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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Uoalitionsrecht und Koalitionspraxis

zur Freude der Sozialdemokraten immer wieder. Sie fangen an, als wollten sie
nach den neu entdeckten Gesetzen des sozialen Lebens die ganze Welt zu Gunsten
des "vierten" Standes umformen, und plötzlich scheuen sie vor den Konsequenzen
zurück. Wie können sie glauben, daß sie so den Sozialdemokraten das Heft
aus den Händen winden werden! Alles, was sie "organisiren," wird nur
Machtzuwachs für Babel und Liebknecht. Die Plänkeleien innerhalb der Sozial-
demokratie, z. B. in der Gewerkschaftsfrage, sollten Leute, die weniger Träumer
sind als Naumann, doch endlich nicht mehr darüber täuschen.

Aber es scheint auch noch andre Träumer zu geben. Die Koalition, so
meint wohl dieser und jener, soll der großen Masse gar nicht zu einer bessern
Lage verhelfen, sie soll eine neue Zunftverfassung schaffen zum besten des
vierten Standes auf Kosten eines neu entstehenden fünften. Dem Hoch auf
den vierten Stand wird dann aber bald das "Vivat der fünfte!" folgen. Schmoller
hat schon vor fünfundzwanzig Jahren erklärt, er schrecke vor einer neuen zünft-
lerischen Organisation der Arbeiter durchaus nicht zurück. Vielleicht wird auch
Rottenburg nicht davor zurückschrecke". Der moderne Jnduzist findet ja den
willkommnen Beweis für die "Gesetzmäßigkeit" dieser Entwicklung jetzt in Eng¬
land. Dort hat es der zünftlerische Terrorismus der Gewerkschaften schon
dahin gebracht, daß die N-z-tiong,! t'rss I^adour ^ssooiation gewaltigen Zulauf
hat von denen, die arbeiten wollen, auch wenn es die Herren Gewerkschaftler
nicht wollen. Auch in Australien, dem herrlichsten Vorbild arbeitsfreundlicher
Wirtschaftspolitik, sind durch die Koalition Minimallöhne durchgesetzt worden
mit der lehrreichen Folge, daß jetzt alle jungen und alle alten, überhaupt
alle nicht ganz leistungsfähigen Arbeiter auf die Straße gesetzt sind und nach
Brot schreien. Ob wirklich jemand diese mustergiltige neue Zuuftorganisation
des vierten Standes im Ernst auch für Deutschland herbeisehnt? Träumen
kann man so etwas, aber praktisch verwirklichen nicht. Wer heute bei uns die
Koalitionsfreiheit der Arbeiter, wenn auch nur im Gewerbe, praktisch durch¬
setzen und dabei dem Staate die Möglichkeit der Aufsicht und des vorbeugenden
Einschreitens bei diesem furchtbar gefährlichen Experiment unmöglich machen
will, der träumt mit offenen Augen, wo nnr die klarste, hellste, nüchternste
/? Wachsamkeit unser Volk vor unheilbaren Schäden bewahren kann.




Uoalitionsrecht und Koalitionspraxis

zur Freude der Sozialdemokraten immer wieder. Sie fangen an, als wollten sie
nach den neu entdeckten Gesetzen des sozialen Lebens die ganze Welt zu Gunsten
des „vierten" Standes umformen, und plötzlich scheuen sie vor den Konsequenzen
zurück. Wie können sie glauben, daß sie so den Sozialdemokraten das Heft
aus den Händen winden werden! Alles, was sie „organisiren," wird nur
Machtzuwachs für Babel und Liebknecht. Die Plänkeleien innerhalb der Sozial-
demokratie, z. B. in der Gewerkschaftsfrage, sollten Leute, die weniger Träumer
sind als Naumann, doch endlich nicht mehr darüber täuschen.

