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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Politische Unreife und politische Unarten

bis Leuthen und Torgau, die den Kern des neuen Deutschlands geschaffen haben,
und die zwar sicher nicht von den "Junkern" allein erfochten worden sind, aber
ganz sicher ohne das deutsche Bürgertum. Oder man redet wohl gar von den
"Halbslawen" östlich von der Elbe, als ob nicht alle modernen Völker auf
Rassen- und Blutmischung beruhten, als ob nicht die Bevölkerung unsers
Nvrdostens in weiten Strichen genau so kerndeutsch wäre wie die unverfälsch¬
testen Urgermanen, die bloudbärtigsten Friesen und Holsten, da die Slawen über¬
haupt nur einen verhältnismäßig kleinen Teil des Landes wirklich bewohnt
haben und überdies meist geradezu vertrieben worden sind; als ob uicht endlich
gegen die Baiern und Schwaben und Rheinländer der allerdringendste Verdacht
vorläge, Keltcnblut in ihren Adern zu haben, worauf sich die Baiern in der
Rheinbundszeit sogar etwas zu gute thaten. Uns andern Deutschen mag das und
jenes am preußischen Wesen nicht gefallen, wir mögen uns zuweilen über ein
Übermaß von Büreaukratismus und Formalismus ärgern, obwohl dies Ge¬
wächs überall in Deutschland gedeiht, weil es mit dem Wesen des modernen
Staates eng zusammenhängt, wir mögen den bekannten schnarrenden Ton und
eine gewisse "Schnoddrigkeit" und Schroffheit weder schön noch liebenswürdig
finden; sind das aber wirklich Dinge, die politisch ins Gewicht fallen? Ist
es billig, es als echtgermanische Selbständigkeit zu preisen, wenn sich ein Sachse
oder Baier als solcher fühlt, dagegen sträflichen Partikulnrismus darin zu
finden, wenn ein Preuße auf seinen ruhmvollen Staat einigen Stolz empfindet?
Vergißt mau so ganz, was einst einer unsrer leidenschaftlichsten Patrioten, H. von
Treitschke, dem Reichstag als das Gesetz unsers Lebens zurief: In nLosssWis
unitÄS, in eetöri8 livsi'tÄS, in oinnil>u8 e-iritW? Historisch steht fest: unser
Reich ist von Preußen gegründet worden; es wird also nur mit Preußen oder
es wird gar nicht sein. Das deutsche Volk, von den: bekanntlich drei Fünftel
in Preußen leben, wird und kann niemals sagen: "Der Mohr hat seine
Arbeit gethan, der Mohr kann gehen." Also ziemt es sich auch nicht, aus
solchen Äußerlichkeiten Anklagen zu schmieden und alte, hundertmal widerlegte
unklare Vorstellungen der schlechten alten Zeit wieder zu beleben.

Was wird nun endlich beständig über die neue Reichshauptstadt rüsonnirt!
Es erscheint beinahe als eine Anmaßung, daß sie sein will,.was sie ist. Nun,
für die Politik der Berliner Wählerschaft begeistern wir uns gerade so wenig
wie für die der bairischen Vauernbündler, obwohl sie immerhin noch nicht soweit
gelangt ist, wie die freie und Hansestadt Hamburg, die nnr noch Sozialdemo¬
kraten in den Reichstag schickt, um die erste Hafenstadt des europäischen Fest¬
landes sachverständig zu vertreten, und obwohl die Stimmung, alles zu wissen
und jedenfalls besser zu wissen als andre Leute, daher alles absprechend zu kriti-
siren, überhaupt eine großstädtische Eigentümlichkeit ist; wir sehen in dem jüngsten
Beschlusse der fortschrittlich-sozialdemokratischen Stadtverordnetenversammlung,
den Barrikadenheldcn von 1848 ein Denkmal zu setzen, eine freche Thorheit,


Politische Unreife und politische Unarten

bis Leuthen und Torgau, die den Kern des neuen Deutschlands geschaffen haben,
und die zwar sicher nicht von den „Junkern" allein erfochten worden sind, aber
ganz sicher ohne das deutsche Bürgertum. Oder man redet wohl gar von den
„Halbslawen" östlich von der Elbe, als ob nicht alle modernen Völker auf
Rassen- und Blutmischung beruhten, als ob nicht die Bevölkerung unsers
Nvrdostens in weiten Strichen genau so kerndeutsch wäre wie die unverfälsch¬
testen Urgermanen, die bloudbärtigsten Friesen und Holsten, da die Slawen über¬
haupt nur einen verhältnismäßig kleinen Teil des Landes wirklich bewohnt
haben und überdies meist geradezu vertrieben worden sind; als ob uicht endlich
gegen die Baiern und Schwaben und Rheinländer der allerdringendste Verdacht
vorläge, Keltcnblut in ihren Adern zu haben, worauf sich die Baiern in der
Rheinbundszeit sogar etwas zu gute thaten. Uns andern Deutschen mag das und
jenes am preußischen Wesen nicht gefallen, wir mögen uns zuweilen über ein
Übermaß von Büreaukratismus und Formalismus ärgern, obwohl dies Ge¬
wächs überall in Deutschland gedeiht, weil es mit dem Wesen des modernen
Staates eng zusammenhängt, wir mögen den bekannten schnarrenden Ton und
eine gewisse „Schnoddrigkeit" und Schroffheit weder schön noch liebenswürdig
finden; sind das aber wirklich Dinge, die politisch ins Gewicht fallen? Ist
es billig, es als echtgermanische Selbständigkeit zu preisen, wenn sich ein Sachse
oder Baier als solcher fühlt, dagegen sträflichen Partikulnrismus darin zu
finden, wenn ein Preuße auf seinen ruhmvollen Staat einigen Stolz empfindet?
Vergißt mau so ganz, was einst einer unsrer leidenschaftlichsten Patrioten, H. von
Treitschke, dem Reichstag als das Gesetz unsers Lebens zurief: In nLosssWis
unitÄS, in eetöri8 livsi'tÄS, in oinnil>u8 e-iritW? Historisch steht fest: unser
Reich ist von Preußen gegründet worden; es wird also nur mit Preußen oder
es wird gar nicht sein. Das deutsche Volk, von den: bekanntlich drei Fünftel
in Preußen leben, wird und kann niemals sagen: „Der Mohr hat seine
Arbeit gethan, der Mohr kann gehen." Also ziemt es sich auch nicht, aus
solchen Äußerlichkeiten Anklagen zu schmieden und alte, hundertmal widerlegte
unklare Vorstellungen der schlechten alten Zeit wieder zu beleben.

