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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Koalitionsrecht und Uoalitionspraxis

bildeten mit einem Schlage das allen Ansprüchen genügende Maß politischen
und volkswirtschaftlichen Verständnisses zu teil werde, das den Einzelnen fehlt.
Die Organisation thue alles! Es werden Beispiele angeführt, wo organisirte
Arbeitermassen durch einflußreiche und kluge Führer von Dummheiten abge¬
halten worden sind, während uicht organisirte solche gemacht haben. Andre
Beispiele zeigen, daß durch das lange Bestehen eine Organisation und durch gemein¬
sames Arbeiten bessere Arbeiter gelernt haben, tüchtige Führer von untüchtigen
zu unterscheiden usw. Aber was ist eine solche induktive Beweisführung,
wie sie Rottenburg durch alle die Nummern seines Aufsatzes versucht, wert,
wenn ihr ein induktiver Gegenbeweis mit eiuer viel längern Reihe von Beispielen
gegenübergestellt werden kann, wo die Organisation der Massen am ehesten
durch den Appell an die blinde Leidenschaft und das Vorurteil erreicht worden
ist, wo selbst anfänglich gut geführte Organisationen in kritischen Augenblicken
einem solchen Appell gehorchten, und wo das Bewußtsein der rohen Gewalt
jedes Gefühl für Gerechtigkeit und Billigkeit zum Schweigen, dafür aber Haß,
Neid, Genuß- und Zerstörungssucht zur uneingeschränkten Herrschaft brachte?
Was nützen all die schönen Beispiele von der erziehenden Wirkung des Zu¬
sammenschlusses der Ungebildeten, wenn ihr die Erfahrung gegenübersteht,
daß mit der organisirte" Herrschaft der ungebildeten Masse in allen Kultur¬
staaten der Weltgeschichte nur ein Zustand erreicht wurde, wo Tyrannis und
Sübelherrschaft als die Erlösung vom Übel erschienen? Die Staaten sind keine
Laboratorien, wo experimentirt werden kann, und der Herrgott bewahre unser
Volk davor, daß die modernen Jnduzisten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik
zur Alleinherrschaft gelangen! Der billige Trost, alles Unheil, das durch die
Experimente angerichtet wird, für unangenehme "Begleiterscheinungen" zu er¬
klären, die den großen Geist nicht anfechten dürften, wird nichts helfen, wenn
der gesunde Boden erst unterwühlt, der Gesellschaftsbau aus den Fugen ge¬
bracht ist.

Der Nottenburgsche Aufsatz erwähnt Gewerbe wie den Kohlenbergbau und
den Eisenbahnbetrieb, bei denen der Ausschluß von der schrankenlosen Koali¬
tionsfreiheit wenigstens in Frage kommen könne. Auch den landwirtschaftlichen
Arbeitern scheint er sie nicht ohne weiteres zugestehen zu wollen. Aber die
Gründe, d. h. die Rücksichten auf das Gemeinwohl, die hier die Ausnahmen
rechtfertigen sollen, gelten doch auch für andre Gewerbszweige, je nach der
Lage, d. h. je nach dem, was man in den einzelnen Fällen von der Gesinnung
und der Macht der Arbeiter und ihrer Führer oder auch der Arbeitgeber zu ge¬
wärtigen hat. Wenn die moderne Jnduzistik weiter nichts zuwege bringt, als
die ganz willkürliche Ausscheidung einzelner Arbeiterklassen, bei denen die Sache
wahrscheinlich sehr bald a,ä avsurcluin geführt werden würde, so macht sie sich
einfach lächerlich, zumal bei den Arbeitern selbst, deren gesunder Menschenverstand
das nicht begreifen wird. Solche Fehler machen unsre Herren Staatssozialisten


Koalitionsrecht und Uoalitionspraxis

bildeten mit einem Schlage das allen Ansprüchen genügende Maß politischen
und volkswirtschaftlichen Verständnisses zu teil werde, das den Einzelnen fehlt.
Die Organisation thue alles! Es werden Beispiele angeführt, wo organisirte
Arbeitermassen durch einflußreiche und kluge Führer von Dummheiten abge¬
halten worden sind, während uicht organisirte solche gemacht haben. Andre
Beispiele zeigen, daß durch das lange Bestehen eine Organisation und durch gemein¬
sames Arbeiten bessere Arbeiter gelernt haben, tüchtige Führer von untüchtigen
zu unterscheiden usw. Aber was ist eine solche induktive Beweisführung,
wie sie Rottenburg durch alle die Nummern seines Aufsatzes versucht, wert,
wenn ihr ein induktiver Gegenbeweis mit eiuer viel längern Reihe von Beispielen
gegenübergestellt werden kann, wo die Organisation der Massen am ehesten
durch den Appell an die blinde Leidenschaft und das Vorurteil erreicht worden
ist, wo selbst anfänglich gut geführte Organisationen in kritischen Augenblicken
einem solchen Appell gehorchten, und wo das Bewußtsein der rohen Gewalt
jedes Gefühl für Gerechtigkeit und Billigkeit zum Schweigen, dafür aber Haß,
Neid, Genuß- und Zerstörungssucht zur uneingeschränkten Herrschaft brachte?
Was nützen all die schönen Beispiele von der erziehenden Wirkung des Zu¬
sammenschlusses der Ungebildeten, wenn ihr die Erfahrung gegenübersteht,
daß mit der organisirte» Herrschaft der ungebildeten Masse in allen Kultur¬
staaten der Weltgeschichte nur ein Zustand erreicht wurde, wo Tyrannis und
Sübelherrschaft als die Erlösung vom Übel erschienen? Die Staaten sind keine
Laboratorien, wo experimentirt werden kann, und der Herrgott bewahre unser
Volk davor, daß die modernen Jnduzisten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik
zur Alleinherrschaft gelangen! Der billige Trost, alles Unheil, das durch die
Experimente angerichtet wird, für unangenehme „Begleiterscheinungen" zu er¬
klären, die den großen Geist nicht anfechten dürften, wird nichts helfen, wenn
der gesunde Boden erst unterwühlt, der Gesellschaftsbau aus den Fugen ge¬
bracht ist.

Der Nottenburgsche Aufsatz erwähnt Gewerbe wie den Kohlenbergbau und
den Eisenbahnbetrieb, bei denen der Ausschluß von der schrankenlosen Koali¬
tionsfreiheit wenigstens in Frage kommen könne. Auch den landwirtschaftlichen
Arbeitern scheint er sie nicht ohne weiteres zugestehen zu wollen. Aber die
Gründe, d. h. die Rücksichten auf das Gemeinwohl, die hier die Ausnahmen
rechtfertigen sollen, gelten doch auch für andre Gewerbszweige, je nach der
Lage, d. h. je nach dem, was man in den einzelnen Fällen von der Gesinnung
und der Macht der Arbeiter und ihrer Führer oder auch der Arbeitgeber zu ge¬
wärtigen hat. Wenn die moderne Jnduzistik weiter nichts zuwege bringt, als
die ganz willkürliche Ausscheidung einzelner Arbeiterklassen, bei denen die Sache
wahrscheinlich sehr bald a,ä avsurcluin geführt werden würde, so macht sie sich
einfach lächerlich, zumal bei den Arbeitern selbst, deren gesunder Menschenverstand
das nicht begreifen wird. Solche Fehler machen unsre Herren Staatssozialisten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/380>, abgerufen am 29.06.2024.