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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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als je sind die Ansprüche, die das moderne Leben gerade an diese Fähigkeit
des weiblichen Wesens stellt, weiter als je ist der Sprung aus dem öffent¬
lichen Leben in das Haus und -- wie oft! -- auch umgekehrt, großer das
Opfer, das die Frau dem Manne bringt, dem sie folgt, wenn sie eine ihren
Fähigkeiten entsprechende Thätigkeit aufgiebt, und härter der Zwang, wenn sie
nach langen Jahren friedlicher häuslicher Thätigkeit wieder in den Kampf des
Lebens eintreten muß.

Solche Widersprüche kennt die Knabenerziehung nicht, und darum ist der
Mädchenerziehung doppelt so viel Sorgfalt zuzuwenden. Statt dessen ist und
bleibt aber die höhere Mädchenschule das Stiefkind der meisten unsrer Staaten.
Nicht eine der Reformen, die ihr Preußen kürzlich beschert hat, geht ihren
Übelständen an die Wurzel oder beweist auch nur, daß man die Schäden er¬
kannt habe. Man hat wohl hier ein wenig ausgeflickt, dort ein wenig nach¬
gebessert; aber das schreiende Mißverhältnis zwischen den Leistungen der Schule
und den Ansprüchen des Lebens bleibt nach wie vor bestehen. Man ist sogar
auf den mörderischen Einfall gekommen, den Kursus der Mädchenschule von
zehn Jahren auf neun herabzusetzen. Will man damit der Verflachung und
der Zersplitterung vorbeugen, die schon lange als die Klippen in der Fraueu-
erzichuug anerkannt sind? Man hat auch Einschränkungen im Lehrplane ge¬
macht, sodciß wir beinahe der Stufe der Mittelschule zustreben. Bestünde nicht
der Kultus der fremden Sprachen in altem Glänze fort, so könnten wir schon
jetzt die Bezeichnung "höhere Mädchenschule" getrost fallen lassen und dafür
sagen "Mädchenschule für höhere Stunde," ein Name, der allerdings auch den
Thatsachen nicht ganz entspräche.

Die Zumutung, daß ein Kind von fünfzehn Jahren anch nur die Elemente
höherer Bildung in sich aufgenommen habe, ist, besonders da die Ansprüche
einer Schule doch nur immer die Durchschnittsbegabung in Betracht ziehen
können, so abgeschmackt, daß man versucht wäre, darüber zu lachen, wenn nicht
die traurige Thatsache bestünde, daß sich Hunderte von gewissenhaften Lehrern
und Schnlvorständen an dieser unlösbaren Aufgabe wund und müde arbeiten,
ohne je den Lohn dafür zu ernten, der in der Befriedigung über eine gut
gelöste Aufgabe besteht. Mau müht sich ab, die zweckmäßigsten Methoden zu
finden, versucht alle Hilfsmittel der Pädagogik, aber das Gefühl der Ent¬
mutigung läßt sich nicht bannen, wenn man die Ergebnisse sieht. Die Schuld
des Mißlingens legt die öffentliche Meinung dann den Lehrern zur Last oder
auch der mangelhaften Begabung des weiblichen Geschlechts; niemand fällt es
ein, einmal über die Bedingungen nachzudenken, unter denen in der Mädchen¬
schule gearbeitet wird.

Mag mau doch nach dem neunten Schuljahre eine Art Abschluß geben,
ähnlich dem Freiwilligenzeugnis auf den Gymnasien, sür alle die, deren Be¬
gabung nicht für mehr ausreicht, für die, die aus Mangel an Mitteln ge¬
zwungen sind, ihren Bildungsgang früher abzubrechen, und für solche, die die


als je sind die Ansprüche, die das moderne Leben gerade an diese Fähigkeit
des weiblichen Wesens stellt, weiter als je ist der Sprung aus dem öffent¬
lichen Leben in das Haus und — wie oft! — auch umgekehrt, großer das
Opfer, das die Frau dem Manne bringt, dem sie folgt, wenn sie eine ihren
Fähigkeiten entsprechende Thätigkeit aufgiebt, und härter der Zwang, wenn sie
nach langen Jahren friedlicher häuslicher Thätigkeit wieder in den Kampf des
Lebens eintreten muß.

Solche Widersprüche kennt die Knabenerziehung nicht, und darum ist der
Mädchenerziehung doppelt so viel Sorgfalt zuzuwenden. Statt dessen ist und
bleibt aber die höhere Mädchenschule das Stiefkind der meisten unsrer Staaten.
Nicht eine der Reformen, die ihr Preußen kürzlich beschert hat, geht ihren
Übelständen an die Wurzel oder beweist auch nur, daß man die Schäden er¬
kannt habe. Man hat wohl hier ein wenig ausgeflickt, dort ein wenig nach¬
gebessert; aber das schreiende Mißverhältnis zwischen den Leistungen der Schule
und den Ansprüchen des Lebens bleibt nach wie vor bestehen. Man ist sogar
auf den mörderischen Einfall gekommen, den Kursus der Mädchenschule von
zehn Jahren auf neun herabzusetzen. Will man damit der Verflachung und
der Zersplitterung vorbeugen, die schon lange als die Klippen in der Fraueu-
erzichuug anerkannt sind? Man hat auch Einschränkungen im Lehrplane ge¬
macht, sodciß wir beinahe der Stufe der Mittelschule zustreben. Bestünde nicht
der Kultus der fremden Sprachen in altem Glänze fort, so könnten wir schon
jetzt die Bezeichnung „höhere Mädchenschule" getrost fallen lassen und dafür
sagen „Mädchenschule für höhere Stunde," ein Name, der allerdings auch den
Thatsachen nicht ganz entspräche.

Die Zumutung, daß ein Kind von fünfzehn Jahren anch nur die Elemente
höherer Bildung in sich aufgenommen habe, ist, besonders da die Ansprüche
einer Schule doch nur immer die Durchschnittsbegabung in Betracht ziehen
können, so abgeschmackt, daß man versucht wäre, darüber zu lachen, wenn nicht
die traurige Thatsache bestünde, daß sich Hunderte von gewissenhaften Lehrern
und Schnlvorständen an dieser unlösbaren Aufgabe wund und müde arbeiten,
ohne je den Lohn dafür zu ernten, der in der Befriedigung über eine gut
gelöste Aufgabe besteht. Mau müht sich ab, die zweckmäßigsten Methoden zu
finden, versucht alle Hilfsmittel der Pädagogik, aber das Gefühl der Ent¬
mutigung läßt sich nicht bannen, wenn man die Ergebnisse sieht. Die Schuld
des Mißlingens legt die öffentliche Meinung dann den Lehrern zur Last oder
auch der mangelhaften Begabung des weiblichen Geschlechts; niemand fällt es
ein, einmal über die Bedingungen nachzudenken, unter denen in der Mädchen¬
schule gearbeitet wird.

Mag mau doch nach dem neunten Schuljahre eine Art Abschluß geben,
ähnlich dem Freiwilligenzeugnis auf den Gymnasien, sür alle die, deren Be¬
gabung nicht für mehr ausreicht, für die, die aus Mangel an Mitteln ge¬
zwungen sind, ihren Bildungsgang früher abzubrechen, und für solche, die die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/326>, abgerufen am 26.06.2024.