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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die "Organisation des Handwerks

betriebe zu entfalten, und den Wünschen des Handwerks völlig entsprach. Was
die wahren Ursachen des Zersetzungsprozesses im Handwerke sind, haben die
Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik gezeigt, die wie selten eine Mono¬
graphiensammlung klärend gewirkt haben und zugleich eine mittelbare Kritik
schärfster Art über die neueste Reform der Jnnungsgesetzgebung enthalten. Die
Untersuchungen haben gezeigt, daß es durchaus nicht allein die Industrie ist,
die dem Handwerke den Boden entzieht; in einer großen Zahl von Fällen
wirken außer der Umgestaltung des Handwerksbetriebs zum Großbetriebe noch
andre Ursachen mit, oder sie sind es ganz allein, die eine Änderung herbei¬
geführt haben, z. B. der Wechsel des Geschmacks, des gebrauchten Materials usw.
Weil aber alle diese Ursachen in der einen oder andern Weise auf technischem
Gebiete liegen, weil in ihnen Entwicklungsgesetze der Wirtschaft zum Ausdrucke
kommen, die mit der ausschließlichen Macht des Naturgesetzes auftreten, so
können sie durch äußerliche organisatorische Maßnahmen, Pflege des Gemein¬
geistes usw. schlechterdings nicht überwunden werden. Daher wären die Ur¬
sachen auch wirksam geworden trotz aller Beschränkungen der Gewerbeordnung,
die man hätte einführen können. Die wahre Natur dieser Dinge hat man
freilich sehr spät erkannt, und anerkannt werden sie auch heute noch nicht von
allen Handwerkern. Daher auch die ganz auffällige Unfruchtbarkeit der Hand-
werkerliewegung um neuzeitlichen Ideen. In den vielen Handwerkerkongresscn,
in den tausend Schriften über die Handwerkerfrage finden sich immer dieselben
Forderungen, die schon auf dem Frankfurter Kongreß 1848 gestellt worden
sind. Mit dem Gedankenvorrat dieses Kongresses hat die Handwerkerbewegung
bis auf den heutigen Tag fast in sklavischer Abhängigkeit gewirtschaftet.

Angesichts dieser Sachlage war von vornherein zu befürchten, daß weite
Kreise der Handwerker an die beabsichtigte Zusammenfassung des Handwerks
in straffe Korporationsform die Hoffnung knüpfen würden, durch diese Ma߬
nahmen der Gesetzgebung werde die Lage des Handwerks gegenüber der
Industrie gebessert werden, es werde gelingen, wenigstens einen Teil des Ge¬
bietes gewerblicher Thätigkeit, das durch die Fortschritte der Industrie dem
Handwerke von der Technik entrissen worden ist, für die handwerksmäßige
Betriebsform zurückzugewinnen. Daß diese Hoffnung trügerisch ist, braucht
jetzt nicht mehr bewiesen zu werden. Andrerseits hat eine einseitig dogmati-
sirende Wissenschaft den Satz aufgestellt, daß das Handwerk überhaupt un¬
rettbar dem Untergänge geweiht, daß es eine allmählich absterbende Betriebs¬
form sei. Auch dies ist eine Übertreibung. Angesichts einer so verschiedenartigen
Beurteilung der bestehenden Verhältnisse und des Maßes, wie eine Organi¬
sation der in Frage kommenden Berufskreise auf sie einwirken kann, war es
von Anfang an ein Grundfehler des Gesetzentwurfs zur Organisation des
Handwerks, daß ihm nicht zunächst eine Schilderung der Lage des Handwerks
vorausging, die einen klaren Überblick über die thatsächlichen Verhältnisse gab.
Ehe man wirtschaftspolitische Schutzmaßregeln ergreift, muß man doch wissen,


Die «Organisation des Handwerks

betriebe zu entfalten, und den Wünschen des Handwerks völlig entsprach. Was
die wahren Ursachen des Zersetzungsprozesses im Handwerke sind, haben die
Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik gezeigt, die wie selten eine Mono¬
graphiensammlung klärend gewirkt haben und zugleich eine mittelbare Kritik
schärfster Art über die neueste Reform der Jnnungsgesetzgebung enthalten. Die
Untersuchungen haben gezeigt, daß es durchaus nicht allein die Industrie ist,
die dem Handwerke den Boden entzieht; in einer großen Zahl von Fällen
wirken außer der Umgestaltung des Handwerksbetriebs zum Großbetriebe noch
andre Ursachen mit, oder sie sind es ganz allein, die eine Änderung herbei¬
geführt haben, z. B. der Wechsel des Geschmacks, des gebrauchten Materials usw.
Weil aber alle diese Ursachen in der einen oder andern Weise auf technischem
Gebiete liegen, weil in ihnen Entwicklungsgesetze der Wirtschaft zum Ausdrucke
kommen, die mit der ausschließlichen Macht des Naturgesetzes auftreten, so
können sie durch äußerliche organisatorische Maßnahmen, Pflege des Gemein¬
geistes usw. schlechterdings nicht überwunden werden. Daher wären die Ur¬
sachen auch wirksam geworden trotz aller Beschränkungen der Gewerbeordnung,
die man hätte einführen können. Die wahre Natur dieser Dinge hat man
freilich sehr spät erkannt, und anerkannt werden sie auch heute noch nicht von
allen Handwerkern. Daher auch die ganz auffällige Unfruchtbarkeit der Hand-
werkerliewegung um neuzeitlichen Ideen. In den vielen Handwerkerkongresscn,
in den tausend Schriften über die Handwerkerfrage finden sich immer dieselben
Forderungen, die schon auf dem Frankfurter Kongreß 1848 gestellt worden
sind. Mit dem Gedankenvorrat dieses Kongresses hat die Handwerkerbewegung
bis auf den heutigen Tag fast in sklavischer Abhängigkeit gewirtschaftet.

