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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die höhere Mädchenschule

Zeit nicht erwarten können, sich in den Strudel des Gesellschaftslebens zu
stürzen. Für alle übrigen aber, die wirklich nach Bildung streben -- und
ihre Zahl ist nicht gering --, brauchen wir dann mindestens noch drei Jahre
Zur Vollendung ihrer Erziehung. Diese Forderung ist nicht so ungeheuer,
wie es den Anschein hat. Alle, die nach der Schule noch das Seminar be¬
suche", erfüllen sie schon und würden sie noch lieber erfüllen, wenn nicht dem
Scminarbesuche so viele Übelstände anhafteten, wenn sie dort wirklich eine
Fortsetzung ihrer Schulbildung fänden, nicht eine ermüdende Wiederholung mit
einigen Ergänzungen. Mir ist es immer als eine ungeheure Kraft- und Zeit¬
verschwendung erschienen, daß das Seminar eigentlich genau dasselbe genau
in derselben Form lehrt, was die Schule schon gebracht hat. Wenn wir aus
den beiden Anstalten eine machten mit einem fortlaufenden Lehrplane, wie sie
z. B. im Badischen schon besteht, dann konnten wir dahin kommen, daß wir
wirklich eine "höhere" Mädchenschule hätten. Für die Schülerinnen, die am
Schlüsse das Lehrerinnenexamen zu machen gedenken, könnte Methodik und
Pädagogik besonders gelehrt werden; alles übrige gehört zur allgemeinen
Bildung und erfordert darum nicht eine besondre Anstalt. Wenn wir uns zu
einer solchen Zusammenziehuug entschließen könnten, würden mit einemmale
alle Schwierigkeiten verschwinden, die unter den heutigen Verhältnissen fast
unüberwindlich erscheinen.

Jetzt muß der Geschichtslehrer sehr summarisch verfahren, wenn er die
ganze Weltgeschichte in den gegebnen Zeitraum hineinpressen will, und das
muß er, denn natürlich muß ein Mädchen, das die höhere Mädchenschule bis
zu Ende besucht hat, doch in der ganzen Weltgeschichte wenigstens "orientirt"
sein. Im Seminar wiederholt sich derselbe Übelstand. Hier sollen die in der
Schule gesammelten Kenntnisse erweitert und vertieft werden. Aber selbst beim
besten Willen läuft das schließlich auf eine ermüdende Wiederholung mit einigen
Erweiterungen heraus. Wie anders stünden die Sachen, wenn man z. B. bis
zum Abschluß des neunten Schuljahres nur deutsche Geschichte lehrte mit
einigen Ausblicken auf die allgemeine Weltgeschichte und dann erst in den
letzten drei Jahren die Weltgeschichte mit Heranziehung und Wiederholung der
gründlich gelernten deutschen Geschichte. Dann hätten wir zwei lebensvolle
Bilder, die einander ergänzten, und nicht wie jetzt nur eine doppelte Betrach¬
tung desselben Skeletts. Ebenso ließe es sich in der Geographie machen: erst
die übliche Heimatskunde, dann die fünf Weltteile in ihren großen Umrissen;
auf den jetzigen Oberklassen, die dann zu Mittelklassen würden, Europa und
Deutschland sehr ausführlich und in den letzten drei Jahren die übrigen Welt¬
teile. Wieviel Zeit bliebe da für eingeschaltete Wiederholungen! wie mühelos
könnte mau gründliches Wissen erreichen! Die Vorteile einer solchen Ein¬
richtung liegen so auf der Hand, daß es wohl nicht nötig ist, sie für jede"
einzelnen Unterrichtszweig nachzuweisen. Überall würden wir eine Menge Zeit
und .Kraft sparen; man würde aufhören, über Überbürdung der Schülerinnen


Die höhere Mädchenschule

Zeit nicht erwarten können, sich in den Strudel des Gesellschaftslebens zu
stürzen. Für alle übrigen aber, die wirklich nach Bildung streben — und
ihre Zahl ist nicht gering —, brauchen wir dann mindestens noch drei Jahre
Zur Vollendung ihrer Erziehung. Diese Forderung ist nicht so ungeheuer,
wie es den Anschein hat. Alle, die nach der Schule noch das Seminar be¬
suche», erfüllen sie schon und würden sie noch lieber erfüllen, wenn nicht dem
Scminarbesuche so viele Übelstände anhafteten, wenn sie dort wirklich eine
Fortsetzung ihrer Schulbildung fänden, nicht eine ermüdende Wiederholung mit
einigen Ergänzungen. Mir ist es immer als eine ungeheure Kraft- und Zeit¬
verschwendung erschienen, daß das Seminar eigentlich genau dasselbe genau
in derselben Form lehrt, was die Schule schon gebracht hat. Wenn wir aus
den beiden Anstalten eine machten mit einem fortlaufenden Lehrplane, wie sie
z. B. im Badischen schon besteht, dann konnten wir dahin kommen, daß wir
wirklich eine „höhere" Mädchenschule hätten. Für die Schülerinnen, die am
Schlüsse das Lehrerinnenexamen zu machen gedenken, könnte Methodik und
Pädagogik besonders gelehrt werden; alles übrige gehört zur allgemeinen
Bildung und erfordert darum nicht eine besondre Anstalt. Wenn wir uns zu
einer solchen Zusammenziehuug entschließen könnten, würden mit einemmale
alle Schwierigkeiten verschwinden, die unter den heutigen Verhältnissen fast
unüberwindlich erscheinen.

