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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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England und Deutschland

eigne Opfer lieber durch Kämpfe andrer Völker unter einander zu erreichen
suchen, um als tsi-tius ^nasus die Früchte dieser Kämpfe einzuheimsen. Oft
genügt es der weisen Weltpolitik schon, zwei starke Gegner durch Eifersucht
und gegenseitiges Mißtrauen so zu binden, daß sie keine Freiheit haben, sich
mit der Außenwelt zu beschäftigen. Trägt auch die rücksichtslose Verfolgung
des eignen Vorteils der Weltmacht oft genug den Vorwurf der Vergewaltigung
schwächerer Staaten ein, so wird sie sich doch leicht darüber hinwegsetzen, wenn
sie glaubt, einer etwaigen thätigen Parteinahme andrer Staaten für den un¬
gerecht behandelten Kleinen gewachsen zu sein.

Aber nicht allein der bewohnbare Raum der Erde ist der steten Begehr¬
lichkeit der Weltpolitik einer Großmacht unterworfen, sondern auch das Haupt¬
mittel zum Wohlstand der Völker, der Handel. Ein in Industrie und Handel
starker Auslandstaat wird dadurch zu einem Gegner, der mit allen Mitteln
bekämpft werden muß. In dem sogenannten friedlichen Wettkampf der Völker
wird mit Freihandel und Schutz- und Vorzugszöllen, mit Musterschutz und
Schutzlosigkeit, mit Verkehrserleichterungen, Hemmungen und Sperren usw. ge¬
hörig gestritten. Die Mittel, die bei dem Kampf um Absatzgebiete der Industrie an¬
gewandt werden, würden in dem Verkehr der einzelnen Kaufleute der Bezeichnung
unreell nicht entgehen. Weltpvlitik und Handelspolitik sind von einander kaum
trennbar, beiden gebührt wegen ihrer Wichtigkeit für das allgemeine Wohl das
volle Interesse aller Bürger und vor allem aller Gebildeten. Erfolgreiche
Weltpolitik, auch wenn sie mehr, als es gewöhnlich geschieht, der Stimme des
Rechts und der Billigkeit Gehör giebt, kann aber nur durchgeführt werden,
wenn im Volke Verständnis für das eigne Wohl, für seine Zukunft und für
die Politik fremder Staaten vorhanden ist. Im Altertum war es die Pflicht
aller Bürger der kleinen Kulturstaaten, sich an der Politik zu beteiligen, in
Ländern mit altem Kolonialbesitz, wie in Frankreich und England, hat noch
die Mehrzahl der Gebildeten Verständnis für äußere Politik, in Deutschland
haben es nur wenige, und leider nicht einmal die Hälfte der eigentlichen Poli¬
tiker, wenn man die parlamentarischen Streiter um innere Reichsangelegenheiten
so nennen kann. Die so unpolitisch denkende Mehrheit hat sogar ein Grauen
vor Weltpolitik und möchte die Negierung gern davon fern halten; sie hat
zwar für offenbare Ungerechtigkeiten in der Handlungsweise andrer Staaten
bisweilen etwas Unwillen übrig, hat aber durchaus kein Verständnis sür die
Pläne und Endziele unsrer drei Weltmächte: England, Rußland und der Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas.

Ein Muster der erfolgreichen Durchführung weitschanender Weltpolitik ist
Englands Politik in den letzten Jahrhunderten. Das benachbarte kleine Holland
wurde zunächst mit Frankreichs Hilfe zu Grunde gerichtet, nicht weil es Eng¬
land besonders feindlich gesinnt war, sondern weil sein Seehandel damals im
Vergleich zu dem englischen zu stark war. Dann folgte die Erdrückuug


England und Deutschland

eigne Opfer lieber durch Kämpfe andrer Völker unter einander zu erreichen
suchen, um als tsi-tius ^nasus die Früchte dieser Kämpfe einzuheimsen. Oft
genügt es der weisen Weltpolitik schon, zwei starke Gegner durch Eifersucht
und gegenseitiges Mißtrauen so zu binden, daß sie keine Freiheit haben, sich
mit der Außenwelt zu beschäftigen. Trägt auch die rücksichtslose Verfolgung
des eignen Vorteils der Weltmacht oft genug den Vorwurf der Vergewaltigung
schwächerer Staaten ein, so wird sie sich doch leicht darüber hinwegsetzen, wenn
sie glaubt, einer etwaigen thätigen Parteinahme andrer Staaten für den un¬
gerecht behandelten Kleinen gewachsen zu sein.

