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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die Organisation des Handwerks

etwn elf, zusammen also höchstens so viel Personen, als aus siebzehn Lehr¬
lingsjahrgängen hervorgegangen sind. Andrerseits dürften aber mindestens
dreißig Jahre thätigen Erwerbslebens dem eben aus der Lehre tretenden noch
bevorstehen, wobei das Absterben auch schon berücksichtigt ist. Von diesen
dreißig Altersklassen sind aber nur siebzehn im Handwerk nachweisbar. So
viel Gesellen, wie zur Besetzung von dreizehn Altersklassen gehören, fehlen also
mindestens dem Handwerke, d. h. ungefähr so viel Gesellen müssen zu den
Fabriken übergetreten oder ausgewandert sein oder den Beruf gewechselt haben.
Für den Bedarf des Handwerks an Lehrlingen ist die gegenwärtige Lehrlings¬
zahl also zu groß. Dieser Überschuß über den Bedarf ist aber, da die Gro߬
industrie auch Leute braucht, die beim Meister in der Handwerkslehre aus¬
gebildet wurden, volkswirtschaftlich notwendig.

Paul Voigt fügt hinzu: Dieser Betrachtung wird im wesentlichen bei¬
zupflichten sein; nur die Schlußweudung erscheint mir allzu optimistisch und
scheint die schlimmen Wirkungen der Lehrlingszüchtuug zu unterschätzen. Es
giebt unzweifelhaft eine sehr große Reihe von Handwerken, deren Erlernung
in keiner Weise den Übertritt in die Großindustrie ermöglicht. Bei solchen
Gewerben aber, die ihren Handwcrkscharakter in der Hauptsache bewahrt haben,
wird man, wenn die Lehrlingsverhältnisse als gesund gelten sollen, grundsätzlich
daran festhalten müssen, daß die Lehrlingszahl im Verhältnis zu dem Bedarf
des Gewerbes stehen muß. Daß man aber gerade bei den Gewerben, wo der
handwerksmäßige Betrieb am wenigsten erschüttert ist, von Lchrliugszüchtung
sprechen kann, dafür haben schon die Untersuchungen des Vereins für Sozial¬
politik eine Reihe von Zeugnissen beigebracht. Zu den Handwerken, die eine
Lehrlingszahl aufweisen, die zu ihrem Bedarf in Mißverhältnis steht, gehören
die Barbiere und Friseure, die Bäcker, Buchbinder, Konditoren, Drechsler,
Buchdrucker, Feilenhauer, Schlosser und Klempner.

Von allen diesen Handwerken können nur die Metallhandwerke (Schlosser,
Schmiede, Kupferschmiede, Klempner) ihren Lehrlingsüberschuß unmittelbar in
die Fabriken ableiten, und ob er nicht auch den Bedarf der Großindustrie weit
übersteigt, erscheint namentlich bei den Schlossern und Kupferschmieden als
eine offne Frage. Auch von den Drechslern, Buchdruckern und Tischlern
dürfte ein Teil in der Fabrik Platz finden. Jedenfalls kann bei allen diesen
Gewerben die zulässige Zahl der Lehrlinge nicht allein nach dem Bedürfnis
des Handwerks bestimmt werden.

Anders liegt die Sache bei den Gewerben, die ihren handwerksmäßigen
Charakter in der Hauptsache bewahrt haben, namentlich bei den Barbieren,
Friseuren, Bäckern, Konditoren, Malern, Metzgern, Sattlern, Schornsteinfegern
und Tapezierern. Hier ist die energische Eindämmung des übermäßigen Lehr¬
lingswesens eine Lebensbedingung des Handwerks. Hält sie an, so müssen sich
allmählich auch uoch die lebensfähigen Handwerke durch Überfüllung mit prole-


Grenzboten IV 1897 46
Die Organisation des Handwerks

etwn elf, zusammen also höchstens so viel Personen, als aus siebzehn Lehr¬
lingsjahrgängen hervorgegangen sind. Andrerseits dürften aber mindestens
dreißig Jahre thätigen Erwerbslebens dem eben aus der Lehre tretenden noch
bevorstehen, wobei das Absterben auch schon berücksichtigt ist. Von diesen
dreißig Altersklassen sind aber nur siebzehn im Handwerk nachweisbar. So
viel Gesellen, wie zur Besetzung von dreizehn Altersklassen gehören, fehlen also
mindestens dem Handwerke, d. h. ungefähr so viel Gesellen müssen zu den
Fabriken übergetreten oder ausgewandert sein oder den Beruf gewechselt haben.
Für den Bedarf des Handwerks an Lehrlingen ist die gegenwärtige Lehrlings¬
zahl also zu groß. Dieser Überschuß über den Bedarf ist aber, da die Gro߬
industrie auch Leute braucht, die beim Meister in der Handwerkslehre aus¬
gebildet wurden, volkswirtschaftlich notwendig.

Paul Voigt fügt hinzu: Dieser Betrachtung wird im wesentlichen bei¬
zupflichten sein; nur die Schlußweudung erscheint mir allzu optimistisch und
scheint die schlimmen Wirkungen der Lehrlingszüchtuug zu unterschätzen. Es
giebt unzweifelhaft eine sehr große Reihe von Handwerken, deren Erlernung
in keiner Weise den Übertritt in die Großindustrie ermöglicht. Bei solchen
Gewerben aber, die ihren Handwcrkscharakter in der Hauptsache bewahrt haben,
wird man, wenn die Lehrlingsverhältnisse als gesund gelten sollen, grundsätzlich
daran festhalten müssen, daß die Lehrlingszahl im Verhältnis zu dem Bedarf
des Gewerbes stehen muß. Daß man aber gerade bei den Gewerben, wo der
handwerksmäßige Betrieb am wenigsten erschüttert ist, von Lchrliugszüchtung
sprechen kann, dafür haben schon die Untersuchungen des Vereins für Sozial¬
politik eine Reihe von Zeugnissen beigebracht. Zu den Handwerken, die eine
Lehrlingszahl aufweisen, die zu ihrem Bedarf in Mißverhältnis steht, gehören
die Barbiere und Friseure, die Bäcker, Buchbinder, Konditoren, Drechsler,
Buchdrucker, Feilenhauer, Schlosser und Klempner.

