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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Politische Unreife und politische Unarten

und des deutschen Klerus, der damals nationaler war als jemals später.
Aber eine wirklich haltbare Reichsordnung kam doch nicht zustande, und als
die Neuzeit anbrach, da war das Reich ein loser Bundesstaat unter einem
ohnmächtigen Oberhaupte geworden. Im sechzehnten und siebzehnten Jahr¬
hundert drängten dann die kirchlichen Interessen alle andern derart in den
Hintergrund, daß wir unsre alte Reichsverfassung, unsre Kultur, unsre Welt¬
stellung opferten und opfern mußten, um für uns und die Welt die Freiheit
des Glaubens und der Bildung zu retten. Im achtzehnten Jahrhundert
hatte sich der fürstlich-absolute Staat selbst die Gebildeten so vollständig ent¬
fremdet, daß sie die Vaterlandsliebe für eine Empfindung unreifer Völker
hielten und lieber Weltbürger als Deutsche sein wollten. Erst die furchtbare
Not der Fremdherrschaft zwang sie zur Rückkehr aus dieser Traumwelt auf
den Boden der Wirklichkeit, zum festen Anschluß an den Staat, der allein
diese ganze reiche Bildung vor der Verkümmerung retten konnte. Seitdem
wurde das deutsche Bürgertum der Nährboden des nationalstaatlichen Ideals.
Aber als dies Bürgertum nun 1848/49 selbst Hand anlegte, um es, zunächst in
Widerspruch mit den Regierungen, zu verwirklichen, da trat bei dem bürger¬
lichen Liberalismus die Notwendigkeit der politischen Einheit hinter den so¬
genannten Freiheitsfragen so stark zurück, und die Unfähigkeit, mit der harten
Wirklichkeit zu rechnen, so stark hervor, daß mau die Einheit und die Freiheit
zugleich verspielte und mit Jahren harter Reaktion den eignen Unverstand und
die eigne politische Unreife büßte. Erst als die monarchisch-konservativen Kräfte
die Verwirklichung der nationalen Idee übernahmen, da gelang sie; aber nur
mit dem Schwerte, unter dem leidenschaftlichen Widerspruch des größten
Teils der Liberalen wurden die Grundlagen gewonnen, und es blieb ein
Beweis politischer Unreife, daß der Sieger sie der Mehrheit unsers Volkes
aufzwingen mußte. Erst bei der Begründung und dem Ausbau des Reichs
war die Nation mit ganzer Seele dabei, nicht nnr auf dem Schlachtfelde,
sondern auch im Rate, und das bleibt der beste Ruhm des liberalen Bürger¬
tums; aber gegründet hat es das Reich nicht, gegründet hat es eine kleine
Gruppe bedeutender Männer, die das Lebensinteresse der Nation besser begriffen
als diese selbst in ihrer großen Mehrheit.

Das ist tief demütigend, aber es ist so, und es ist so begründet, daß wir
überhaupt zweifeln müssen, ob wir schon das Recht haben, uns eine große
Nation zu nennen, obwohl wir die größten Männer der Neuzeit die unsern
nennen dürfen; eine politisch reife Nation sind wir noch nicht, und sast jeder
Tag liefert uns dafür beschämende neue Beweise. Wir wollen jetzt nicht davon
reden, daß es dem Fürsten Vismarck auch auf der Höhe seiner Macht niemals
gelungen ist, eine sichere Mehrheit im Reichstage zu finden, und daß er dort
oft genug mit einem Maße von Unverstand und kleinlicher Bosheit zu kämpfen
gehabt hat, für das es keinen parlamentarischen Ausdruck giebt; wir wollen
auch nicht das unrühmlichste Blatt in der überhaupt nur teilweise rühmlichen


Politische Unreife und politische Unarten

und des deutschen Klerus, der damals nationaler war als jemals später.
Aber eine wirklich haltbare Reichsordnung kam doch nicht zustande, und als
die Neuzeit anbrach, da war das Reich ein loser Bundesstaat unter einem
ohnmächtigen Oberhaupte geworden. Im sechzehnten und siebzehnten Jahr¬
hundert drängten dann die kirchlichen Interessen alle andern derart in den
Hintergrund, daß wir unsre alte Reichsverfassung, unsre Kultur, unsre Welt¬
stellung opferten und opfern mußten, um für uns und die Welt die Freiheit
des Glaubens und der Bildung zu retten. Im achtzehnten Jahrhundert
hatte sich der fürstlich-absolute Staat selbst die Gebildeten so vollständig ent¬
fremdet, daß sie die Vaterlandsliebe für eine Empfindung unreifer Völker
hielten und lieber Weltbürger als Deutsche sein wollten. Erst die furchtbare
Not der Fremdherrschaft zwang sie zur Rückkehr aus dieser Traumwelt auf
den Boden der Wirklichkeit, zum festen Anschluß an den Staat, der allein
diese ganze reiche Bildung vor der Verkümmerung retten konnte. Seitdem
wurde das deutsche Bürgertum der Nährboden des nationalstaatlichen Ideals.
Aber als dies Bürgertum nun 1848/49 selbst Hand anlegte, um es, zunächst in
Widerspruch mit den Regierungen, zu verwirklichen, da trat bei dem bürger¬
lichen Liberalismus die Notwendigkeit der politischen Einheit hinter den so¬
genannten Freiheitsfragen so stark zurück, und die Unfähigkeit, mit der harten
Wirklichkeit zu rechnen, so stark hervor, daß mau die Einheit und die Freiheit
zugleich verspielte und mit Jahren harter Reaktion den eignen Unverstand und
die eigne politische Unreife büßte. Erst als die monarchisch-konservativen Kräfte
die Verwirklichung der nationalen Idee übernahmen, da gelang sie; aber nur
mit dem Schwerte, unter dem leidenschaftlichen Widerspruch des größten
Teils der Liberalen wurden die Grundlagen gewonnen, und es blieb ein
Beweis politischer Unreife, daß der Sieger sie der Mehrheit unsers Volkes
aufzwingen mußte. Erst bei der Begründung und dem Ausbau des Reichs
war die Nation mit ganzer Seele dabei, nicht nnr auf dem Schlachtfelde,
sondern auch im Rate, und das bleibt der beste Ruhm des liberalen Bürger¬
tums; aber gegründet hat es das Reich nicht, gegründet hat es eine kleine
Gruppe bedeutender Männer, die das Lebensinteresse der Nation besser begriffen
als diese selbst in ihrer großen Mehrheit.