Angesichts dieser Sachlage war von vornherein zu befürchten, daß weite
Kreise der Handwerker an die beabsichtigte Zusammenfassung des Handwerks
in straffe Korporationsform die Hoffnung knüpfen würden, durch diese Ma߬
nahmen der Gesetzgebung werde die Lage des Handwerks gegenüber der
Industrie gebessert werden, es werde gelingen, wenigstens einen Teil des Ge¬
bietes gewerblicher Thätigkeit, das durch die Fortschritte der Industrie dem
Handwerke von der Technik entrissen worden ist, für die handwerksmäßige
Betriebsform zurückzugewinnen. Daß diese Hoffnung trügerisch ist, braucht
jetzt nicht mehr bewiesen zu werden. Andrerseits hat eine einseitig dogmati-
sirende Wissenschaft den Satz aufgestellt, daß das Handwerk überhaupt un¬
rettbar dem Untergänge geweiht, daß es eine allmählich absterbende Betriebs¬
form sei. Auch dies ist eine Übertreibung. Angesichts einer so verschiedenartigen
Beurteilung der bestehenden Verhältnisse und des Maßes, wie eine Organi¬
sation der in Frage kommenden Berufskreise auf sie einwirken kann, war es
von Anfang an ein Grundfehler des Gesetzentwurfs zur Organisation des
Handwerks, daß ihm nicht zunächst eine Schilderung der Lage des Handwerks
vorausging, die einen klaren Überblick über die thatsächlichen Verhältnisse gab.
Ehe man wirtschaftspolitische Schutzmaßregeln ergreift, muß man doch wissen,


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[0367] Die «Organisation des Handwerks betriebe zu entfalten, und den Wünschen des Handwerks völlig entsprach. Was die wahren Ursachen des Zersetzungsprozesses im Handwerke sind, haben die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik gezeigt, die wie selten eine Mono¬ graphiensammlung klärend gewirkt haben und zugleich eine mittelbare Kritik schärfster Art über die neueste Reform der Jnnungsgesetzgebung enthalten. Die Untersuchungen haben gezeigt, daß es durchaus nicht allein die Industrie ist, die dem Handwerke den Boden entzieht; in einer großen Zahl von Fällen wirken außer der Umgestaltung des Handwerksbetriebs zum Großbetriebe noch andre Ursachen mit, oder sie sind es ganz allein, die eine Änderung herbei¬ geführt haben, z. B. der Wechsel des Geschmacks, des gebrauchten Materials usw. Weil aber alle diese Ursachen in der einen oder andern Weise auf technischem Gebiete liegen, weil in ihnen Entwicklungsgesetze der Wirtschaft zum Ausdrucke kommen, die mit der ausschließlichen Macht des Naturgesetzes auftreten, so können sie durch äußerliche organisatorische Maßnahmen, Pflege des Gemein¬ geistes usw. schlechterdings nicht überwunden werden. Daher wären die Ur¬ sachen auch wirksam geworden trotz aller Beschränkungen der Gewerbeordnung, die man hätte einführen können. Die wahre Natur dieser Dinge hat man freilich sehr spät erkannt, und anerkannt werden sie auch heute noch nicht von allen Handwerkern. Daher auch die ganz auffällige Unfruchtbarkeit der Hand- werkerliewegung um neuzeitlichen Ideen. In den vielen Handwerkerkongresscn, in den tausend Schriften über die Handwerkerfrage finden sich immer dieselben Forderungen, die schon auf dem Frankfurter Kongreß 1848 gestellt worden sind. Mit dem Gedankenvorrat dieses Kongresses hat die Handwerkerbewegung bis auf den heutigen Tag fast in sklavischer Abhängigkeit gewirtschaftet. Angesichts dieser Sachlage war von vornherein zu befürchten, daß weite Kreise der Handwerker an die beabsichtigte Zusammenfassung des Handwerks in straffe Korporationsform die Hoffnung knüpfen würden, durch diese Ma߬ nahmen der Gesetzgebung werde die Lage des Handwerks gegenüber der Industrie gebessert werden, es werde gelingen, wenigstens einen Teil des Ge¬ bietes gewerblicher Thätigkeit, das durch die Fortschritte der Industrie dem Handwerke von der Technik entrissen worden ist, für die handwerksmäßige Betriebsform zurückzugewinnen. Daß diese Hoffnung trügerisch ist, braucht jetzt nicht mehr bewiesen zu werden. Andrerseits hat eine einseitig dogmati- sirende Wissenschaft den Satz aufgestellt, daß das Handwerk überhaupt un¬ rettbar dem Untergänge geweiht, daß es eine allmählich absterbende Betriebs¬ form sei. Auch dies ist eine Übertreibung. Angesichts einer so verschiedenartigen Beurteilung der bestehenden Verhältnisse und des Maßes, wie eine Organi¬ sation der in Frage kommenden Berufskreise auf sie einwirken kann, war es von Anfang an ein Grundfehler des Gesetzentwurfs zur Organisation des Handwerks, daß ihm nicht zunächst eine Schilderung der Lage des Handwerks vorausging, die einen klaren Überblick über die thatsächlichen Verhältnisse gab. Ehe man wirtschaftspolitische Schutzmaßregeln ergreift, muß man doch wissen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/367>, abgerufen am 29.06.2024.