Von allen diesen Handwerken können nur die Metallhandwerke (Schlosser,
Schmiede, Kupferschmiede, Klempner) ihren Lehrlingsüberschuß unmittelbar in
die Fabriken ableiten, und ob er nicht auch den Bedarf der Großindustrie weit
übersteigt, erscheint namentlich bei den Schlossern und Kupferschmieden als
eine offne Frage. Auch von den Drechslern, Buchdruckern und Tischlern
dürfte ein Teil in der Fabrik Platz finden. Jedenfalls kann bei allen diesen
Gewerben die zulässige Zahl der Lehrlinge nicht allein nach dem Bedürfnis
des Handwerks bestimmt werden.

Anders liegt die Sache bei den Gewerben, die ihren handwerksmäßigen
Charakter in der Hauptsache bewahrt haben, namentlich bei den Barbieren,
Friseuren, Bäckern, Konditoren, Malern, Metzgern, Sattlern, Schornsteinfegern
und Tapezierern. Hier ist die energische Eindämmung des übermäßigen Lehr¬
lingswesens eine Lebensbedingung des Handwerks. Hält sie an, so müssen sich
allmählich auch uoch die lebensfähigen Handwerke durch Überfüllung mit prole-


Grenzboten IV 1897 46
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[0371] Die Organisation des Handwerks etwn elf, zusammen also höchstens so viel Personen, als aus siebzehn Lehr¬ lingsjahrgängen hervorgegangen sind. Andrerseits dürften aber mindestens dreißig Jahre thätigen Erwerbslebens dem eben aus der Lehre tretenden noch bevorstehen, wobei das Absterben auch schon berücksichtigt ist. Von diesen dreißig Altersklassen sind aber nur siebzehn im Handwerk nachweisbar. So viel Gesellen, wie zur Besetzung von dreizehn Altersklassen gehören, fehlen also mindestens dem Handwerke, d. h. ungefähr so viel Gesellen müssen zu den Fabriken übergetreten oder ausgewandert sein oder den Beruf gewechselt haben. Für den Bedarf des Handwerks an Lehrlingen ist die gegenwärtige Lehrlings¬ zahl also zu groß. Dieser Überschuß über den Bedarf ist aber, da die Gro߬ industrie auch Leute braucht, die beim Meister in der Handwerkslehre aus¬ gebildet wurden, volkswirtschaftlich notwendig. Paul Voigt fügt hinzu: Dieser Betrachtung wird im wesentlichen bei¬ zupflichten sein; nur die Schlußweudung erscheint mir allzu optimistisch und scheint die schlimmen Wirkungen der Lehrlingszüchtuug zu unterschätzen. Es giebt unzweifelhaft eine sehr große Reihe von Handwerken, deren Erlernung in keiner Weise den Übertritt in die Großindustrie ermöglicht. Bei solchen Gewerben aber, die ihren Handwcrkscharakter in der Hauptsache bewahrt haben, wird man, wenn die Lehrlingsverhältnisse als gesund gelten sollen, grundsätzlich daran festhalten müssen, daß die Lehrlingszahl im Verhältnis zu dem Bedarf des Gewerbes stehen muß. Daß man aber gerade bei den Gewerben, wo der handwerksmäßige Betrieb am wenigsten erschüttert ist, von Lchrliugszüchtung sprechen kann, dafür haben schon die Untersuchungen des Vereins für Sozial¬ politik eine Reihe von Zeugnissen beigebracht. Zu den Handwerken, die eine Lehrlingszahl aufweisen, die zu ihrem Bedarf in Mißverhältnis steht, gehören die Barbiere und Friseure, die Bäcker, Buchbinder, Konditoren, Drechsler, Buchdrucker, Feilenhauer, Schlosser und Klempner. Von allen diesen Handwerken können nur die Metallhandwerke (Schlosser, Schmiede, Kupferschmiede, Klempner) ihren Lehrlingsüberschuß unmittelbar in die Fabriken ableiten, und ob er nicht auch den Bedarf der Großindustrie weit übersteigt, erscheint namentlich bei den Schlossern und Kupferschmieden als eine offne Frage. Auch von den Drechslern, Buchdruckern und Tischlern dürfte ein Teil in der Fabrik Platz finden. Jedenfalls kann bei allen diesen Gewerben die zulässige Zahl der Lehrlinge nicht allein nach dem Bedürfnis des Handwerks bestimmt werden. Anders liegt die Sache bei den Gewerben, die ihren handwerksmäßigen Charakter in der Hauptsache bewahrt haben, namentlich bei den Barbieren, Friseuren, Bäckern, Konditoren, Malern, Metzgern, Sattlern, Schornsteinfegern und Tapezierern. Hier ist die energische Eindämmung des übermäßigen Lehr¬ lingswesens eine Lebensbedingung des Handwerks. Hält sie an, so müssen sich allmählich auch uoch die lebensfähigen Handwerke durch Überfüllung mit prole- Grenzboten IV 1897 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/371>, abgerufen am 29.06.2024.