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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Politische Unreife und politische Unarten

und wir können den dort üblichen jubelnden Wortwitzen nur eine sehr bedingte
Bewunderung zollen. Aber eine Stadt, die im Mittelalter ihrem Landesherrn
gerade so trotzig Widerständen hat wie etwa Straßburg oder Köln seinem
Bischof, die im Frühjahr 1813 binnen wenigen Tagen 9000 Freiwillige gestellt
hat, die seit 1640 unaufhaltsam von 6000 Menschen auf 1^ Millionen ge¬
wachsen und jetzt unsre erste Industriestadt, unser wichtigster Bankplatz, ein
mächtiger geistiger Mittelpunkt und eine der prächtigsten Städte Europas ge¬
worden ist, die ist in Art und Unart so gut deutsch wie jede andre im Reiche,
und sie kann keine unnatürliche Schöpfung sein. Wir wollen wahrhaftig nicht
eine geistige und wirtschaftliche Zentralisation, wie sie die Provinzen Frankreichs
verödet hat, wir sehen vielmehr einen der größten Vorzüge Deutschlands darin,
daß eine solche nicht besteht und nie bestehen wird; aber man soll doch auch
nicht vergessen, wie sehr die Gründung unsrer Einheit auch durch den Mangel
einer großen Hauptstadt erschwert und verzögert worden ist. Ob als solche
dem einen Frankfurt a. M., dem zweiten Leipzig, dem dritten München lieber
wäre, darauf kommt es gar nicht an; genug, die historische Entwicklung hat
dazu geführt, daß sie zwischen Elbe und Oder entstanden ist, und das haben
wir anzuerkennen.

Es ist nicht anders: die politische Reife unsers Volkes ist hinter seiner
politischen Entwicklung und den immer größern Aufgaben, die sie uns stellt,
um ein beträchtliches Stück zurückgeblieben, und alte Unarten, die einer früher"
Zeit angehören, sind noch nicht verschwunden. Da dem aber so ist, so wäre
jede weitere politische Demvkratisirung Deutschlands nicht nur sinnlos, sondern
geradezu gefährlich. Kein Mensch denkt ernsthaft daran, das allgemeine Wahl¬
recht anzutasten, obwohl es gar nicht zweifelhaft ist, daß das die einzige Ein¬
richtung Fürst Bismarcks ist, die sich, uach ihren Früchten, einem Reichstag
wie dem jetzigen, beurteilt, nicht bewährt hat. Aber die Rechte dieses Reichstags
noch zu erweitern, damit etwa ein parlamentarisches Ministerium aus der Mehrheit
das Vaterland zu Schanden regiere, oder dasselbe Wahlrecht auf die Landtage
und die Gemeindevertretungen zu übertragen, vor einer solchen selbstmörderischen
Thorheit wolle uns derHimmel behüten! Soziale Freiheiten mögen gewährt werden,
so freigebig man will und kann, damit jeder, soweit es in dieser unvollkommnen
Welt möglich ist, von seinen Kräften Gebrauch machen und, soweit er vermag,
nach oben gelangen kann; aber den Anteil dieser unreifen Wählermasseu nu
der Lenkung unsrer Geschicke zu vergrößern wäre Wahnsinn. Je verwickelter
sich unsre gesamte Kultur und unser Staatsleben gestaltet, desto weniger ist
es der Masse des Volkes möglich, diese Beziehungen zu überschauen und zu
beurteile", und was man nicht beurteilen kann, davon lasse man die Hände.
Von der bekannten durch keine Sachkenntnis getrübten Objektivität ist wahr¬
haftig schon jetzt genug in unsern parlamentarischen Körperschaften vorhanden,
und vollends der Gedanke, den vierten Stand politisch zu erziehen, ist eine


Politische Unreife und politische Unarten

und wir können den dort üblichen jubelnden Wortwitzen nur eine sehr bedingte
Bewunderung zollen. Aber eine Stadt, die im Mittelalter ihrem Landesherrn
gerade so trotzig Widerständen hat wie etwa Straßburg oder Köln seinem
Bischof, die im Frühjahr 1813 binnen wenigen Tagen 9000 Freiwillige gestellt
hat, die seit 1640 unaufhaltsam von 6000 Menschen auf 1^ Millionen ge¬
wachsen und jetzt unsre erste Industriestadt, unser wichtigster Bankplatz, ein
mächtiger geistiger Mittelpunkt und eine der prächtigsten Städte Europas ge¬
worden ist, die ist in Art und Unart so gut deutsch wie jede andre im Reiche,
und sie kann keine unnatürliche Schöpfung sein. Wir wollen wahrhaftig nicht
eine geistige und wirtschaftliche Zentralisation, wie sie die Provinzen Frankreichs
verödet hat, wir sehen vielmehr einen der größten Vorzüge Deutschlands darin,
daß eine solche nicht besteht und nie bestehen wird; aber man soll doch auch
nicht vergessen, wie sehr die Gründung unsrer Einheit auch durch den Mangel
einer großen Hauptstadt erschwert und verzögert worden ist. Ob als solche
dem einen Frankfurt a. M., dem zweiten Leipzig, dem dritten München lieber
wäre, darauf kommt es gar nicht an; genug, die historische Entwicklung hat
dazu geführt, daß sie zwischen Elbe und Oder entstanden ist, und das haben
wir anzuerkennen.