Aber es scheint auch noch andre Träumer zu geben. Die Koalition, so
meint wohl dieser und jener, soll der großen Masse gar nicht zu einer bessern
Lage verhelfen, sie soll eine neue Zunftverfassung schaffen zum besten des
vierten Standes auf Kosten eines neu entstehenden fünften. Dem Hoch auf
den vierten Stand wird dann aber bald das „Vivat der fünfte!" folgen. Schmoller
hat schon vor fünfundzwanzig Jahren erklärt, er schrecke vor einer neuen zünft-
lerischen Organisation der Arbeiter durchaus nicht zurück. Vielleicht wird auch
Rottenburg nicht davor zurückschrecke». Der moderne Jnduzist findet ja den
willkommnen Beweis für die „Gesetzmäßigkeit" dieser Entwicklung jetzt in Eng¬
land. Dort hat es der zünftlerische Terrorismus der Gewerkschaften schon
dahin gebracht, daß die N-z-tiong,! t'rss I^adour ^ssooiation gewaltigen Zulauf
hat von denen, die arbeiten wollen, auch wenn es die Herren Gewerkschaftler
nicht wollen. Auch in Australien, dem herrlichsten Vorbild arbeitsfreundlicher
Wirtschaftspolitik, sind durch die Koalition Minimallöhne durchgesetzt worden
mit der lehrreichen Folge, daß jetzt alle jungen und alle alten, überhaupt
alle nicht ganz leistungsfähigen Arbeiter auf die Straße gesetzt sind und nach
Brot schreien. Ob wirklich jemand diese mustergiltige neue Zuuftorganisation
des vierten Standes im Ernst auch für Deutschland herbeisehnt? Träumen
kann man so etwas, aber praktisch verwirklichen nicht. Wer heute bei uns die
Koalitionsfreiheit der Arbeiter, wenn auch nur im Gewerbe, praktisch durch¬
setzen und dabei dem Staate die Möglichkeit der Aufsicht und des vorbeugenden
Einschreitens bei diesem furchtbar gefährlichen Experiment unmöglich machen
will, der träumt mit offenen Augen, wo nnr die klarste, hellste, nüchternste
/? Wachsamkeit unser Volk vor unheilbaren Schäden bewahren kann.




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[0381] Uoalitionsrecht und Koalitionspraxis zur Freude der Sozialdemokraten immer wieder. Sie fangen an, als wollten sie nach den neu entdeckten Gesetzen des sozialen Lebens die ganze Welt zu Gunsten des „vierten" Standes umformen, und plötzlich scheuen sie vor den Konsequenzen zurück. Wie können sie glauben, daß sie so den Sozialdemokraten das Heft aus den Händen winden werden! Alles, was sie „organisiren," wird nur Machtzuwachs für Babel und Liebknecht. Die Plänkeleien innerhalb der Sozial- demokratie, z. B. in der Gewerkschaftsfrage, sollten Leute, die weniger Träumer sind als Naumann, doch endlich nicht mehr darüber täuschen. Aber es scheint auch noch andre Träumer zu geben. Die Koalition, so meint wohl dieser und jener, soll der großen Masse gar nicht zu einer bessern Lage verhelfen, sie soll eine neue Zunftverfassung schaffen zum besten des vierten Standes auf Kosten eines neu entstehenden fünften. Dem Hoch auf den vierten Stand wird dann aber bald das „Vivat der fünfte!" folgen. Schmoller hat schon vor fünfundzwanzig Jahren erklärt, er schrecke vor einer neuen zünft- lerischen Organisation der Arbeiter durchaus nicht zurück. Vielleicht wird auch Rottenburg nicht davor zurückschrecke». Der moderne Jnduzist findet ja den willkommnen Beweis für die „Gesetzmäßigkeit" dieser Entwicklung jetzt in Eng¬ land. Dort hat es der zünftlerische Terrorismus der Gewerkschaften schon dahin gebracht, daß die N-z-tiong,! t'rss I^adour ^ssooiation gewaltigen Zulauf hat von denen, die arbeiten wollen, auch wenn es die Herren Gewerkschaftler nicht wollen. Auch in Australien, dem herrlichsten Vorbild arbeitsfreundlicher Wirtschaftspolitik, sind durch die Koalition Minimallöhne durchgesetzt worden mit der lehrreichen Folge, daß jetzt alle jungen und alle alten, überhaupt alle nicht ganz leistungsfähigen Arbeiter auf die Straße gesetzt sind und nach Brot schreien. Ob wirklich jemand diese mustergiltige neue Zuuftorganisation des vierten Standes im Ernst auch für Deutschland herbeisehnt? Träumen kann man so etwas, aber praktisch verwirklichen nicht. Wer heute bei uns die Koalitionsfreiheit der Arbeiter, wenn auch nur im Gewerbe, praktisch durch¬ setzen und dabei dem Staate die Möglichkeit der Aufsicht und des vorbeugenden Einschreitens bei diesem furchtbar gefährlichen Experiment unmöglich machen will, der träumt mit offenen Augen, wo nnr die klarste, hellste, nüchternste /? Wachsamkeit unser Volk vor unheilbaren Schäden bewahren kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/381>, abgerufen am 29.06.2024.