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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die höhere Mädchenschule

und besonders der Seminaristinnen zu klagen. Den Seminaristinnen bliebe
sogar noch Zeit übrig, sich ihrer jungen Jahre zu freuen, und neben ihrer
Arbeit noch den ihrer Jugend gebührenden Teil an Vergnügungen und körper¬
lichen Übungen zu bewältigen, besonders wenn eine Zwischenprüfung, die sich
sehr gut nach dem neunten Schuljahr einfügen ließe, eine Entlastung des
eigentlichem Examens herbeiführte. Wir wollen durchaus keine überstudirten,
bleichsüchtigen, körperlich ruinirten Geschöpfe, wie sie unser jetziges Aerfahren
vielfach hervorbringt, und die doch für die kostbaren Güter, die sie aufs Spiel
setzen und oft verlieren, nicht das einhandeln, wonach sie streben. Wenn wir
Reorganisation des Müdchenschnlwesens verlangen, so haben wir mindestens
ebenso sehr das leibliche wie das geistige Wohl der kommenden Geschlechter
im Auge. Hilft uns der Staat mahl bei diesem Werke, begünstigt er auch
serner, dem Geiste der Zeit entgegen, ein Abwärtsgleiten der höhern weiblichen
Bildung, so wird es dahin kommen, daß ihm die Kontrolle ganz entschlüpft.
Die lebhafte Reaktion gegen dieses Verfahren des Staats, die sich schon heute
in der massenhaften Gründung von allerhand Bildungsanstalten, Mädchen-
gymnasicn, Fortbilduugszirkelu, Nealkursen usw. äußert, wird eine Ausdehnung
annehmen, daß sie die eigentliche Schule unterdrücken wird. Diese Hochflut
von privaten Unternehmungen würde niemals eingetreten sein, wenn die Mädchen¬
schule wirklich eine "höhere" Schule wäre, wenn ihre Leistungen nicht in einem
so schreienden Mißverhältnis zu den Forderungen der Zeit stünden.

Eine organische Verschmelzung von Seminar und Schule zu einer Einheit,
zu einer wirklichen "höhern" Bildungsanstalt wäre der erste Schritt, der uns
auf eine aufwärtssteigende Bahn brächte. Aber es bliebe noch weiteres zu
thun übrig, wenn wir uns wirklich auf der Höhe der Zeit halten wollen.
Wieviel Wissenswertes ist noch ans dem Lehrplan einer höhern Mädchenschule
ausgeschlossen, was wir uicht einfach anflicken können, wenn wir nicht wieder
in die alten Fehler der Nerslachung, Zersplitterung und Überbürdung fallen
wollen! Dahin gehört vor allem die Gesundheitslehre, ein den Frauen gerade
in ihren Wirkungskreisen unentbehrlicher Wissenszweig, dessen Vernachlässigung
unberechenbaren Schaden gestiftet hat; sodann die Lehre von den Nährwerten
der Nahrungsmittel; anch Haushaltuugslehre und Buchführung ließen sich em¬
pfehlen und eine Umgestaltung des Handarbeitsunterrichts, aus dem alle Luxus¬
arbeiter streng ausgeschlossen sein müßten, und in dem das Wäschenähen nicht
so gelehrt werden dürfte, als ob wir noch vor der Erfindung der Nähmaschine
lebten. Das alles fehlt uns für die praktischen Seiten des Lebens. Andrer¬
seits dürfte eine "höhere" Schule keine Lehrfächer ausschließen, die seit nr-
denklichen Zeiten zur höhern Bildung gehören und voraussichtlich noch lange
des Studiums wert bleiben werden. Sie müßte wenigstens die Möglichkeit
zur Erlernung der alten Sprachen geben, auf denen sich unsre ganze Kultur
aufbaut. Der Leser fragt, wie das alles unter ein Dach zu bringen sei? Nun,
in einen einzigen Verstand soll so viel Wissen nicht hinein; das könnte nnr ein