Es ist nicht anders: die politische Reife unsers Volkes ist hinter seiner
politischen Entwicklung und den immer größern Aufgaben, die sie uns stellt,
um ein beträchtliches Stück zurückgeblieben, und alte Unarten, die einer früher»
Zeit angehören, sind noch nicht verschwunden. Da dem aber so ist, so wäre
jede weitere politische Demvkratisirung Deutschlands nicht nur sinnlos, sondern
geradezu gefährlich. Kein Mensch denkt ernsthaft daran, das allgemeine Wahl¬
recht anzutasten, obwohl es gar nicht zweifelhaft ist, daß das die einzige Ein¬
richtung Fürst Bismarcks ist, die sich, uach ihren Früchten, einem Reichstag
wie dem jetzigen, beurteilt, nicht bewährt hat. Aber die Rechte dieses Reichstags
noch zu erweitern, damit etwa ein parlamentarisches Ministerium aus der Mehrheit
das Vaterland zu Schanden regiere, oder dasselbe Wahlrecht auf die Landtage
und die Gemeindevertretungen zu übertragen, vor einer solchen selbstmörderischen
Thorheit wolle uns derHimmel behüten! Soziale Freiheiten mögen gewährt werden,
so freigebig man will und kann, damit jeder, soweit es in dieser unvollkommnen
Welt möglich ist, von seinen Kräften Gebrauch machen und, soweit er vermag,
nach oben gelangen kann; aber den Anteil dieser unreifen Wählermasseu nu
der Lenkung unsrer Geschicke zu vergrößern wäre Wahnsinn. Je verwickelter
sich unsre gesamte Kultur und unser Staatsleben gestaltet, desto weniger ist
es der Masse des Volkes möglich, diese Beziehungen zu überschauen und zu
beurteile», und was man nicht beurteilen kann, davon lasse man die Hände.
Von der bekannten durch keine Sachkenntnis getrübten Objektivität ist wahr¬
haftig schon jetzt genug in unsern parlamentarischen Körperschaften vorhanden,
und vollends der Gedanke, den vierten Stand politisch zu erziehen, ist eine


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[0362] Politische Unreife und politische Unarten und wir können den dort üblichen jubelnden Wortwitzen nur eine sehr bedingte Bewunderung zollen. Aber eine Stadt, die im Mittelalter ihrem Landesherrn gerade so trotzig Widerständen hat wie etwa Straßburg oder Köln seinem Bischof, die im Frühjahr 1813 binnen wenigen Tagen 9000 Freiwillige gestellt hat, die seit 1640 unaufhaltsam von 6000 Menschen auf 1^ Millionen ge¬ wachsen und jetzt unsre erste Industriestadt, unser wichtigster Bankplatz, ein mächtiger geistiger Mittelpunkt und eine der prächtigsten Städte Europas ge¬ worden ist, die ist in Art und Unart so gut deutsch wie jede andre im Reiche, und sie kann keine unnatürliche Schöpfung sein. Wir wollen wahrhaftig nicht eine geistige und wirtschaftliche Zentralisation, wie sie die Provinzen Frankreichs verödet hat, wir sehen vielmehr einen der größten Vorzüge Deutschlands darin, daß eine solche nicht besteht und nie bestehen wird; aber man soll doch auch nicht vergessen, wie sehr die Gründung unsrer Einheit auch durch den Mangel einer großen Hauptstadt erschwert und verzögert worden ist. Ob als solche dem einen Frankfurt a. M., dem zweiten Leipzig, dem dritten München lieber wäre, darauf kommt es gar nicht an; genug, die historische Entwicklung hat dazu geführt, daß sie zwischen Elbe und Oder entstanden ist, und das haben wir anzuerkennen. Es ist nicht anders: die politische Reife unsers Volkes ist hinter seiner politischen Entwicklung und den immer größern Aufgaben, die sie uns stellt, um ein beträchtliches Stück zurückgeblieben, und alte Unarten, die einer früher» Zeit angehören, sind noch nicht verschwunden. Da dem aber so ist, so wäre jede weitere politische Demvkratisirung Deutschlands nicht nur sinnlos, sondern geradezu gefährlich. Kein Mensch denkt ernsthaft daran, das allgemeine Wahl¬ recht anzutasten, obwohl es gar nicht zweifelhaft ist, daß das die einzige Ein¬ richtung Fürst Bismarcks ist, die sich, uach ihren Früchten, einem Reichstag wie dem jetzigen, beurteilt, nicht bewährt hat. Aber die Rechte dieses Reichstags noch zu erweitern, damit etwa ein parlamentarisches Ministerium aus der Mehrheit das Vaterland zu Schanden regiere, oder dasselbe Wahlrecht auf die Landtage und die Gemeindevertretungen zu übertragen, vor einer solchen selbstmörderischen Thorheit wolle uns derHimmel behüten! Soziale Freiheiten mögen gewährt werden, so freigebig man will und kann, damit jeder, soweit es in dieser unvollkommnen Welt möglich ist, von seinen Kräften Gebrauch machen und, soweit er vermag, nach oben gelangen kann; aber den Anteil dieser unreifen Wählermasseu nu der Lenkung unsrer Geschicke zu vergrößern wäre Wahnsinn. Je verwickelter sich unsre gesamte Kultur und unser Staatsleben gestaltet, desto weniger ist es der Masse des Volkes möglich, diese Beziehungen zu überschauen und zu beurteile», und was man nicht beurteilen kann, davon lasse man die Hände. Von der bekannten durch keine Sachkenntnis getrübten Objektivität ist wahr¬ haftig schon jetzt genug in unsern parlamentarischen Körperschaften vorhanden, und vollends der Gedanke, den vierten Stand politisch zu erziehen, ist eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/362>, abgerufen am 29.06.2024.