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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Koalitionsrecht und Roalitionspraxis

liebe Anerkennung der Koalitionsfreiheit erforderten." Wer die entgegengesetzte
Ansicht vertrete und von einer Freigebung der "gewerblichen" Koalitionen eine
Stärkung der staatsfeindlichen Parteien befürchte, stütze sich auf eine "deduk¬
tive Beweisführung, die mit den Thatsachen der Erfahrung nicht vereinbar"
sei. "Denn diese Thatsachen sind dahin konkludent, daß die heutige Gesell¬
schaft nicht sowohl durch die Anziehungskraft gewisser absurder Vorstellungen
von einer Neugestaltung des Zusammenlebens der Menschen, als vielmehr
durch die repulsirte Kraft bedroht wird, die der Staat immer dann ausübt,
wenn er den Rechtsanschauungen und Bedürfnissen seiner Angehörigen keine
Rechnung trägt." Darin liegt doch aber erst recht kein Beweis; es ist nichts
als eine unerwiesene Behauptung, die zwar als schwere Anklage gegen den
Staat bei den Unzufriednen aller Schattirungen auch ohne Beweis Sympathie
finden wird, aber bei ernsthafter Prüfung der Sache auch bei noch so aus¬
giebiger Deutung und Ausbeutung einzelner Beobachtungen in Vergangenheit
und Gegenwart zum Zweck einer induktiven Beweisführung nicht aufrecht
erhalten werden kann.

Aber der Artikel begnügt sich auch nicht mit dieser unerwiesenen Be¬
hauptung, sondern er fährt fort: "Stehen der Arbeitgeber und der Arbeit¬
nehmer in dem Wettbewerbe um die Bedingungen ihres Daseins vereinzelt
sich gegenüber, so ist die Lage des letztern notwendig die ungünstigere." Er
führt damit eine an sich unumstößliche Wahrheit, freilich in zu allgemeiner
Form und ohne Berücksichtigung der zahlreichen Ausnahmen, ins Treffen,
verschießt aber auch alles Pulver, das die Verfechter des freien Spiels der
Kräfte in dieser Frage auf der Pfanne haben. Für diese Wahrheit einen neuen
Beweis zu bringen, hatte Rottenburg nicht nötig. Alle Beispiele, die er zu
diesem Zweck heranzieht, sind, streng genommen, überflüssiges Beiwerk, das
freilich darüber hinwegtäuschen kann, daß die Regel, deren unantastbare
Richtigkeit es noch unantastbarer zu machen scheint, das gar nicht beweist,
um was es sich handelt. Geht man nämlich näher auf die Forderung ein,
so kann man sich als die Folge ihrer Erfüllung zwei Möglichkeiten vor¬
stellen: erstens, daß die Lage der Arbeiter und Arbeitgeber ins Gleich¬
gewicht gebracht würde, und zweitens, daß die Arbeiter der stärkere Teil
würden. Aber das Gleichgewicht der Kräfte in wirtschaftlichen Kämpfen hat
sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung; es wird sich immer um die Frage
handeln: Wer ist der Stärkste? Und in Wirklichkeit zielt auch das Verlangen
nach möglichst allgemeinem und vollkommnem Zusammenschluß der Arbeiter gar
nicht darauf ab, die Übermacht der Arbeitgeber zu brechen, sondern an ihre
Stelle die Übermacht der Arbeiter zu setzen. Wo auch Koalitionen von
Arbeitern den Kampf gegen verbündete oder vereinzelte Arbeitgeber aufgenommen
haben, immer haben dann die Vertreter des uneingeschränkten Koalitionsrechts
zugleich darnach gestrebt, daß es überall, nicht nur national, sondern wo-


Koalitionsrecht und Roalitionspraxis

liebe Anerkennung der Koalitionsfreiheit erforderten." Wer die entgegengesetzte
Ansicht vertrete und von einer Freigebung der „gewerblichen" Koalitionen eine
Stärkung der staatsfeindlichen Parteien befürchte, stütze sich auf eine „deduk¬
tive Beweisführung, die mit den Thatsachen der Erfahrung nicht vereinbar"
sei. „Denn diese Thatsachen sind dahin konkludent, daß die heutige Gesell¬
schaft nicht sowohl durch die Anziehungskraft gewisser absurder Vorstellungen
von einer Neugestaltung des Zusammenlebens der Menschen, als vielmehr
durch die repulsirte Kraft bedroht wird, die der Staat immer dann ausübt,
wenn er den Rechtsanschauungen und Bedürfnissen seiner Angehörigen keine
Rechnung trägt." Darin liegt doch aber erst recht kein Beweis; es ist nichts
als eine unerwiesene Behauptung, die zwar als schwere Anklage gegen den
Staat bei den Unzufriednen aller Schattirungen auch ohne Beweis Sympathie
finden wird, aber bei ernsthafter Prüfung der Sache auch bei noch so aus¬
giebiger Deutung und Ausbeutung einzelner Beobachtungen in Vergangenheit
und Gegenwart zum Zweck einer induktiven Beweisführung nicht aufrecht
erhalten werden kann.

