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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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auf einem Denkprozeß beruhende Selbstbeherrschung dazu, im gegebnen Falle
die Eigensucht hinter Anforderungen der Allgemeinheit zurücktreten zu lassen.
Wenn diese geistige Disziplinirung schon hie und da bei den Kaufleuten vermißt
wird, um wieviel weniger werden wir sie im Handwerke finden! Es liegt uns
fern, hieraus dem einzelnen Handwerker einen Vorwurf zu machen; man darf
nie vergessen, daß der Mensch zunächst für sich selbst zu sorgen hat und erst,
wenn eine gewisse Behaglichkeit der Lebenshaltung eingetreten ist, daran denken
kann, sich auch einmal um seine Genossen zu kümmern; solange die harte
Tagesarbeit nichts bringt als kärgliche oder eben ausreichende Nahrung, so
lange ist der Geist der Uneigennützigkeit, der Wunsch, ein Standesbewußtsein
nicht nur für sich, sondern auch für andre geltend zu machen, nicht zu er¬
warte". Und in einer solchen Lage befindet sich eben ein Teil des Handwerks.
Wie engherzig man in Handwerkerkreisen häufig urteilt, mag ein Beispiel
zeigen. In der Oberpfalz wurde am 7. September der vierzehnte allgemeine
bairische Handwerkertag abgehalten. Dort erklärte der Obermeister Nagler
aus München in einer Rede über die Organisation des Handwerks, ohne
Widerspruch zu finden, die Einrichtung des Gesellenausschusses sei verfehlt;
der Arbeiterstand solle seine Vertretung in Arbeiterkammern finden, der selb¬
ständige Handwerkerstand dagegen in den Handwerkskammern!

Aus allem geht hervor, daß wir die Erwartungen, die wir auf die er¬
folgreiche Thätigkeit der Handwerkskammer setzen, im Anfange nicht zu hoch
spannen dürfen, schon deshalb nicht, weil sie in viel höherm Maße als die
Handelskammer eine beratende und Polizeibehörde ist und der Selbstverwal¬
tung im engsten Sinne dient. Die Aufgaben, die ihr amtlich zugeteilt sind,
sind entweder solche, die die der Innungen ergänzen sollen (Schiedsgerichte,
Meisterprüfungen usw.), oder sie sind auf eine Überwachung der Innungen
gerichtet (Regelung des Lehrliugswesens, Beaufsichtigung der Fachschulen usw.).
Die Kammer gerät also leicht in die Gefahr, zu verknöchern, sich auf die
äußerliche Erledigung dieses paragraphemnüßig festgestellten Aufgabenkreises zu
beschränken, eine rein mechanische Thätigkeit zu üben. Ob sie der größern
Pflicht genügen wird, anregend und schöpferisch aufzutreten, muß abgewartet
werden; die Wahrscheinlichkeit ist aber recht gering, denn es handelt sich dabei
im Grunde um eine Personenfrage. Freie Vereine sowohl wie Korporationen
sind gewöhnlich das, was ihre Leiter sind, und leisten das, wozu die Kraft
dieser leitenden Persönlichkeit anspornt, und es ist wohl kein Zweifel, daß die
Zahl derartiger Persönlichkeiten im Handwerk geringer ist als in andern
Berufsklassen, nicht weil das der Beruf so mit sich brächte, sondern weil wir
hier -- "um Mg-no s^Ils verstanden -- eine geistige Verkümmerung eines
ganzen Standes beobachten können; das beweist der geistige Gehalt der ganzen
Handwerkerbewegung von 1848 an.

Wir sagen aber ausdrücklich, daß dies nur für die Gegenwart gilt; in der
Zukunft soll und muß es anders werden. Es handelt sich in der Handwerks-


auf einem Denkprozeß beruhende Selbstbeherrschung dazu, im gegebnen Falle
die Eigensucht hinter Anforderungen der Allgemeinheit zurücktreten zu lassen.
Wenn diese geistige Disziplinirung schon hie und da bei den Kaufleuten vermißt
wird, um wieviel weniger werden wir sie im Handwerke finden! Es liegt uns
fern, hieraus dem einzelnen Handwerker einen Vorwurf zu machen; man darf
nie vergessen, daß der Mensch zunächst für sich selbst zu sorgen hat und erst,
wenn eine gewisse Behaglichkeit der Lebenshaltung eingetreten ist, daran denken
kann, sich auch einmal um seine Genossen zu kümmern; solange die harte
Tagesarbeit nichts bringt als kärgliche oder eben ausreichende Nahrung, so
lange ist der Geist der Uneigennützigkeit, der Wunsch, ein Standesbewußtsein
nicht nur für sich, sondern auch für andre geltend zu machen, nicht zu er¬
warte». Und in einer solchen Lage befindet sich eben ein Teil des Handwerks.
Wie engherzig man in Handwerkerkreisen häufig urteilt, mag ein Beispiel
zeigen. In der Oberpfalz wurde am 7. September der vierzehnte allgemeine
bairische Handwerkertag abgehalten. Dort erklärte der Obermeister Nagler
aus München in einer Rede über die Organisation des Handwerks, ohne
Widerspruch zu finden, die Einrichtung des Gesellenausschusses sei verfehlt;
der Arbeiterstand solle seine Vertretung in Arbeiterkammern finden, der selb¬
ständige Handwerkerstand dagegen in den Handwerkskammern!

