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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Politische Unreife und politische Unarten

Geschichte des Reichstags aufrollen, das unrühmlichste deshalb, weil es leer
blieb, als der Schöpfer des Reichs verabschiedet worden war. Aber wir fragen:
Ist dieser Reichstag wirklich die Blüte, die wahre Vertretung der Lebens¬
interessen unsrer Nation? Und wir antworten laut: Nein und tausendmal
nein! Denn wie heute im sinkenden Österreich jeder Stamm seine Sonder¬
interessen über das Wohl des Ganzen setzt, so steht den Mehrheitsparteien
unsers Reichstags nicht etwa das wahre Interesse großer Bevölkerungsgruppen,
sondern ihr "Programm," d. h. ein Gemisch von Schlagworten und Phrasen,
höher als das Vaterland: dem Zentrum die Freiheit der römischen Kirche,
die, recht verstanden, kein Mensch bei uns bedroht, die aber, im ultramontanen
Sinne verstanden, kein Staat, weder ein protestantischer noch ein katholischer
noch ein paritätischer, zugestehen kann, weil es zwei souveräne Gewalten in
demselben Staate nicht geben kann; den Sozialdemokraten der nebelhafte
Zukunftsstaat oder auch die etwas realere "Diktatur des Proletariats," also
des souveränen Unverstandes oder, praktisch genommen, die Herrschaft einiger
sei es idealistischer, sei es ehrgeiziger Demagogen; den Freisinnigen die parla¬
mentarische Regierungsform, die sie für Deutschland als eine Unmöglichkeit zu
erweisen sich doch jeden Tag eifrig bemühen, indem sie ihre eigne Regierungs¬
unfähigkeit fortwährend glänzend darthun; den Welfen eine Legitimität, die
alles, was die Vertrüge von 1815 geschaffen haben, als ein unantastbares
Heiligtum ansteht, ohne sich zu sagen, daß diese Vertrüge selbst auf einer ganzen
Kette von formellen Nechtsbrttchen beruhten, und daß die Weltgeschichte schon
oft genug über besser begründete Rechte, wenn ihre Zeit um war, hinweg-
geschritten ist. Auch die Konservativen sind fast reine Agrarier geworden, die
Nationalliberalen vertreten nur noch gewisse Interessen des besitzenden Bürger¬
tums und große Traditionen. Das sind unsre gegenwärtigen Parteien! Da
ist "keine, die gutes thue, auch nicht eine." Und dieser Reichstag bringt
unzweifelhaft die Meinung seiner Wähler zum Ausdruck, also des deutscheu
Volkes, soweit es wählt! Giebt es einen stärkern Beweis politischer Unreife?

Früher hat es der Reichstag zuweilen verstanden, große Fragen groß zu
behandeln. Auch das scheint sich jetzt ändern zu sollen. Was ist das für
eine politische Reife, die in einem Atem Deutschlands Verwandlung in einen
Industrie- und Handelsstaat fordert und doch gegen eine starke Flotte schreit? die
das Interesse des "vierten Standes" zu vertreten behauptet und doch die Mittel
nicht will, den Waren, die hauptsächlich doch er hervorbringt, den Weltmarkt
zu sichern und damit den Arbeitern die Existenz? die der Regierung die bittersten
Vorwürfe macht, wenn sie irgendwo, heute in China, morgen in Haiti, deutsche
Interessen nicht wirksam schützt, und doch nicht will, daß ihr der Reichstag
die erforderlichen Schiffe bewilligt? Und warum? weil der Admiral Hollmann
die Marinevorlage vielleicht nicht besonders geschickt vertreten hat, und weil
der Kaiser ganz persönlich dafür eintritt. Denn wenn das Reichsoberhaupt
etwas dringend empfiehlt, dann fordert nicht etwa der Patriotismus, es zu


Politische Unreife und politische Unarten

Geschichte des Reichstags aufrollen, das unrühmlichste deshalb, weil es leer
blieb, als der Schöpfer des Reichs verabschiedet worden war. Aber wir fragen:
Ist dieser Reichstag wirklich die Blüte, die wahre Vertretung der Lebens¬
interessen unsrer Nation? Und wir antworten laut: Nein und tausendmal
nein! Denn wie heute im sinkenden Österreich jeder Stamm seine Sonder¬
interessen über das Wohl des Ganzen setzt, so steht den Mehrheitsparteien
unsers Reichstags nicht etwa das wahre Interesse großer Bevölkerungsgruppen,
sondern ihr „Programm," d. h. ein Gemisch von Schlagworten und Phrasen,
höher als das Vaterland: dem Zentrum die Freiheit der römischen Kirche,
die, recht verstanden, kein Mensch bei uns bedroht, die aber, im ultramontanen
Sinne verstanden, kein Staat, weder ein protestantischer noch ein katholischer
noch ein paritätischer, zugestehen kann, weil es zwei souveräne Gewalten in
demselben Staate nicht geben kann; den Sozialdemokraten der nebelhafte
Zukunftsstaat oder auch die etwas realere „Diktatur des Proletariats," also
des souveränen Unverstandes oder, praktisch genommen, die Herrschaft einiger
sei es idealistischer, sei es ehrgeiziger Demagogen; den Freisinnigen die parla¬
mentarische Regierungsform, die sie für Deutschland als eine Unmöglichkeit zu
erweisen sich doch jeden Tag eifrig bemühen, indem sie ihre eigne Regierungs¬
unfähigkeit fortwährend glänzend darthun; den Welfen eine Legitimität, die
alles, was die Vertrüge von 1815 geschaffen haben, als ein unantastbares
Heiligtum ansteht, ohne sich zu sagen, daß diese Vertrüge selbst auf einer ganzen
Kette von formellen Nechtsbrttchen beruhten, und daß die Weltgeschichte schon
oft genug über besser begründete Rechte, wenn ihre Zeit um war, hinweg-
geschritten ist. Auch die Konservativen sind fast reine Agrarier geworden, die
Nationalliberalen vertreten nur noch gewisse Interessen des besitzenden Bürger¬
tums und große Traditionen. Das sind unsre gegenwärtigen Parteien! Da
ist „keine, die gutes thue, auch nicht eine." Und dieser Reichstag bringt
unzweifelhaft die Meinung seiner Wähler zum Ausdruck, also des deutscheu
Volkes, soweit es wählt! Giebt es einen stärkern Beweis politischer Unreife?