Das ist tief demütigend, aber es ist so, und es ist so begründet, daß wir
überhaupt zweifeln müssen, ob wir schon das Recht haben, uns eine große
Nation zu nennen, obwohl wir die größten Männer der Neuzeit die unsern
nennen dürfen; eine politisch reife Nation sind wir noch nicht, und sast jeder
Tag liefert uns dafür beschämende neue Beweise. Wir wollen jetzt nicht davon
reden, daß es dem Fürsten Vismarck auch auf der Höhe seiner Macht niemals
gelungen ist, eine sichere Mehrheit im Reichstage zu finden, und daß er dort
oft genug mit einem Maße von Unverstand und kleinlicher Bosheit zu kämpfen
gehabt hat, für das es keinen parlamentarischen Ausdruck giebt; wir wollen
auch nicht das unrühmlichste Blatt in der überhaupt nur teilweise rühmlichen


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[0356] Politische Unreife und politische Unarten und des deutschen Klerus, der damals nationaler war als jemals später. Aber eine wirklich haltbare Reichsordnung kam doch nicht zustande, und als die Neuzeit anbrach, da war das Reich ein loser Bundesstaat unter einem ohnmächtigen Oberhaupte geworden. Im sechzehnten und siebzehnten Jahr¬ hundert drängten dann die kirchlichen Interessen alle andern derart in den Hintergrund, daß wir unsre alte Reichsverfassung, unsre Kultur, unsre Welt¬ stellung opferten und opfern mußten, um für uns und die Welt die Freiheit des Glaubens und der Bildung zu retten. Im achtzehnten Jahrhundert hatte sich der fürstlich-absolute Staat selbst die Gebildeten so vollständig ent¬ fremdet, daß sie die Vaterlandsliebe für eine Empfindung unreifer Völker hielten und lieber Weltbürger als Deutsche sein wollten. Erst die furchtbare Not der Fremdherrschaft zwang sie zur Rückkehr aus dieser Traumwelt auf den Boden der Wirklichkeit, zum festen Anschluß an den Staat, der allein diese ganze reiche Bildung vor der Verkümmerung retten konnte. Seitdem wurde das deutsche Bürgertum der Nährboden des nationalstaatlichen Ideals. Aber als dies Bürgertum nun 1848/49 selbst Hand anlegte, um es, zunächst in Widerspruch mit den Regierungen, zu verwirklichen, da trat bei dem bürger¬ lichen Liberalismus die Notwendigkeit der politischen Einheit hinter den so¬ genannten Freiheitsfragen so stark zurück, und die Unfähigkeit, mit der harten Wirklichkeit zu rechnen, so stark hervor, daß mau die Einheit und die Freiheit zugleich verspielte und mit Jahren harter Reaktion den eignen Unverstand und die eigne politische Unreife büßte. Erst als die monarchisch-konservativen Kräfte die Verwirklichung der nationalen Idee übernahmen, da gelang sie; aber nur mit dem Schwerte, unter dem leidenschaftlichen Widerspruch des größten Teils der Liberalen wurden die Grundlagen gewonnen, und es blieb ein Beweis politischer Unreife, daß der Sieger sie der Mehrheit unsers Volkes aufzwingen mußte. Erst bei der Begründung und dem Ausbau des Reichs war die Nation mit ganzer Seele dabei, nicht nnr auf dem Schlachtfelde, sondern auch im Rate, und das bleibt der beste Ruhm des liberalen Bürger¬ tums; aber gegründet hat es das Reich nicht, gegründet hat es eine kleine Gruppe bedeutender Männer, die das Lebensinteresse der Nation besser begriffen als diese selbst in ihrer großen Mehrheit. Das ist tief demütigend, aber es ist so, und es ist so begründet, daß wir überhaupt zweifeln müssen, ob wir schon das Recht haben, uns eine große Nation zu nennen, obwohl wir die größten Männer der Neuzeit die unsern nennen dürfen; eine politisch reife Nation sind wir noch nicht, und sast jeder Tag liefert uns dafür beschämende neue Beweise. Wir wollen jetzt nicht davon reden, daß es dem Fürsten Vismarck auch auf der Höhe seiner Macht niemals gelungen ist, eine sichere Mehrheit im Reichstage zu finden, und daß er dort oft genug mit einem Maße von Unverstand und kleinlicher Bosheit zu kämpfen gehabt hat, für das es keinen parlamentarischen Ausdruck giebt; wir wollen auch nicht das unrühmlichste Blatt in der überhaupt nur teilweise rühmlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/356>, abgerufen am 29.06.2024.