Aus allem geht hervor, daß wir die Erwartungen, die wir auf die er¬
folgreiche Thätigkeit der Handwerkskammer setzen, im Anfange nicht zu hoch
spannen dürfen, schon deshalb nicht, weil sie in viel höherm Maße als die
Handelskammer eine beratende und Polizeibehörde ist und der Selbstverwal¬
tung im engsten Sinne dient. Die Aufgaben, die ihr amtlich zugeteilt sind,
sind entweder solche, die die der Innungen ergänzen sollen (Schiedsgerichte,
Meisterprüfungen usw.), oder sie sind auf eine Überwachung der Innungen
gerichtet (Regelung des Lehrliugswesens, Beaufsichtigung der Fachschulen usw.).
Die Kammer gerät also leicht in die Gefahr, zu verknöchern, sich auf die
äußerliche Erledigung dieses paragraphemnüßig festgestellten Aufgabenkreises zu
beschränken, eine rein mechanische Thätigkeit zu üben. Ob sie der größern
Pflicht genügen wird, anregend und schöpferisch aufzutreten, muß abgewartet
werden; die Wahrscheinlichkeit ist aber recht gering, denn es handelt sich dabei
im Grunde um eine Personenfrage. Freie Vereine sowohl wie Korporationen
sind gewöhnlich das, was ihre Leiter sind, und leisten das, wozu die Kraft
dieser leitenden Persönlichkeit anspornt, und es ist wohl kein Zweifel, daß die
Zahl derartiger Persönlichkeiten im Handwerk geringer ist als in andern
Berufsklassen, nicht weil das der Beruf so mit sich brächte, sondern weil wir
hier — «um Mg-no s^Ils verstanden — eine geistige Verkümmerung eines
ganzen Standes beobachten können; das beweist der geistige Gehalt der ganzen
Handwerkerbewegung von 1848 an.

Wir sagen aber ausdrücklich, daß dies nur für die Gegenwart gilt; in der
Zukunft soll und muß es anders werden. Es handelt sich in der Handwerks-


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[0373] auf einem Denkprozeß beruhende Selbstbeherrschung dazu, im gegebnen Falle die Eigensucht hinter Anforderungen der Allgemeinheit zurücktreten zu lassen. Wenn diese geistige Disziplinirung schon hie und da bei den Kaufleuten vermißt wird, um wieviel weniger werden wir sie im Handwerke finden! Es liegt uns fern, hieraus dem einzelnen Handwerker einen Vorwurf zu machen; man darf nie vergessen, daß der Mensch zunächst für sich selbst zu sorgen hat und erst, wenn eine gewisse Behaglichkeit der Lebenshaltung eingetreten ist, daran denken kann, sich auch einmal um seine Genossen zu kümmern; solange die harte Tagesarbeit nichts bringt als kärgliche oder eben ausreichende Nahrung, so lange ist der Geist der Uneigennützigkeit, der Wunsch, ein Standesbewußtsein nicht nur für sich, sondern auch für andre geltend zu machen, nicht zu er¬ warte». Und in einer solchen Lage befindet sich eben ein Teil des Handwerks. Wie engherzig man in Handwerkerkreisen häufig urteilt, mag ein Beispiel zeigen. In der Oberpfalz wurde am 7. September der vierzehnte allgemeine bairische Handwerkertag abgehalten. Dort erklärte der Obermeister Nagler aus München in einer Rede über die Organisation des Handwerks, ohne Widerspruch zu finden, die Einrichtung des Gesellenausschusses sei verfehlt; der Arbeiterstand solle seine Vertretung in Arbeiterkammern finden, der selb¬ ständige Handwerkerstand dagegen in den Handwerkskammern! Aus allem geht hervor, daß wir die Erwartungen, die wir auf die er¬ folgreiche Thätigkeit der Handwerkskammer setzen, im Anfange nicht zu hoch spannen dürfen, schon deshalb nicht, weil sie in viel höherm Maße als die Handelskammer eine beratende und Polizeibehörde ist und der Selbstverwal¬ tung im engsten Sinne dient. Die Aufgaben, die ihr amtlich zugeteilt sind, sind entweder solche, die die der Innungen ergänzen sollen (Schiedsgerichte, Meisterprüfungen usw.), oder sie sind auf eine Überwachung der Innungen gerichtet (Regelung des Lehrliugswesens, Beaufsichtigung der Fachschulen usw.). Die Kammer gerät also leicht in die Gefahr, zu verknöchern, sich auf die äußerliche Erledigung dieses paragraphemnüßig festgestellten Aufgabenkreises zu beschränken, eine rein mechanische Thätigkeit zu üben. Ob sie der größern Pflicht genügen wird, anregend und schöpferisch aufzutreten, muß abgewartet werden; die Wahrscheinlichkeit ist aber recht gering, denn es handelt sich dabei im Grunde um eine Personenfrage. Freie Vereine sowohl wie Korporationen sind gewöhnlich das, was ihre Leiter sind, und leisten das, wozu die Kraft dieser leitenden Persönlichkeit anspornt, und es ist wohl kein Zweifel, daß die Zahl derartiger Persönlichkeiten im Handwerk geringer ist als in andern Berufsklassen, nicht weil das der Beruf so mit sich brächte, sondern weil wir hier — «um Mg-no s^Ils verstanden — eine geistige Verkümmerung eines ganzen Standes beobachten können; das beweist der geistige Gehalt der ganzen Handwerkerbewegung von 1848 an. Wir sagen aber ausdrücklich, daß dies nur für die Gegenwart gilt; in der Zukunft soll und muß es anders werden. Es handelt sich in der Handwerks-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/373>, abgerufen am 29.06.2024.