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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Koalitionsrecht und Uoalitionspraxis

lungen in das Gebiet der allgemeinen Sozialpolitik übergriffen, sagt der Ar¬
tikel, stünden sie unter den Landesgesetzen und würden also von deren Vor¬
schriften über Anzeige, polizeiliche Überwachung usw. betroffen. Damit sei
das Recht, sich zur Förderung wirtschaftlicher Zwecke zu vereinigen, in einer
Weise begrenzt, die die Möglichkeit einer Ausnutzung dieses Rechts wesent¬
lich einschränke. Denn nicht selten werde die Erwägung der allgemeinen
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die notwendige Voraussetzung für
die Beurteilung dafür bilden, daß in dem bestimmten Fall eine zweckdienliche
Entschließung gefaßt werden könne. Von einer Mehrheit der Theoretiker, aber
auch von einer großen Zahl praktischer Politiker werde daher eine Abän¬
derung des bestehenden Rechtszustandes in der Richtung verlangt, daß die
bisherigen Beschränkungen des Koalitionsrechts auf wirtschaftlichem Gebiete
beseitigt würden. Es ist, um das gleich hier zu bemerken, ohne weiteres zu¬
zugeben, daß sich die Behandlung allgemeiner sozialpolitischer Fragen bei der
Ausübung des Koalitionsrechts in der Regel kaum vermeiden lassen wird, und
daß also in der That die Koalitionen in der Regel unter das gemeine Vereins¬
und Versammlungsrecht und die darin vorgesehenen "Einschränkungen" sollen.
Beseitigt ist aber das Koalitionsrecht durch diese Einschränkungen nicht, auch
nicht wo sie als "wesentliche" zu bezeichnen sind. Verlangt man die Beseiti¬
gung dieser Einschränkungen, um dem freien Spiel der Kräfte auf wirt¬
schaftlichem Gebiet noch schrankenloser Raum zu gewähren, so wird dagegen
vom extrem freihändlerischen Standpunkte aus nichts einzuwenden sein, aber
den heute herrschenden Vorstellungen von den Pflichten des Staates, wie
sie auch die Soziale Praxis vertritt, entspricht das nicht. Dem Staat die
Möglichkeit zu verschließen, daß er sich über das unterrichten kann, was beim
Gebrauch der Freiheit in dem Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern
vorgeht, und daß er, wenn nötig, im Interesse der Gemeinschaft vorbeugend
eingreifen kann, ist doch ein Verlangen, dessen Berechtigung in so ernsten Fragen,
wie die Ausübung des Koalitions- und des davon nicht zu trennende Aus¬
stands- und Aussperrungsrechts unzweifelhaft ist, von andern Leuten als den
extremsten Freihändlern nur zugegeben werden dürfte, wenn eine besonders gründ¬
liche und zwingende Begründung dafür beigebracht würde. Diese Begründung
hat Rottenburg entschieden zu leicht genommen. In der Hauptsache findet er
sich nämlich folgendermaßen damit ab. Dieses Verlangen, sagt er zunächst,
entspreche der Gerechtigkeit. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre habe sich "in
den zivilisirten Nationen eine dahingehende Rechtsanschauung herausgebildet."
Damit ist natürlich in diesem Falle nicht das geringste bewiesen. Fraglich er¬
scheine es nur noch, heißt es weiter, ob nicht zur Wahrung gewisser allgemeiner
wichtiger Interessen der Gesellschaft für einige Gewerbe, wie für den Kohlen¬
bergbau und den Eisenbahnbetrieb, Ausnahmebestimmungen erforderlich seien.
Und es lasse sich nachweisen, daß auch "Erwägungen politischer Utilität gesetz-


