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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Politische Unreife und politische Unarten

der zahllosen undurchführbaren Illusionen des Liberalismus. Es ist auch
gar nicht nötig, daß sie verwirklicht wird. Der Durchschnittsmensch aller
Stände kann immer nur den nächsten Kreis der politischen Beziehungen, in
denen er lebt, übersehen, daneben nur wenige große, ein ganzes Volk im innersten
bewegende Fragen einigermaßen verstehen, und er wird stets mehr von Em¬
pfindungen und Gewohnheiten, als von klaren Erwägungen abhängig sein. Die
ganze sozialdemokratische "Erziehung" der Arbeitermassen hat schließlich doch nur
dazu geführt, daß sie den Schlagworten ihrer Demagogen und ihrer Zeitungen
blindlings folgen und der Vaterlandsliebe in einer Weise entfremdet worden sind,
die nirgends in Europa ihresgleichen hat, obwohl doch auch die deutsche Sozial¬
politik nirgends ihresgleichen hat. Also gebührt die Regierung der gebildeten
und denkenden patriotischen Minderheit. So ist es anch in den fortgeschrittensten
Demokratien immer gewesen. Die altgrichischen Demokratien waren thatsächlich
Massenaristokratien, und die attische Demokratie hatte ihre größte Zeit, als sie
der Leitung ihres "ersten Mannes," Perikles, folgte. Die römische Republik
stand auf ihrer Höhe, als die senatvrische Aristokratie in demokratischen Formen
regierte, nicht, als die Demagogen der Gasse mit den Fäusten und Knitteln
ihrer Wühler den Ausschlag gaben. Selbst Nordamerika verdankt seine Unab¬
hängigkeit nicht seinem Volke, das nur höchst widerwillig die notwendigen
Opfer brachte und sich für die staatsrechtlichen Fragen, um die es sich zunächst
handelte, gar nicht besonders interessirte, sondern einer kleinen Anzahl ent¬
schlossener Männer und der Hilfe Frankreichs, und die seitdem dort bestehende
Massenherrschaft hat die Union gegen die Sezession 1861 bis 1865 nur unter
den furchtbarsten Opfern behaupten können, die alles, was ein Despot wie
Napoleon I. seinem Volke zugemutet hat, weit hinter sich lassen, weil die
"Freiheit" keine wirksame militärische Organisation geduldet hatte. Und was
ist die heutige französische "Demokratie" anders, als eine Oligarchie von Börsen¬
spielern und Advokaten? Was gar eine "Diktatur des Proletariats" bedeuten
würde, das hat Frankreich zweimal mit entsetzlicher Deutlichkeit gelehrt. Die
schneidenden Worte, die der "Volksdichter" Schiller, der ein stolzer Aristokrat
war wie jeder große Mann, den greisen Sapieha in seinem "Demetrius" sagen
läßt, haben zu allen Zeiten gegolten und gelten noch heute:


Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen! -
Der Staat muß untergehn früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.

-i-


Grenzbote" IV 1897
Politische Unreife und politische Unarten

der zahllosen undurchführbaren Illusionen des Liberalismus. Es ist auch
gar nicht nötig, daß sie verwirklicht wird. Der Durchschnittsmensch aller
Stände kann immer nur den nächsten Kreis der politischen Beziehungen, in
denen er lebt, übersehen, daneben nur wenige große, ein ganzes Volk im innersten
bewegende Fragen einigermaßen verstehen, und er wird stets mehr von Em¬
pfindungen und Gewohnheiten, als von klaren Erwägungen abhängig sein. Die
ganze sozialdemokratische „Erziehung" der Arbeitermassen hat schließlich doch nur
dazu geführt, daß sie den Schlagworten ihrer Demagogen und ihrer Zeitungen
blindlings folgen und der Vaterlandsliebe in einer Weise entfremdet worden sind,
die nirgends in Europa ihresgleichen hat, obwohl doch auch die deutsche Sozial¬
politik nirgends ihresgleichen hat. Also gebührt die Regierung der gebildeten
und denkenden patriotischen Minderheit. So ist es anch in den fortgeschrittensten
Demokratien immer gewesen. Die altgrichischen Demokratien waren thatsächlich
Massenaristokratien, und die attische Demokratie hatte ihre größte Zeit, als sie
der Leitung ihres „ersten Mannes," Perikles, folgte. Die römische Republik
stand auf ihrer Höhe, als die senatvrische Aristokratie in demokratischen Formen
regierte, nicht, als die Demagogen der Gasse mit den Fäusten und Knitteln
ihrer Wühler den Ausschlag gaben. Selbst Nordamerika verdankt seine Unab¬
hängigkeit nicht seinem Volke, das nur höchst widerwillig die notwendigen
Opfer brachte und sich für die staatsrechtlichen Fragen, um die es sich zunächst
handelte, gar nicht besonders interessirte, sondern einer kleinen Anzahl ent¬
schlossener Männer und der Hilfe Frankreichs, und die seitdem dort bestehende
Massenherrschaft hat die Union gegen die Sezession 1861 bis 1865 nur unter
den furchtbarsten Opfern behaupten können, die alles, was ein Despot wie
Napoleon I. seinem Volke zugemutet hat, weit hinter sich lassen, weil die
„Freiheit" keine wirksame militärische Organisation geduldet hatte. Und was
ist die heutige französische „Demokratie" anders, als eine Oligarchie von Börsen¬
spielern und Advokaten? Was gar eine „Diktatur des Proletariats" bedeuten
würde, das hat Frankreich zweimal mit entsetzlicher Deutlichkeit gelehrt. Die
schneidenden Worte, die der „Volksdichter" Schiller, der ein stolzer Aristokrat
war wie jeder große Mann, den greisen Sapieha in seinem „Demetrius" sagen
läßt, haben zu allen Zeiten gegolten und gelten noch heute:


Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen! -
Der Staat muß untergehn früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.

-i-


Grenzbote» IV 1897
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[0363] Politische Unreife und politische Unarten der zahllosen undurchführbaren Illusionen des Liberalismus. Es ist auch gar nicht nötig, daß sie verwirklicht wird. Der Durchschnittsmensch aller Stände kann immer nur den nächsten Kreis der politischen Beziehungen, in denen er lebt, übersehen, daneben nur wenige große, ein ganzes Volk im innersten bewegende Fragen einigermaßen verstehen, und er wird stets mehr von Em¬ pfindungen und Gewohnheiten, als von klaren Erwägungen abhängig sein. Die ganze sozialdemokratische „Erziehung" der Arbeitermassen hat schließlich doch nur dazu geführt, daß sie den Schlagworten ihrer Demagogen und ihrer Zeitungen blindlings folgen und der Vaterlandsliebe in einer Weise entfremdet worden sind, die nirgends in Europa ihresgleichen hat, obwohl doch auch die deutsche Sozial¬ politik nirgends ihresgleichen hat. Also gebührt die Regierung der gebildeten und denkenden patriotischen Minderheit. So ist es anch in den fortgeschrittensten Demokratien immer gewesen. Die altgrichischen Demokratien waren thatsächlich Massenaristokratien, und die attische Demokratie hatte ihre größte Zeit, als sie der Leitung ihres „ersten Mannes," Perikles, folgte. Die römische Republik stand auf ihrer Höhe, als die senatvrische Aristokratie in demokratischen Formen regierte, nicht, als die Demagogen der Gasse mit den Fäusten und Knitteln ihrer Wühler den Ausschlag gaben. Selbst Nordamerika verdankt seine Unab¬ hängigkeit nicht seinem Volke, das nur höchst widerwillig die notwendigen Opfer brachte und sich für die staatsrechtlichen Fragen, um die es sich zunächst handelte, gar nicht besonders interessirte, sondern einer kleinen Anzahl ent¬ schlossener Männer und der Hilfe Frankreichs, und die seitdem dort bestehende Massenherrschaft hat die Union gegen die Sezession 1861 bis 1865 nur unter den furchtbarsten Opfern behaupten können, die alles, was ein Despot wie Napoleon I. seinem Volke zugemutet hat, weit hinter sich lassen, weil die „Freiheit" keine wirksame militärische Organisation geduldet hatte. Und was ist die heutige französische „Demokratie" anders, als eine Oligarchie von Börsen¬ spielern und Advokaten? Was gar eine „Diktatur des Proletariats" bedeuten würde, das hat Frankreich zweimal mit entsetzlicher Deutlichkeit gelehrt. Die schneidenden Worte, die der „Volksdichter" Schiller, der ein stolzer Aristokrat war wie jeder große Mann, den greisen Sapieha in seinem „Demetrius" sagen läßt, haben zu allen Zeiten gegolten und gelten noch heute: Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen! - Der Staat muß untergehn früh oder spät, Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet. -i- Grenzbote» IV 1897

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/363>, abgerufen am 29.06.2024.