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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

Hauptwerke") das "erste Hauptstück" überschreibt: Von der Vererbung, und
unter ^ "die wichtigsten Gesetze der Vererbung," d. h. die Hauptsätze der Weis¬
maunischen Theorie, verkündigt, ungefähr so, wie ein Katechismus die Artikel des
Apostolikums, eine Physik die allgemeine Eigenschaften der Körper, ein Lehrbuch
der Logik die Gesetze der Identität und des Widerspruchs voranstellt! Wer
könnte es dem wissenschaftlich gebildeten Leser verargen, wenn er an dieser
Probe von Gewissenhaftigkeit genug hätte und das Buch ungelesen ließe!
Damit würde man diesem jedoch Unrecht thun, es enthält interessantes, wert¬
volles und brauchbares Material; aber der Verdacht, den die dogmatische
Anlage erweckt, daß aus diesem Material willkürliche und leichtfertige Schlüsse
werden gezogen werden, wird allerdings beim Durchlesen vollauf bestätigt.

Im Vorwort berichtet Ammon über die Entstehung seines Buches. Der
Karlsruher Altertumverein hat 1886 eine aus drei Militärärzten und einem
Stadtarzt bestehende anthropologische Kommission eingesetzt, deren Mitglieder
Zur Erforschung der körperlichen Beschaffenheit der badischen Bevölkerung
beim Ersatzgeschäft Aufzeichnungen machen sollten. Ammon wurde zum Schrift¬
führer der Kommission gewählt. Nach Abschluß der Untersuchungen sollen
die Ergebnisse in einem größern Werke veröffentlicht werden. (Ob dieses
schon erschienen ist, wissen wir nicht.) Ammon hat sich zu seiner Sonder¬
arbeit durch den Umstand gedrängt gefühlt, daß ihm die zum Zweck einer
bloßen anthropologischen Statistik unternommenen Untersuchungen "bedeutsame
Fingerzeige über die Gesetze der Vererbung" lieferten, und daß bald auch
Erscheinungen hinzutraten, "die mit unwiderstehlicher Gewalt die natürliche
Auslese beim Menschen in den Vordergrund der Betrachtung rückten." Er
hat, wie man aus gelegentlichen Angaben seines Buches erfährt, die Unter¬
suchungen der Ärzte durch selbständig vorgenommene Prüfungen der Komplexion,
und durch Körper- und Schädelmessungen ergänzt. Der kurzen Angabe des Haupt¬
ergebnisses schicken wir ein paar Worterklürungen voraus, für den Fall, daß
die vorkommenden Kunstausdrücke nicht allen Lesern geläufig wären. Unter
Komplexion verstehen die Anthropologen den Gesamteindruck, den die Augen-,
Haar- und Hautfarbe eines Menschen macht. Jedermann weiß aus seiner
Erfahrung, daß bei uns in Mitteleuropa die reinen Komplexionen, die helle
und die dunkle, verhältnismäßig selten sind. Es kommen eine Unzahl von
Mischungen vor: blonde Haare und braune Augen, braune Haare und blaue
Augen, Augen von ganz unbestimmter Farbe, kohlschwarze Haare und schnee¬
weiße Haut; dabei sind oft auch noch die Haare der verschiednen Körperstellen
verschieden gefärbt. An den Schädeln und Köpfen werden vorzugsweise die



*) Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der anthropologischen
Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und andrer Materialien dargestellt von Otto
Ammon. Jena, Gustav Fischer, 1893.
Anthropologische Fragen

Hauptwerke") das „erste Hauptstück" überschreibt: Von der Vererbung, und
unter ^ „die wichtigsten Gesetze der Vererbung," d. h. die Hauptsätze der Weis¬
maunischen Theorie, verkündigt, ungefähr so, wie ein Katechismus die Artikel des
Apostolikums, eine Physik die allgemeine Eigenschaften der Körper, ein Lehrbuch
der Logik die Gesetze der Identität und des Widerspruchs voranstellt! Wer
könnte es dem wissenschaftlich gebildeten Leser verargen, wenn er an dieser
Probe von Gewissenhaftigkeit genug hätte und das Buch ungelesen ließe!
Damit würde man diesem jedoch Unrecht thun, es enthält interessantes, wert¬
volles und brauchbares Material; aber der Verdacht, den die dogmatische
Anlage erweckt, daß aus diesem Material willkürliche und leichtfertige Schlüsse
werden gezogen werden, wird allerdings beim Durchlesen vollauf bestätigt.