Die höhere Mädchenschule

und besonders der Seminaristinnen zu klagen. Den Seminaristinnen bliebe
sogar noch Zeit übrig, sich ihrer jungen Jahre zu freuen, und neben ihrer
Arbeit noch den ihrer Jugend gebührenden Teil an Vergnügungen und körper¬
lichen Übungen zu bewältigen, besonders wenn eine Zwischenprüfung, die sich
sehr gut nach dem neunten Schuljahr einfügen ließe, eine Entlastung des
eigentlichem Examens herbeiführte. Wir wollen durchaus keine überstudirten,
bleichsüchtigen, körperlich ruinirten Geschöpfe, wie sie unser jetziges Aerfahren
vielfach hervorbringt, und die doch für die kostbaren Güter, die sie aufs Spiel
setzen und oft verlieren, nicht das einhandeln, wonach sie streben. Wenn wir
Reorganisation des Müdchenschnlwesens verlangen, so haben wir mindestens
ebenso sehr das leibliche wie das geistige Wohl der kommenden Geschlechter
im Auge. Hilft uns der Staat mahl bei diesem Werke, begünstigt er auch
serner, dem Geiste der Zeit entgegen, ein Abwärtsgleiten der höhern weiblichen
Bildung, so wird es dahin kommen, daß ihm die Kontrolle ganz entschlüpft.
Die lebhafte Reaktion gegen dieses Verfahren des Staats, die sich schon heute
in der massenhaften Gründung von allerhand Bildungsanstalten, Mädchen-
gymnasicn, Fortbilduugszirkelu, Nealkursen usw. äußert, wird eine Ausdehnung
annehmen, daß sie die eigentliche Schule unterdrücken wird. Diese Hochflut
von privaten Unternehmungen würde niemals eingetreten sein, wenn die Mädchen¬
schule wirklich eine „höhere" Schule wäre, wenn ihre Leistungen nicht in einem
so schreienden Mißverhältnis zu den Forderungen der Zeit stünden.

Eine organische Verschmelzung von Seminar und Schule zu einer Einheit,
zu einer wirklichen „höhern" Bildungsanstalt wäre der erste Schritt, der uns
auf eine aufwärtssteigende Bahn brächte. Aber es bliebe noch weiteres zu
thun übrig, wenn wir uns wirklich auf der Höhe der Zeit halten wollen.
Wieviel Wissenswertes ist noch ans dem Lehrplan einer höhern Mädchenschule
ausgeschlossen, was wir uicht einfach anflicken können, wenn wir nicht wieder
in die alten Fehler der Nerslachung, Zersplitterung und Überbürdung fallen
wollen! Dahin gehört vor allem die Gesundheitslehre, ein den Frauen gerade
in ihren Wirkungskreisen unentbehrlicher Wissenszweig, dessen Vernachlässigung
unberechenbaren Schaden gestiftet hat; sodann die Lehre von den Nährwerten
der Nahrungsmittel; anch Haushaltuugslehre und Buchführung ließen sich em¬
pfehlen und eine Umgestaltung des Handarbeitsunterrichts, aus dem alle Luxus¬
arbeiter streng ausgeschlossen sein müßten, und in dem das Wäschenähen nicht
so gelehrt werden dürfte, als ob wir noch vor der Erfindung der Nähmaschine
lebten. Das alles fehlt uns für die praktischen Seiten des Lebens. Andrer¬
seits dürfte eine „höhere" Schule keine Lehrfächer ausschließen, die seit nr-
denklichen Zeiten zur höhern Bildung gehören und voraussichtlich noch lange
des Studiums wert bleiben werden. Sie müßte wenigstens die Möglichkeit
zur Erlernung der alten Sprachen geben, auf denen sich unsre ganze Kultur
aufbaut. Der Leser fragt, wie das alles unter ein Dach zu bringen sei? Nun,
in einen einzigen Verstand soll so viel Wissen nicht hinein; das könnte nnr ein