Koalitionsrecht und Uoalitionspraxis

lungen in das Gebiet der allgemeinen Sozialpolitik übergriffen, sagt der Ar¬
tikel, stünden sie unter den Landesgesetzen und würden also von deren Vor¬
schriften über Anzeige, polizeiliche Überwachung usw. betroffen. Damit sei
das Recht, sich zur Förderung wirtschaftlicher Zwecke zu vereinigen, in einer
Weise begrenzt, die die Möglichkeit einer Ausnutzung dieses Rechts wesent¬
lich einschränke. Denn nicht selten werde die Erwägung der allgemeinen
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die notwendige Voraussetzung für
die Beurteilung dafür bilden, daß in dem bestimmten Fall eine zweckdienliche
Entschließung gefaßt werden könne. Von einer Mehrheit der Theoretiker, aber
auch von einer großen Zahl praktischer Politiker werde daher eine Abän¬
derung des bestehenden Rechtszustandes in der Richtung verlangt, daß die
bisherigen Beschränkungen des Koalitionsrechts auf wirtschaftlichem Gebiete
beseitigt würden. Es ist, um das gleich hier zu bemerken, ohne weiteres zu¬
zugeben, daß sich die Behandlung allgemeiner sozialpolitischer Fragen bei der
Ausübung des Koalitionsrechts in der Regel kaum vermeiden lassen wird, und
daß also in der That die Koalitionen in der Regel unter das gemeine Vereins¬
und Versammlungsrecht und die darin vorgesehenen „Einschränkungen" sollen.
Beseitigt ist aber das Koalitionsrecht durch diese Einschränkungen nicht, auch
nicht wo sie als „wesentliche" zu bezeichnen sind. Verlangt man die Beseiti¬
gung dieser Einschränkungen, um dem freien Spiel der Kräfte auf wirt¬
schaftlichem Gebiet noch schrankenloser Raum zu gewähren, so wird dagegen
vom extrem freihändlerischen Standpunkte aus nichts einzuwenden sein, aber
den heute herrschenden Vorstellungen von den Pflichten des Staates, wie
sie auch die Soziale Praxis vertritt, entspricht das nicht. Dem Staat die
Möglichkeit zu verschließen, daß er sich über das unterrichten kann, was beim
Gebrauch der Freiheit in dem Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern
vorgeht, und daß er, wenn nötig, im Interesse der Gemeinschaft vorbeugend
eingreifen kann, ist doch ein Verlangen, dessen Berechtigung in so ernsten Fragen,
wie die Ausübung des Koalitions- und des davon nicht zu trennende Aus¬
stands- und Aussperrungsrechts unzweifelhaft ist, von andern Leuten als den
extremsten Freihändlern nur zugegeben werden dürfte, wenn eine besonders gründ¬
liche und zwingende Begründung dafür beigebracht würde. Diese Begründung
hat Rottenburg entschieden zu leicht genommen. In der Hauptsache findet er
sich nämlich folgendermaßen damit ab. Dieses Verlangen, sagt er zunächst,
entspreche der Gerechtigkeit. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre habe sich „in
den zivilisirten Nationen eine dahingehende Rechtsanschauung herausgebildet."
Damit ist natürlich in diesem Falle nicht das geringste bewiesen. Fraglich er¬
scheine es nur noch, heißt es weiter, ob nicht zur Wahrung gewisser allgemeiner
wichtiger Interessen der Gesellschaft für einige Gewerbe, wie für den Kohlen¬
bergbau und den Eisenbahnbetrieb, Ausnahmebestimmungen erforderlich seien.
Und es lasse sich nachweisen, daß auch „Erwägungen politischer Utilität gesetz-


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[0377] Koalitionsrecht und Uoalitionspraxis lungen in das Gebiet der allgemeinen Sozialpolitik übergriffen, sagt der Ar¬ tikel, stünden sie unter den Landesgesetzen und würden also von deren Vor¬ schriften über Anzeige, polizeiliche Überwachung usw. betroffen. Damit sei das Recht, sich zur Förderung wirtschaftlicher Zwecke zu vereinigen, in einer Weise begrenzt, die die Möglichkeit einer Ausnutzung dieses Rechts wesent¬ lich einschränke. Denn nicht selten werde die Erwägung der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die notwendige Voraussetzung für die Beurteilung dafür bilden, daß in dem bestimmten Fall eine zweckdienliche Entschließung gefaßt werden könne. Von einer Mehrheit der Theoretiker, aber auch von einer großen Zahl praktischer Politiker werde daher eine Abän¬ derung des bestehenden Rechtszustandes in der Richtung verlangt, daß die bisherigen Beschränkungen des Koalitionsrechts auf wirtschaftlichem Gebiete beseitigt würden. Es ist, um das gleich hier zu bemerken, ohne weiteres zu¬ zugeben, daß sich die Behandlung allgemeiner sozialpolitischer Fragen bei der Ausübung des Koalitionsrechts in der Regel kaum vermeiden lassen wird, und daß also in der That die Koalitionen in der Regel unter das gemeine Vereins¬ und Versammlungsrecht und die darin vorgesehenen „Einschränkungen" sollen. Beseitigt ist aber das Koalitionsrecht durch diese Einschränkungen nicht, auch nicht wo sie als „wesentliche" zu bezeichnen sind. Verlangt man die Beseiti¬ gung dieser Einschränkungen, um dem freien Spiel der Kräfte auf wirt¬ schaftlichem Gebiet noch schrankenloser Raum zu gewähren, so wird dagegen vom extrem freihändlerischen Standpunkte aus nichts einzuwenden sein, aber den heute herrschenden Vorstellungen von den Pflichten des Staates, wie sie auch die Soziale Praxis vertritt, entspricht das nicht. Dem Staat die Möglichkeit zu verschließen, daß er sich über das unterrichten kann, was beim Gebrauch der Freiheit in dem Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern vorgeht, und daß er, wenn nötig, im Interesse der Gemeinschaft vorbeugend eingreifen kann, ist doch ein Verlangen, dessen Berechtigung in so ernsten Fragen, wie die Ausübung des Koalitions- und des davon nicht zu trennende Aus¬ stands- und Aussperrungsrechts unzweifelhaft ist, von andern Leuten als den extremsten Freihändlern nur zugegeben werden dürfte, wenn eine besonders gründ¬ liche und zwingende Begründung dafür beigebracht würde. Diese Begründung hat Rottenburg entschieden zu leicht genommen. In der Hauptsache findet er sich nämlich folgendermaßen damit ab. Dieses Verlangen, sagt er zunächst, entspreche der Gerechtigkeit. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre habe sich „in den zivilisirten Nationen eine dahingehende Rechtsanschauung herausgebildet." Damit ist natürlich in diesem Falle nicht das geringste bewiesen. Fraglich er¬ scheine es nur noch, heißt es weiter, ob nicht zur Wahrung gewisser allgemeiner wichtiger Interessen der Gesellschaft für einige Gewerbe, wie für den Kohlen¬ bergbau und den Eisenbahnbetrieb, Ausnahmebestimmungen erforderlich seien. Und es lasse sich nachweisen, daß auch „Erwägungen politischer Utilität gesetz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/377>, abgerufen am 29.06.2024.