Aber der Artikel begnügt sich auch nicht mit dieser unerwiesenen Be¬
hauptung, sondern er fährt fort: „Stehen der Arbeitgeber und der Arbeit¬
nehmer in dem Wettbewerbe um die Bedingungen ihres Daseins vereinzelt
sich gegenüber, so ist die Lage des letztern notwendig die ungünstigere." Er
führt damit eine an sich unumstößliche Wahrheit, freilich in zu allgemeiner
Form und ohne Berücksichtigung der zahlreichen Ausnahmen, ins Treffen,
verschießt aber auch alles Pulver, das die Verfechter des freien Spiels der
Kräfte in dieser Frage auf der Pfanne haben. Für diese Wahrheit einen neuen
Beweis zu bringen, hatte Rottenburg nicht nötig. Alle Beispiele, die er zu
diesem Zweck heranzieht, sind, streng genommen, überflüssiges Beiwerk, das
freilich darüber hinwegtäuschen kann, daß die Regel, deren unantastbare
Richtigkeit es noch unantastbarer zu machen scheint, das gar nicht beweist,
um was es sich handelt. Geht man nämlich näher auf die Forderung ein,
so kann man sich als die Folge ihrer Erfüllung zwei Möglichkeiten vor¬
stellen: erstens, daß die Lage der Arbeiter und Arbeitgeber ins Gleich¬
gewicht gebracht würde, und zweitens, daß die Arbeiter der stärkere Teil
würden. Aber das Gleichgewicht der Kräfte in wirtschaftlichen Kämpfen hat
sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung; es wird sich immer um die Frage
handeln: Wer ist der Stärkste? Und in Wirklichkeit zielt auch das Verlangen
nach möglichst allgemeinem und vollkommnem Zusammenschluß der Arbeiter gar
nicht darauf ab, die Übermacht der Arbeitgeber zu brechen, sondern an ihre
Stelle die Übermacht der Arbeiter zu setzen. Wo auch Koalitionen von
Arbeitern den Kampf gegen verbündete oder vereinzelte Arbeitgeber aufgenommen
haben, immer haben dann die Vertreter des uneingeschränkten Koalitionsrechts
zugleich darnach gestrebt, daß es überall, nicht nur national, sondern wo-


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[0378] Koalitionsrecht und Roalitionspraxis liebe Anerkennung der Koalitionsfreiheit erforderten." Wer die entgegengesetzte Ansicht vertrete und von einer Freigebung der „gewerblichen" Koalitionen eine Stärkung der staatsfeindlichen Parteien befürchte, stütze sich auf eine „deduk¬ tive Beweisführung, die mit den Thatsachen der Erfahrung nicht vereinbar" sei. „Denn diese Thatsachen sind dahin konkludent, daß die heutige Gesell¬ schaft nicht sowohl durch die Anziehungskraft gewisser absurder Vorstellungen von einer Neugestaltung des Zusammenlebens der Menschen, als vielmehr durch die repulsirte Kraft bedroht wird, die der Staat immer dann ausübt, wenn er den Rechtsanschauungen und Bedürfnissen seiner Angehörigen keine Rechnung trägt." Darin liegt doch aber erst recht kein Beweis; es ist nichts als eine unerwiesene Behauptung, die zwar als schwere Anklage gegen den Staat bei den Unzufriednen aller Schattirungen auch ohne Beweis Sympathie finden wird, aber bei ernsthafter Prüfung der Sache auch bei noch so aus¬ giebiger Deutung und Ausbeutung einzelner Beobachtungen in Vergangenheit und Gegenwart zum Zweck einer induktiven Beweisführung nicht aufrecht erhalten werden kann. Aber der Artikel begnügt sich auch nicht mit dieser unerwiesenen Be¬ hauptung, sondern er fährt fort: „Stehen der Arbeitgeber und der Arbeit¬ nehmer in dem Wettbewerbe um die Bedingungen ihres Daseins vereinzelt sich gegenüber, so ist die Lage des letztern notwendig die ungünstigere." Er führt damit eine an sich unumstößliche Wahrheit, freilich in zu allgemeiner Form und ohne Berücksichtigung der zahlreichen Ausnahmen, ins Treffen, verschießt aber auch alles Pulver, das die Verfechter des freien Spiels der Kräfte in dieser Frage auf der Pfanne haben. Für diese Wahrheit einen neuen Beweis zu bringen, hatte Rottenburg nicht nötig. Alle Beispiele, die er zu diesem Zweck heranzieht, sind, streng genommen, überflüssiges Beiwerk, das freilich darüber hinwegtäuschen kann, daß die Regel, deren unantastbare Richtigkeit es noch unantastbarer zu machen scheint, das gar nicht beweist, um was es sich handelt. Geht man nämlich näher auf die Forderung ein, so kann man sich als die Folge ihrer Erfüllung zwei Möglichkeiten vor¬ stellen: erstens, daß die Lage der Arbeiter und Arbeitgeber ins Gleich¬ gewicht gebracht würde, und zweitens, daß die Arbeiter der stärkere Teil würden. Aber das Gleichgewicht der Kräfte in wirtschaftlichen Kämpfen hat sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung; es wird sich immer um die Frage handeln: Wer ist der Stärkste? Und in Wirklichkeit zielt auch das Verlangen nach möglichst allgemeinem und vollkommnem Zusammenschluß der Arbeiter gar nicht darauf ab, die Übermacht der Arbeitgeber zu brechen, sondern an ihre Stelle die Übermacht der Arbeiter zu setzen. Wo auch Koalitionen von Arbeitern den Kampf gegen verbündete oder vereinzelte Arbeitgeber aufgenommen haben, immer haben dann die Vertreter des uneingeschränkten Koalitionsrechts zugleich darnach gestrebt, daß es überall, nicht nur national, sondern wo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/378>, abgerufen am 29.06.2024.