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[0328] Die höhere Mädchenschule und besonders der Seminaristinnen zu klagen. Den Seminaristinnen bliebe sogar noch Zeit übrig, sich ihrer jungen Jahre zu freuen, und neben ihrer Arbeit noch den ihrer Jugend gebührenden Teil an Vergnügungen und körper¬ lichen Übungen zu bewältigen, besonders wenn eine Zwischenprüfung, die sich sehr gut nach dem neunten Schuljahr einfügen ließe, eine Entlastung des eigentlichem Examens herbeiführte. Wir wollen durchaus keine überstudirten, bleichsüchtigen, körperlich ruinirten Geschöpfe, wie sie unser jetziges Aerfahren vielfach hervorbringt, und die doch für die kostbaren Güter, die sie aufs Spiel setzen und oft verlieren, nicht das einhandeln, wonach sie streben. Wenn wir Reorganisation des Müdchenschnlwesens verlangen, so haben wir mindestens ebenso sehr das leibliche wie das geistige Wohl der kommenden Geschlechter im Auge. Hilft uns der Staat mahl bei diesem Werke, begünstigt er auch serner, dem Geiste der Zeit entgegen, ein Abwärtsgleiten der höhern weiblichen Bildung, so wird es dahin kommen, daß ihm die Kontrolle ganz entschlüpft. Die lebhafte Reaktion gegen dieses Verfahren des Staats, die sich schon heute in der massenhaften Gründung von allerhand Bildungsanstalten, Mädchen- gymnasicn, Fortbilduugszirkelu, Nealkursen usw. äußert, wird eine Ausdehnung annehmen, daß sie die eigentliche Schule unterdrücken wird. Diese Hochflut von privaten Unternehmungen würde niemals eingetreten sein, wenn die Mädchen¬ schule wirklich eine „höhere" Schule wäre, wenn ihre Leistungen nicht in einem so schreienden Mißverhältnis zu den Forderungen der Zeit stünden. Eine organische Verschmelzung von Seminar und Schule zu einer Einheit, zu einer wirklichen „höhern" Bildungsanstalt wäre der erste Schritt, der uns auf eine aufwärtssteigende Bahn brächte. Aber es bliebe noch weiteres zu thun übrig, wenn wir uns wirklich auf der Höhe der Zeit halten wollen. Wieviel Wissenswertes ist noch ans dem Lehrplan einer höhern Mädchenschule ausgeschlossen, was wir uicht einfach anflicken können, wenn wir nicht wieder in die alten Fehler der Nerslachung, Zersplitterung und Überbürdung fallen wollen! Dahin gehört vor allem die Gesundheitslehre, ein den Frauen gerade in ihren Wirkungskreisen unentbehrlicher Wissenszweig, dessen Vernachlässigung unberechenbaren Schaden gestiftet hat; sodann die Lehre von den Nährwerten der Nahrungsmittel; anch Haushaltuugslehre und Buchführung ließen sich em¬ pfehlen und eine Umgestaltung des Handarbeitsunterrichts, aus dem alle Luxus¬ arbeiter streng ausgeschlossen sein müßten, und in dem das Wäschenähen nicht so gelehrt werden dürfte, als ob wir noch vor der Erfindung der Nähmaschine lebten. Das alles fehlt uns für die praktischen Seiten des Lebens. Andrer¬ seits dürfte eine „höhere" Schule keine Lehrfächer ausschließen, die seit nr- denklichen Zeiten zur höhern Bildung gehören und voraussichtlich noch lange des Studiums wert bleiben werden. Sie müßte wenigstens die Möglichkeit zur Erlernung der alten Sprachen geben, auf denen sich unsre ganze Kultur aufbaut. Der Leser fragt, wie das alles unter ein Dach zu bringen sei? Nun, in einen einzigen Verstand soll so viel Wissen nicht hinein; das könnte nnr ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/328>, abgerufen am 26.06.2024.