Aber nicht allein der bewohnbare Raum der Erde ist der steten Begehr¬
lichkeit der Weltpolitik einer Großmacht unterworfen, sondern auch das Haupt¬
mittel zum Wohlstand der Völker, der Handel. Ein in Industrie und Handel
starker Auslandstaat wird dadurch zu einem Gegner, der mit allen Mitteln
bekämpft werden muß. In dem sogenannten friedlichen Wettkampf der Völker
wird mit Freihandel und Schutz- und Vorzugszöllen, mit Musterschutz und
Schutzlosigkeit, mit Verkehrserleichterungen, Hemmungen und Sperren usw. ge¬
hörig gestritten. Die Mittel, die bei dem Kampf um Absatzgebiete der Industrie an¬
gewandt werden, würden in dem Verkehr der einzelnen Kaufleute der Bezeichnung
unreell nicht entgehen. Weltpvlitik und Handelspolitik sind von einander kaum
trennbar, beiden gebührt wegen ihrer Wichtigkeit für das allgemeine Wohl das
volle Interesse aller Bürger und vor allem aller Gebildeten. Erfolgreiche
Weltpolitik, auch wenn sie mehr, als es gewöhnlich geschieht, der Stimme des
Rechts und der Billigkeit Gehör giebt, kann aber nur durchgeführt werden,
wenn im Volke Verständnis für das eigne Wohl, für seine Zukunft und für
die Politik fremder Staaten vorhanden ist. Im Altertum war es die Pflicht
aller Bürger der kleinen Kulturstaaten, sich an der Politik zu beteiligen, in
Ländern mit altem Kolonialbesitz, wie in Frankreich und England, hat noch
die Mehrzahl der Gebildeten Verständnis für äußere Politik, in Deutschland
haben es nur wenige, und leider nicht einmal die Hälfte der eigentlichen Poli¬
tiker, wenn man die parlamentarischen Streiter um innere Reichsangelegenheiten
so nennen kann. Die so unpolitisch denkende Mehrheit hat sogar ein Grauen
vor Weltpolitik und möchte die Negierung gern davon fern halten; sie hat
zwar für offenbare Ungerechtigkeiten in der Handlungsweise andrer Staaten
bisweilen etwas Unwillen übrig, hat aber durchaus kein Verständnis sür die
Pläne und Endziele unsrer drei Weltmächte: England, Rußland und der Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas.

Ein Muster der erfolgreichen Durchführung weitschanender Weltpolitik ist
Englands Politik in den letzten Jahrhunderten. Das benachbarte kleine Holland
wurde zunächst mit Frankreichs Hilfe zu Grunde gerichtet, nicht weil es Eng¬
land besonders feindlich gesinnt war, sondern weil sein Seehandel damals im
Vergleich zu dem englischen zu stark war. Dann folgte die Erdrückuug


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[0404] England und Deutschland eigne Opfer lieber durch Kämpfe andrer Völker unter einander zu erreichen suchen, um als tsi-tius ^nasus die Früchte dieser Kämpfe einzuheimsen. Oft genügt es der weisen Weltpolitik schon, zwei starke Gegner durch Eifersucht und gegenseitiges Mißtrauen so zu binden, daß sie keine Freiheit haben, sich mit der Außenwelt zu beschäftigen. Trägt auch die rücksichtslose Verfolgung des eignen Vorteils der Weltmacht oft genug den Vorwurf der Vergewaltigung schwächerer Staaten ein, so wird sie sich doch leicht darüber hinwegsetzen, wenn sie glaubt, einer etwaigen thätigen Parteinahme andrer Staaten für den un¬ gerecht behandelten Kleinen gewachsen zu sein. Aber nicht allein der bewohnbare Raum der Erde ist der steten Begehr¬ lichkeit der Weltpolitik einer Großmacht unterworfen, sondern auch das Haupt¬ mittel zum Wohlstand der Völker, der Handel. Ein in Industrie und Handel starker Auslandstaat wird dadurch zu einem Gegner, der mit allen Mitteln bekämpft werden muß. In dem sogenannten friedlichen Wettkampf der Völker wird mit Freihandel und Schutz- und Vorzugszöllen, mit Musterschutz und Schutzlosigkeit, mit Verkehrserleichterungen, Hemmungen und Sperren usw. ge¬ hörig gestritten. Die Mittel, die bei dem Kampf um Absatzgebiete der Industrie an¬ gewandt werden, würden in dem Verkehr der einzelnen Kaufleute der Bezeichnung unreell nicht entgehen. Weltpvlitik und Handelspolitik sind von einander kaum trennbar, beiden gebührt wegen ihrer Wichtigkeit für das allgemeine Wohl das volle Interesse aller Bürger und vor allem aller Gebildeten. Erfolgreiche Weltpolitik, auch wenn sie mehr, als es gewöhnlich geschieht, der Stimme des Rechts und der Billigkeit Gehör giebt, kann aber nur durchgeführt werden, wenn im Volke Verständnis für das eigne Wohl, für seine Zukunft und für die Politik fremder Staaten vorhanden ist. Im Altertum war es die Pflicht aller Bürger der kleinen Kulturstaaten, sich an der Politik zu beteiligen, in Ländern mit altem Kolonialbesitz, wie in Frankreich und England, hat noch die Mehrzahl der Gebildeten Verständnis für äußere Politik, in Deutschland haben es nur wenige, und leider nicht einmal die Hälfte der eigentlichen Poli¬ tiker, wenn man die parlamentarischen Streiter um innere Reichsangelegenheiten so nennen kann. Die so unpolitisch denkende Mehrheit hat sogar ein Grauen vor Weltpolitik und möchte die Negierung gern davon fern halten; sie hat zwar für offenbare Ungerechtigkeiten in der Handlungsweise andrer Staaten bisweilen etwas Unwillen übrig, hat aber durchaus kein Verständnis sür die Pläne und Endziele unsrer drei Weltmächte: England, Rußland und der Ver¬ einigten Staaten Nordamerikas. Ein Muster der erfolgreichen Durchführung weitschanender Weltpolitik ist Englands Politik in den letzten Jahrhunderten. Das benachbarte kleine Holland wurde zunächst mit Frankreichs Hilfe zu Grunde gerichtet, nicht weil es Eng¬ land besonders feindlich gesinnt war, sondern weil sein Seehandel damals im Vergleich zu dem englischen zu stark war. Dann folgte die Erdrückuug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/404>, abgerufen am 29.06.2024.