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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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politische Unreife und politische Unarten

Bestand des Reichs herzuleiten, oder fortwährend von "Opfern" zu reden, die
die Einzelstaaten dem Reiche hätten bringen müssen und noch bringen müßten!
Als ob die Einzelstaaten überhaupt ohne das Reich noch bestehen könnten, als
ob es nicht in ihrem eignen Interesse läge, daß es begründet worden ist und
besteht, als ob die meisten von ihnen nicht eine Beute jedes starken Nachbarn
werden müßten ohne das Reich! Der Staat ist überhaupt in erster Linie
Macht und nicht eine Versicherungsanstalt für berechtigte Eigentümlichkeiten,
nicht die schwache Mutter, die ihren Kindern jeden noch so unverständigen
Wunsch erfüllt, und das Reich ist nicht gegründet worden, um die kleidsame
Uniform der bairischen Postillone zu erhalten, die wir ihnen und den Baiern
übrigens von Herzen gönnen, oder den zweireihigen Waffenrock des dreizehnten
(königlich württembergischen) Armeekorps, das sich diesen Mehrverbranch von
Knöpfen immerhin auch künftig gestatten mag, wenn ihn das Selbstgefühl
der Schwaben verlangt, sondern das Reich ist gegründet worden, um die Existenz
der deutschen Nation zu sichern. Aber die große Mehrheit dieser Nation ist
immer noch nicht über den kindlichen Standpunkt hinaus, daß sie zwar
deutsche Vaterlandslieder singt, patriotische Feste feiert, Kaiser und Reich
hochleben laßt und Denkmäler setzt, dagegen, sobald das Reich an eine lieb-
gewordne Gewohnheit oder auch nur an ein altes Vorurteil zu rühren scheint,
über Vergewaltigung und Gefährdung der Reichsgesinnung zu schreien anfängt.
Abermals ein Beweis für unsre politische "Reife"! Verstündige, denkende
Männer, die Deutsche sein wollen, sollten sich schämen, dergleichen nachzusprechen
oder auch nur zu dulden.

Teilweise hängt das nun mit der viel erörterten Abneigung gegen das
"Preußische" zusammen. schlechthin lächerliche Anschauungen, die vor dreißig
und mehr Jahren laut wurden, wagen sich heute gelegentlich wieder hervor.
Da sollen die Süd- und Westdeutschen politisch "reifer" sein als der Norden,
weil die süddeutsche" Landtage um dreißig Jahre älter sind als der preußische
und weil dort ein paar Bürgerliche mehr in Heer und Staat angestellt werden
als in Preußen. Als ob darin allein die politische Reife und der politische
Fortschritt läge, und beide nicht vielmehr in der Stärke der Stciats-
gesinnung beruhten! Von diesem Standpunkt ans hat sich die politische Reife
des süddeutschen Liberalismus in seiner größten Schöpfung, dem Frankfurter
Parlament von 1848/49, herzlich schlecht bewährt, denn ihm fehlte der Sir"
für die Bedeutung der Macht, der sich in seinem kleinstaatlichen Bildungsgange
auch gar nicht entwickeln konnte, und die Kinderkrankheiten dieses Bildungsganges
ist unser ganzer Liberalismus noch heute nicht los geworden. Oder man er¬
eifert sich gegen die ostclbischcn "Junker" als ein despotisches Herrenvolk, das
ausgerottet werden müsse, um das versklavte Bauernvolk zu befreien, man
fällt zurück in die liberale Unart, ihnen höhnisch Jena als ihre größte Leistung
vorzuhalten, und vergißt darüber die Reihe strahlender Siege von Fehrbellin


politische Unreife und politische Unarten

Bestand des Reichs herzuleiten, oder fortwährend von „Opfern" zu reden, die
die Einzelstaaten dem Reiche hätten bringen müssen und noch bringen müßten!
Als ob die Einzelstaaten überhaupt ohne das Reich noch bestehen könnten, als
ob es nicht in ihrem eignen Interesse läge, daß es begründet worden ist und
besteht, als ob die meisten von ihnen nicht eine Beute jedes starken Nachbarn
werden müßten ohne das Reich! Der Staat ist überhaupt in erster Linie
Macht und nicht eine Versicherungsanstalt für berechtigte Eigentümlichkeiten,
nicht die schwache Mutter, die ihren Kindern jeden noch so unverständigen
Wunsch erfüllt, und das Reich ist nicht gegründet worden, um die kleidsame
Uniform der bairischen Postillone zu erhalten, die wir ihnen und den Baiern
übrigens von Herzen gönnen, oder den zweireihigen Waffenrock des dreizehnten
(königlich württembergischen) Armeekorps, das sich diesen Mehrverbranch von
Knöpfen immerhin auch künftig gestatten mag, wenn ihn das Selbstgefühl
der Schwaben verlangt, sondern das Reich ist gegründet worden, um die Existenz
der deutschen Nation zu sichern. Aber die große Mehrheit dieser Nation ist
immer noch nicht über den kindlichen Standpunkt hinaus, daß sie zwar
deutsche Vaterlandslieder singt, patriotische Feste feiert, Kaiser und Reich
hochleben laßt und Denkmäler setzt, dagegen, sobald das Reich an eine lieb-
gewordne Gewohnheit oder auch nur an ein altes Vorurteil zu rühren scheint,
über Vergewaltigung und Gefährdung der Reichsgesinnung zu schreien anfängt.
Abermals ein Beweis für unsre politische „Reife"! Verstündige, denkende
Männer, die Deutsche sein wollen, sollten sich schämen, dergleichen nachzusprechen
oder auch nur zu dulden.