Im Vorwort berichtet Ammon über die Entstehung seines Buches. Der
Karlsruher Altertumverein hat 1886 eine aus drei Militärärzten und einem
Stadtarzt bestehende anthropologische Kommission eingesetzt, deren Mitglieder
Zur Erforschung der körperlichen Beschaffenheit der badischen Bevölkerung
beim Ersatzgeschäft Aufzeichnungen machen sollten. Ammon wurde zum Schrift¬
führer der Kommission gewählt. Nach Abschluß der Untersuchungen sollen
die Ergebnisse in einem größern Werke veröffentlicht werden. (Ob dieses
schon erschienen ist, wissen wir nicht.) Ammon hat sich zu seiner Sonder¬
arbeit durch den Umstand gedrängt gefühlt, daß ihm die zum Zweck einer
bloßen anthropologischen Statistik unternommenen Untersuchungen „bedeutsame
Fingerzeige über die Gesetze der Vererbung" lieferten, und daß bald auch
Erscheinungen hinzutraten, „die mit unwiderstehlicher Gewalt die natürliche
Auslese beim Menschen in den Vordergrund der Betrachtung rückten." Er
hat, wie man aus gelegentlichen Angaben seines Buches erfährt, die Unter¬
suchungen der Ärzte durch selbständig vorgenommene Prüfungen der Komplexion,
und durch Körper- und Schädelmessungen ergänzt. Der kurzen Angabe des Haupt¬
ergebnisses schicken wir ein paar Worterklürungen voraus, für den Fall, daß
die vorkommenden Kunstausdrücke nicht allen Lesern geläufig wären. Unter
Komplexion verstehen die Anthropologen den Gesamteindruck, den die Augen-,
Haar- und Hautfarbe eines Menschen macht. Jedermann weiß aus seiner
Erfahrung, daß bei uns in Mitteleuropa die reinen Komplexionen, die helle
und die dunkle, verhältnismäßig selten sind. Es kommen eine Unzahl von
Mischungen vor: blonde Haare und braune Augen, braune Haare und blaue
Augen, Augen von ganz unbestimmter Farbe, kohlschwarze Haare und schnee¬
weiße Haut; dabei sind oft auch noch die Haare der verschiednen Körperstellen
verschieden gefärbt. An den Schädeln und Köpfen werden vorzugsweise die



*) Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der anthropologischen
Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und andrer Materialien dargestellt von Otto
Ammon. Jena, Gustav Fischer, 1893.
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[0385] Anthropologische Fragen Hauptwerke") das „erste Hauptstück" überschreibt: Von der Vererbung, und unter ^ „die wichtigsten Gesetze der Vererbung," d. h. die Hauptsätze der Weis¬ maunischen Theorie, verkündigt, ungefähr so, wie ein Katechismus die Artikel des Apostolikums, eine Physik die allgemeine Eigenschaften der Körper, ein Lehrbuch der Logik die Gesetze der Identität und des Widerspruchs voranstellt! Wer könnte es dem wissenschaftlich gebildeten Leser verargen, wenn er an dieser Probe von Gewissenhaftigkeit genug hätte und das Buch ungelesen ließe! Damit würde man diesem jedoch Unrecht thun, es enthält interessantes, wert¬ volles und brauchbares Material; aber der Verdacht, den die dogmatische Anlage erweckt, daß aus diesem Material willkürliche und leichtfertige Schlüsse werden gezogen werden, wird allerdings beim Durchlesen vollauf bestätigt. Im Vorwort berichtet Ammon über die Entstehung seines Buches. Der Karlsruher Altertumverein hat 1886 eine aus drei Militärärzten und einem Stadtarzt bestehende anthropologische Kommission eingesetzt, deren Mitglieder Zur Erforschung der körperlichen Beschaffenheit der badischen Bevölkerung beim Ersatzgeschäft Aufzeichnungen machen sollten. Ammon wurde zum Schrift¬ führer der Kommission gewählt. Nach Abschluß der Untersuchungen sollen die Ergebnisse in einem größern Werke veröffentlicht werden. (Ob dieses schon erschienen ist, wissen wir nicht.) Ammon hat sich zu seiner Sonder¬ arbeit durch den Umstand gedrängt gefühlt, daß ihm die zum Zweck einer bloßen anthropologischen Statistik unternommenen Untersuchungen „bedeutsame Fingerzeige über die Gesetze der Vererbung" lieferten, und daß bald auch Erscheinungen hinzutraten, „die mit unwiderstehlicher Gewalt die natürliche Auslese beim Menschen in den Vordergrund der Betrachtung rückten." Er hat, wie man aus gelegentlichen Angaben seines Buches erfährt, die Unter¬ suchungen der Ärzte durch selbständig vorgenommene Prüfungen der Komplexion, und durch Körper- und Schädelmessungen ergänzt. Der kurzen Angabe des Haupt¬ ergebnisses schicken wir ein paar Worterklürungen voraus, für den Fall, daß die vorkommenden Kunstausdrücke nicht allen Lesern geläufig wären. Unter Komplexion verstehen die Anthropologen den Gesamteindruck, den die Augen-, Haar- und Hautfarbe eines Menschen macht. Jedermann weiß aus seiner Erfahrung, daß bei uns in Mitteleuropa die reinen Komplexionen, die helle und die dunkle, verhältnismäßig selten sind. Es kommen eine Unzahl von Mischungen vor: blonde Haare und braune Augen, braune Haare und blaue Augen, Augen von ganz unbestimmter Farbe, kohlschwarze Haare und schnee¬ weiße Haut; dabei sind oft auch noch die Haare der verschiednen Körperstellen verschieden gefärbt. An den Schädeln und Köpfen werden vorzugsweise die *) Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der anthropologischen Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und andrer Materialien dargestellt von Otto Ammon. Jena, Gustav Fischer, 1893.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/385>, abgerufen am 29.06.2024.