Früher hat es der Reichstag zuweilen verstanden, große Fragen groß zu
behandeln. Auch das scheint sich jetzt ändern zu sollen. Was ist das für
eine politische Reife, die in einem Atem Deutschlands Verwandlung in einen
Industrie- und Handelsstaat fordert und doch gegen eine starke Flotte schreit? die
das Interesse des „vierten Standes" zu vertreten behauptet und doch die Mittel
nicht will, den Waren, die hauptsächlich doch er hervorbringt, den Weltmarkt
zu sichern und damit den Arbeitern die Existenz? die der Regierung die bittersten
Vorwürfe macht, wenn sie irgendwo, heute in China, morgen in Haiti, deutsche
Interessen nicht wirksam schützt, und doch nicht will, daß ihr der Reichstag
die erforderlichen Schiffe bewilligt? Und warum? weil der Admiral Hollmann
die Marinevorlage vielleicht nicht besonders geschickt vertreten hat, und weil
der Kaiser ganz persönlich dafür eintritt. Denn wenn das Reichsoberhaupt
etwas dringend empfiehlt, dann fordert nicht etwa der Patriotismus, es zu


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[0357] Politische Unreife und politische Unarten Geschichte des Reichstags aufrollen, das unrühmlichste deshalb, weil es leer blieb, als der Schöpfer des Reichs verabschiedet worden war. Aber wir fragen: Ist dieser Reichstag wirklich die Blüte, die wahre Vertretung der Lebens¬ interessen unsrer Nation? Und wir antworten laut: Nein und tausendmal nein! Denn wie heute im sinkenden Österreich jeder Stamm seine Sonder¬ interessen über das Wohl des Ganzen setzt, so steht den Mehrheitsparteien unsers Reichstags nicht etwa das wahre Interesse großer Bevölkerungsgruppen, sondern ihr „Programm," d. h. ein Gemisch von Schlagworten und Phrasen, höher als das Vaterland: dem Zentrum die Freiheit der römischen Kirche, die, recht verstanden, kein Mensch bei uns bedroht, die aber, im ultramontanen Sinne verstanden, kein Staat, weder ein protestantischer noch ein katholischer noch ein paritätischer, zugestehen kann, weil es zwei souveräne Gewalten in demselben Staate nicht geben kann; den Sozialdemokraten der nebelhafte Zukunftsstaat oder auch die etwas realere „Diktatur des Proletariats," also des souveränen Unverstandes oder, praktisch genommen, die Herrschaft einiger sei es idealistischer, sei es ehrgeiziger Demagogen; den Freisinnigen die parla¬ mentarische Regierungsform, die sie für Deutschland als eine Unmöglichkeit zu erweisen sich doch jeden Tag eifrig bemühen, indem sie ihre eigne Regierungs¬ unfähigkeit fortwährend glänzend darthun; den Welfen eine Legitimität, die alles, was die Vertrüge von 1815 geschaffen haben, als ein unantastbares Heiligtum ansteht, ohne sich zu sagen, daß diese Vertrüge selbst auf einer ganzen Kette von formellen Nechtsbrttchen beruhten, und daß die Weltgeschichte schon oft genug über besser begründete Rechte, wenn ihre Zeit um war, hinweg- geschritten ist. Auch die Konservativen sind fast reine Agrarier geworden, die Nationalliberalen vertreten nur noch gewisse Interessen des besitzenden Bürger¬ tums und große Traditionen. Das sind unsre gegenwärtigen Parteien! Da ist „keine, die gutes thue, auch nicht eine." Und dieser Reichstag bringt unzweifelhaft die Meinung seiner Wähler zum Ausdruck, also des deutscheu Volkes, soweit es wählt! Giebt es einen stärkern Beweis politischer Unreife? Früher hat es der Reichstag zuweilen verstanden, große Fragen groß zu behandeln. Auch das scheint sich jetzt ändern zu sollen. Was ist das für eine politische Reife, die in einem Atem Deutschlands Verwandlung in einen Industrie- und Handelsstaat fordert und doch gegen eine starke Flotte schreit? die das Interesse des „vierten Standes" zu vertreten behauptet und doch die Mittel nicht will, den Waren, die hauptsächlich doch er hervorbringt, den Weltmarkt zu sichern und damit den Arbeitern die Existenz? die der Regierung die bittersten Vorwürfe macht, wenn sie irgendwo, heute in China, morgen in Haiti, deutsche Interessen nicht wirksam schützt, und doch nicht will, daß ihr der Reichstag die erforderlichen Schiffe bewilligt? Und warum? weil der Admiral Hollmann die Marinevorlage vielleicht nicht besonders geschickt vertreten hat, und weil der Kaiser ganz persönlich dafür eintritt. Denn wenn das Reichsoberhaupt etwas dringend empfiehlt, dann fordert nicht etwa der Patriotismus, es zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/357>, abgerufen am 29.06.2024.