Was wird nun endlich beständig über die neue Reichshauptstadt rüsonnirt!
Es erscheint beinahe als eine Anmaßung, daß sie sein will,.was sie ist. Nun,
für die Politik der Berliner Wählerschaft begeistern wir uns gerade so wenig
wie für die der bairischen Vauernbündler, obwohl sie immerhin noch nicht soweit
gelangt ist, wie die freie und Hansestadt Hamburg, die nnr noch Sozialdemo¬
kraten in den Reichstag schickt, um die erste Hafenstadt des europäischen Fest¬
landes sachverständig zu vertreten, und obwohl die Stimmung, alles zu wissen
und jedenfalls besser zu wissen als andre Leute, daher alles absprechend zu kriti-
siren, überhaupt eine großstädtische Eigentümlichkeit ist; wir sehen in dem jüngsten
Beschlusse der fortschrittlich-sozialdemokratischen Stadtverordnetenversammlung,
den Barrikadenheldcn von 1848 ein Denkmal zu setzen, eine freche Thorheit,


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[0361] Politische Unreife und politische Unarten bis Leuthen und Torgau, die den Kern des neuen Deutschlands geschaffen haben, und die zwar sicher nicht von den „Junkern" allein erfochten worden sind, aber ganz sicher ohne das deutsche Bürgertum. Oder man redet wohl gar von den „Halbslawen" östlich von der Elbe, als ob nicht alle modernen Völker auf Rassen- und Blutmischung beruhten, als ob nicht die Bevölkerung unsers Nvrdostens in weiten Strichen genau so kerndeutsch wäre wie die unverfälsch¬ testen Urgermanen, die bloudbärtigsten Friesen und Holsten, da die Slawen über¬ haupt nur einen verhältnismäßig kleinen Teil des Landes wirklich bewohnt haben und überdies meist geradezu vertrieben worden sind; als ob uicht endlich gegen die Baiern und Schwaben und Rheinländer der allerdringendste Verdacht vorläge, Keltcnblut in ihren Adern zu haben, worauf sich die Baiern in der Rheinbundszeit sogar etwas zu gute thaten. Uns andern Deutschen mag das und jenes am preußischen Wesen nicht gefallen, wir mögen uns zuweilen über ein Übermaß von Büreaukratismus und Formalismus ärgern, obwohl dies Ge¬ wächs überall in Deutschland gedeiht, weil es mit dem Wesen des modernen Staates eng zusammenhängt, wir mögen den bekannten schnarrenden Ton und eine gewisse „Schnoddrigkeit" und Schroffheit weder schön noch liebenswürdig finden; sind das aber wirklich Dinge, die politisch ins Gewicht fallen? Ist es billig, es als echtgermanische Selbständigkeit zu preisen, wenn sich ein Sachse oder Baier als solcher fühlt, dagegen sträflichen Partikulnrismus darin zu finden, wenn ein Preuße auf seinen ruhmvollen Staat einigen Stolz empfindet? Vergißt mau so ganz, was einst einer unsrer leidenschaftlichsten Patrioten, H. von Treitschke, dem Reichstag als das Gesetz unsers Lebens zurief: In nLosssWis unitÄS, in eetöri8 livsi'tÄS, in oinnil>u8 e-iritW? Historisch steht fest: unser Reich ist von Preußen gegründet worden; es wird also nur mit Preußen oder es wird gar nicht sein. Das deutsche Volk, von den: bekanntlich drei Fünftel in Preußen leben, wird und kann niemals sagen: „Der Mohr hat seine Arbeit gethan, der Mohr kann gehen." Also ziemt es sich auch nicht, aus solchen Äußerlichkeiten Anklagen zu schmieden und alte, hundertmal widerlegte unklare Vorstellungen der schlechten alten Zeit wieder zu beleben. Was wird nun endlich beständig über die neue Reichshauptstadt rüsonnirt! Es erscheint beinahe als eine Anmaßung, daß sie sein will,.was sie ist. Nun, für die Politik der Berliner Wählerschaft begeistern wir uns gerade so wenig wie für die der bairischen Vauernbündler, obwohl sie immerhin noch nicht soweit gelangt ist, wie die freie und Hansestadt Hamburg, die nnr noch Sozialdemo¬ kraten in den Reichstag schickt, um die erste Hafenstadt des europäischen Fest¬ landes sachverständig zu vertreten, und obwohl die Stimmung, alles zu wissen und jedenfalls besser zu wissen als andre Leute, daher alles absprechend zu kriti- siren, überhaupt eine großstädtische Eigentümlichkeit ist; wir sehen in dem jüngsten Beschlusse der fortschrittlich-sozialdemokratischen Stadtverordnetenversammlung, den Barrikadenheldcn von 1848 ein Denkmal zu setzen, eine freche Thorheit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/361>, abgerufen am 28.09.2024.