem Seehandelsgebiet, und schließlich wurde während der großen Kriege auf dem Kontinent im Anfang dieses Jahrhunderts Frankreichs Seemacht und Handel lahm gelegt und mit der riesigen Vergrößerung der eignen Kolonien begonnen. Je mehr die Mächte des Festlands in Krieg und Zwist verwickelt waren, um so leichter hatte es Großbritannien, ein Stück der Erde nach dem andern für seinen Volksüber¬ schuß zu erwerben und seiner Industrie immer neue Absatzgebiete zu sichern. Sein Hcinptmittel war die rücksichtslose Ausnutzung seiner Seeherrschaft, während die andern Staaten der Seemacht zu wenig Beachtung schenken konnten. Rußlands noch unentwickelte Kraft und seine Stellung zur Türkei, die durch innere Unruhen verursachte Selbstbeschränkung in der auswärtigen Politik der Vereinigten Staaten, die Vielstaaterei in Deutschland und später sein gespanntes Verhältnis mit Frankreich begünstigten die ungeheure Aus¬ dehnung der britischen Kolonial- und Seemacht. Frankreichs Feindseligkeit gegen Deutschland, die beide Staaten in ihrer auswärtigen Politik und in der Machtentfaltung zur See hinderte, ist der beste Mitarbeiter sür Englands Größe gewesen. Die Sorge Englands um die Fortdauer solcher Spannungen zwischen den Großmächten des Kontinents ist nicht zu verkennen. Sein ge¬ fährlichster Gegner, der in Indien den Reichtum des Jnselreichs bedrohen kann, Nußland, scheint sich nicht recht in europäischen Wirren fesseln zu lassen. England zu regieren wird durch das Verständnis seiner Volksvertretung und seiner Gebildeten für die auswärtige Politik und für die Bedeutung der Seeherrschaft als Grund des Wohlstands der ganzen Nation sehr erleichtert. Englands Missionare, Beamte, Kaufleute und Offiziere arbeiten alle im Sinne der Weltpolitik im Auslande mit, ohne die Reibungen in und außer Dienst zu kennen, die bei uns leider oft vorkommen, oder sie gar bis zur Schädigung der Staatsinteressen anwachsen zu lassen. Es bedürfte 1889 und 1897 nur des Hinweises, daß andre Nationen nach mehr Seemacht strebten als bisher, und daß Englands Seeherrschaft gegenüber jeder denkbaren Vereinigung andrer Mächte nicht mehr völlig außer Frage sei, um weitgehende, zum Teil sür mehrere Jahre im voraus gesicherte Geldbewilligungen für Neubauten von Kriegsschiffen zu erlangen. Dieses Jahr hat das Volk selbst die Admiralität zur Vergrößerung der Flotte gedrängt. Als Lohn seiner Seeherrschaft und Politik hat Großbritannien während der sechzigjärigen Negierung seiner Königin um neun Millionen englische Quadratmeilen um Landbesitz und gegen zweihundert Millionen Unterthanen zugenommen. Es ist jetzt das größte Weltreich; das Geld seiner unternehmungslustigen Kaufleute und sein Handel beherrschen den Weltverkehr, seine Kabel umspannen die Erde und werden in Kriegszeiten nur für englische Interessen arbeiten; an allen Hauptverkehrs¬ straßen hat England Festungen und Flvttenstationen. Aber das alles genügt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/405>, abgerufen am 29.06.2024.