Teilweise hängt das nun mit der viel erörterten Abneigung gegen das
„Preußische" zusammen. schlechthin lächerliche Anschauungen, die vor dreißig
und mehr Jahren laut wurden, wagen sich heute gelegentlich wieder hervor.
Da sollen die Süd- und Westdeutschen politisch „reifer" sein als der Norden,
weil die süddeutsche» Landtage um dreißig Jahre älter sind als der preußische
und weil dort ein paar Bürgerliche mehr in Heer und Staat angestellt werden
als in Preußen. Als ob darin allein die politische Reife und der politische
Fortschritt läge, und beide nicht vielmehr in der Stärke der Stciats-
gesinnung beruhten! Von diesem Standpunkt ans hat sich die politische Reife
des süddeutschen Liberalismus in seiner größten Schöpfung, dem Frankfurter
Parlament von 1848/49, herzlich schlecht bewährt, denn ihm fehlte der Sir»
für die Bedeutung der Macht, der sich in seinem kleinstaatlichen Bildungsgange
auch gar nicht entwickeln konnte, und die Kinderkrankheiten dieses Bildungsganges
ist unser ganzer Liberalismus noch heute nicht los geworden. Oder man er¬
eifert sich gegen die ostclbischcn „Junker" als ein despotisches Herrenvolk, das
ausgerottet werden müsse, um das versklavte Bauernvolk zu befreien, man
fällt zurück in die liberale Unart, ihnen höhnisch Jena als ihre größte Leistung
vorzuhalten, und vergißt darüber die Reihe strahlender Siege von Fehrbellin


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[0360] politische Unreife und politische Unarten Bestand des Reichs herzuleiten, oder fortwährend von „Opfern" zu reden, die die Einzelstaaten dem Reiche hätten bringen müssen und noch bringen müßten! Als ob die Einzelstaaten überhaupt ohne das Reich noch bestehen könnten, als ob es nicht in ihrem eignen Interesse läge, daß es begründet worden ist und besteht, als ob die meisten von ihnen nicht eine Beute jedes starken Nachbarn werden müßten ohne das Reich! Der Staat ist überhaupt in erster Linie Macht und nicht eine Versicherungsanstalt für berechtigte Eigentümlichkeiten, nicht die schwache Mutter, die ihren Kindern jeden noch so unverständigen Wunsch erfüllt, und das Reich ist nicht gegründet worden, um die kleidsame Uniform der bairischen Postillone zu erhalten, die wir ihnen und den Baiern übrigens von Herzen gönnen, oder den zweireihigen Waffenrock des dreizehnten (königlich württembergischen) Armeekorps, das sich diesen Mehrverbranch von Knöpfen immerhin auch künftig gestatten mag, wenn ihn das Selbstgefühl der Schwaben verlangt, sondern das Reich ist gegründet worden, um die Existenz der deutschen Nation zu sichern. Aber die große Mehrheit dieser Nation ist immer noch nicht über den kindlichen Standpunkt hinaus, daß sie zwar deutsche Vaterlandslieder singt, patriotische Feste feiert, Kaiser und Reich hochleben laßt und Denkmäler setzt, dagegen, sobald das Reich an eine lieb- gewordne Gewohnheit oder auch nur an ein altes Vorurteil zu rühren scheint, über Vergewaltigung und Gefährdung der Reichsgesinnung zu schreien anfängt. Abermals ein Beweis für unsre politische „Reife"! Verstündige, denkende Männer, die Deutsche sein wollen, sollten sich schämen, dergleichen nachzusprechen oder auch nur zu dulden. Teilweise hängt das nun mit der viel erörterten Abneigung gegen das „Preußische" zusammen. schlechthin lächerliche Anschauungen, die vor dreißig und mehr Jahren laut wurden, wagen sich heute gelegentlich wieder hervor. Da sollen die Süd- und Westdeutschen politisch „reifer" sein als der Norden, weil die süddeutsche» Landtage um dreißig Jahre älter sind als der preußische und weil dort ein paar Bürgerliche mehr in Heer und Staat angestellt werden als in Preußen. Als ob darin allein die politische Reife und der politische Fortschritt läge, und beide nicht vielmehr in der Stärke der Stciats- gesinnung beruhten! Von diesem Standpunkt ans hat sich die politische Reife des süddeutschen Liberalismus in seiner größten Schöpfung, dem Frankfurter Parlament von 1848/49, herzlich schlecht bewährt, denn ihm fehlte der Sir» für die Bedeutung der Macht, der sich in seinem kleinstaatlichen Bildungsgange auch gar nicht entwickeln konnte, und die Kinderkrankheiten dieses Bildungsganges ist unser ganzer Liberalismus noch heute nicht los geworden. Oder man er¬ eifert sich gegen die ostclbischcn „Junker" als ein despotisches Herrenvolk, das ausgerottet werden müsse, um das versklavte Bauernvolk zu befreien, man fällt zurück in die liberale Unart, ihnen höhnisch Jena als ihre größte Leistung vorzuhalten, und vergißt darüber die Reihe strahlender Siege von Fehrbellin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/360>, abgerufen am 29.06.2024.