Jetzt muß der Geschichtslehrer sehr summarisch verfahren, wenn er die
ganze Weltgeschichte in den gegebnen Zeitraum hineinpressen will, und das
muß er, denn natürlich muß ein Mädchen, das die höhere Mädchenschule bis
zu Ende besucht hat, doch in der ganzen Weltgeschichte wenigstens „orientirt"
sein. Im Seminar wiederholt sich derselbe Übelstand. Hier sollen die in der
Schule gesammelten Kenntnisse erweitert und vertieft werden. Aber selbst beim
besten Willen läuft das schließlich auf eine ermüdende Wiederholung mit einigen
Erweiterungen heraus. Wie anders stünden die Sachen, wenn man z. B. bis
zum Abschluß des neunten Schuljahres nur deutsche Geschichte lehrte mit
einigen Ausblicken auf die allgemeine Weltgeschichte und dann erst in den
letzten drei Jahren die Weltgeschichte mit Heranziehung und Wiederholung der
gründlich gelernten deutschen Geschichte. Dann hätten wir zwei lebensvolle
Bilder, die einander ergänzten, und nicht wie jetzt nur eine doppelte Betrach¬
tung desselben Skeletts. Ebenso ließe es sich in der Geographie machen: erst
die übliche Heimatskunde, dann die fünf Weltteile in ihren großen Umrissen;
auf den jetzigen Oberklassen, die dann zu Mittelklassen würden, Europa und
Deutschland sehr ausführlich und in den letzten drei Jahren die übrigen Welt¬
teile. Wieviel Zeit bliebe da für eingeschaltete Wiederholungen! wie mühelos
könnte mau gründliches Wissen erreichen! Die Vorteile einer solchen Ein¬
richtung liegen so auf der Hand, daß es wohl nicht nötig ist, sie für jede»
einzelnen Unterrichtszweig nachzuweisen. Überall würden wir eine Menge Zeit
und .Kraft sparen; man würde aufhören, über Überbürdung der Schülerinnen


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[0327] Die höhere Mädchenschule Zeit nicht erwarten können, sich in den Strudel des Gesellschaftslebens zu stürzen. Für alle übrigen aber, die wirklich nach Bildung streben — und ihre Zahl ist nicht gering —, brauchen wir dann mindestens noch drei Jahre Zur Vollendung ihrer Erziehung. Diese Forderung ist nicht so ungeheuer, wie es den Anschein hat. Alle, die nach der Schule noch das Seminar be¬ suche», erfüllen sie schon und würden sie noch lieber erfüllen, wenn nicht dem Scminarbesuche so viele Übelstände anhafteten, wenn sie dort wirklich eine Fortsetzung ihrer Schulbildung fänden, nicht eine ermüdende Wiederholung mit einigen Ergänzungen. Mir ist es immer als eine ungeheure Kraft- und Zeit¬ verschwendung erschienen, daß das Seminar eigentlich genau dasselbe genau in derselben Form lehrt, was die Schule schon gebracht hat. Wenn wir aus den beiden Anstalten eine machten mit einem fortlaufenden Lehrplane, wie sie z. B. im Badischen schon besteht, dann konnten wir dahin kommen, daß wir wirklich eine „höhere" Mädchenschule hätten. Für die Schülerinnen, die am Schlüsse das Lehrerinnenexamen zu machen gedenken, könnte Methodik und Pädagogik besonders gelehrt werden; alles übrige gehört zur allgemeinen Bildung und erfordert darum nicht eine besondre Anstalt. Wenn wir uns zu einer solchen Zusammenziehuug entschließen könnten, würden mit einemmale alle Schwierigkeiten verschwinden, die unter den heutigen Verhältnissen fast unüberwindlich erscheinen. Jetzt muß der Geschichtslehrer sehr summarisch verfahren, wenn er die ganze Weltgeschichte in den gegebnen Zeitraum hineinpressen will, und das muß er, denn natürlich muß ein Mädchen, das die höhere Mädchenschule bis zu Ende besucht hat, doch in der ganzen Weltgeschichte wenigstens „orientirt" sein. Im Seminar wiederholt sich derselbe Übelstand. Hier sollen die in der Schule gesammelten Kenntnisse erweitert und vertieft werden. Aber selbst beim besten Willen läuft das schließlich auf eine ermüdende Wiederholung mit einigen Erweiterungen heraus. Wie anders stünden die Sachen, wenn man z. B. bis zum Abschluß des neunten Schuljahres nur deutsche Geschichte lehrte mit einigen Ausblicken auf die allgemeine Weltgeschichte und dann erst in den letzten drei Jahren die Weltgeschichte mit Heranziehung und Wiederholung der gründlich gelernten deutschen Geschichte. Dann hätten wir zwei lebensvolle Bilder, die einander ergänzten, und nicht wie jetzt nur eine doppelte Betrach¬ tung desselben Skeletts. Ebenso ließe es sich in der Geographie machen: erst die übliche Heimatskunde, dann die fünf Weltteile in ihren großen Umrissen; auf den jetzigen Oberklassen, die dann zu Mittelklassen würden, Europa und Deutschland sehr ausführlich und in den letzten drei Jahren die übrigen Welt¬ teile. Wieviel Zeit bliebe da für eingeschaltete Wiederholungen! wie mühelos könnte mau gründliches Wissen erreichen! Die Vorteile einer solchen Ein¬ richtung liegen so auf der Hand, daß es wohl nicht nötig ist, sie für jede» einzelnen Unterrichtszweig nachzuweisen. Überall würden wir eine Menge Zeit und .Kraft sparen; man würde aufhören, über Überbürdung der Schülerinnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/327>, abgerufen am 26.06.2024.