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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die höhere Mädchenschule

Die Thatsache ist nicht wegzuleugnen, daß sich die soziale Stellung der
Frau in den letzten Jahrzehnten bedeutend verändert hat, und daß demzufolge
auch die Ansprüche, die an die Erziehung des weiblichen Geschlechts gestellt
werden, andre geworden sind, oder vielmehr, daß zu den alten neue hinzu¬
getreten sind, die sich mit jenen alten schwer vereinigen lassen. Denn wenn es
auch heißt und selbstverständlich immer heißen wird: "Erzieht uns Mädchen, die
imstande sind, ihre Pflichten als Hausfrauen und Mütter zu erfüllen," so sagt
doch die bittere Notwendigkeit heute auch: "Erzieht sie so, daß sie imstande
sind, den harten Kampf des Lebens aufzunehmen," und dazu kommt nun gar
noch eine dritte Partei, nämlich die der eiteln, gedankenlosen Eltern, die sagen:
"Erzieht unsre Töchter so, daß sie in der Gesellschaft glänzen können, daß sie
für die Jagd nach dem Manne gut ausgerüstet sind." In dem Bestreben, es
diesen allen recht zu machen, kommt die Mädchenschule immer mehr dahin,
keinen mehr zu befriedigen.

Freilich, schwierig genug ist die Aufgabe. Eine vollständige doppelte
Rüstung muß die Erziehung dem Mädchen heute mitgeben ins Leben; sie muß
sie beide gebrauchen lehren und jede entbehren lehren, je nachdem sich das
spätere Schicksal der Frau gestaltet. Nicht wie bei den Knaben entscheidet über
den künftigen Lebenslauf Anlage, Lust zu einer Sache. Bei keinem Mädchen
kann man auch nur annähernd bestimmen, welcher Seite ihres Wesens die Er¬
ziehung die größere Sorgfalt zuwenden soll. Denn ob sie heiratet und wen
sie heiratet, das schneidet hente noch ganz anders als früher in ihre Stellung,
ihre Thätigkeit, oft in ihr ganzes Sein ein. Keine Wahrscheinlichkeitsrechnung
kaun auch nur annähernd die Möglichkeiten berechnen, die es hier giebt, die
Ereignisse werfen die Schlüsse der tiefsinnigsten Psychologie über den Haufen.
Darum muß die Frau auf alle Möglichkeiten vorbereitet, für alle Fälle ge¬
rüstet sein. Wehe ihr. wenn sie nur ein Ziel verfolgt hat! Der gleiche Spott
folgt der Heiratslustigen, die in dem vielleicht sehr richtigen Gefühle, daß sie
nur im eignen Heim ihre Persönlichkeit vollständig entfalten kau", Anstrengungen
macht, ihr Lebensideal zu verwirklichen, wie der Bernfsarbeiterin, die, durch
eine Herzensneigung ans ihrer Bahn geschleudert, unlustig und ungeschickt ihren
häuslichen Pflichten nachkommt.

Man könnte die Ansprüche, die von der neuen Zeit an die höhere
Mädchenschule gestellt werden, so fassen: Sie soll die Mädchen mit reichen
Kenntnissen ausstatten, damit sie sich in jeder Lebenslage zurechtfinden, allen
Ansprüchen genügen können; doch soll sie ihnen keinen so einseitigen Geschmack
sür die Wissenschaften beibringen, daß sie dadurch für alle praktischen Aufgaben
untauglich werden, daß sie seelisch verkümmern, wenn sie das Leben ausschließlich
vor praktische Ausgaben stellt. Sie soll Charaktere bilden, die den Stürmen
des Lebens Trotz bieten, keine Stütze, keine Führung brauchen; doch soll sie
dem weiblichen Wesen seine ganze Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit be¬
wahren, ja sie entwickeln, wo sie nicht genügend vorhanden ist; denn größer


Die höhere Mädchenschule

Die Thatsache ist nicht wegzuleugnen, daß sich die soziale Stellung der
Frau in den letzten Jahrzehnten bedeutend verändert hat, und daß demzufolge
auch die Ansprüche, die an die Erziehung des weiblichen Geschlechts gestellt
werden, andre geworden sind, oder vielmehr, daß zu den alten neue hinzu¬
getreten sind, die sich mit jenen alten schwer vereinigen lassen. Denn wenn es
auch heißt und selbstverständlich immer heißen wird: „Erzieht uns Mädchen, die
imstande sind, ihre Pflichten als Hausfrauen und Mütter zu erfüllen," so sagt
doch die bittere Notwendigkeit heute auch: „Erzieht sie so, daß sie imstande
sind, den harten Kampf des Lebens aufzunehmen," und dazu kommt nun gar
noch eine dritte Partei, nämlich die der eiteln, gedankenlosen Eltern, die sagen:
„Erzieht unsre Töchter so, daß sie in der Gesellschaft glänzen können, daß sie
für die Jagd nach dem Manne gut ausgerüstet sind." In dem Bestreben, es
diesen allen recht zu machen, kommt die Mädchenschule immer mehr dahin,
keinen mehr zu befriedigen.

Freilich, schwierig genug ist die Aufgabe. Eine vollständige doppelte
Rüstung muß die Erziehung dem Mädchen heute mitgeben ins Leben; sie muß
sie beide gebrauchen lehren und jede entbehren lehren, je nachdem sich das
spätere Schicksal der Frau gestaltet. Nicht wie bei den Knaben entscheidet über
den künftigen Lebenslauf Anlage, Lust zu einer Sache. Bei keinem Mädchen
kann man auch nur annähernd bestimmen, welcher Seite ihres Wesens die Er¬
ziehung die größere Sorgfalt zuwenden soll. Denn ob sie heiratet und wen
sie heiratet, das schneidet hente noch ganz anders als früher in ihre Stellung,
ihre Thätigkeit, oft in ihr ganzes Sein ein. Keine Wahrscheinlichkeitsrechnung
kaun auch nur annähernd die Möglichkeiten berechnen, die es hier giebt, die
Ereignisse werfen die Schlüsse der tiefsinnigsten Psychologie über den Haufen.
Darum muß die Frau auf alle Möglichkeiten vorbereitet, für alle Fälle ge¬
rüstet sein. Wehe ihr. wenn sie nur ein Ziel verfolgt hat! Der gleiche Spott
folgt der Heiratslustigen, die in dem vielleicht sehr richtigen Gefühle, daß sie
nur im eignen Heim ihre Persönlichkeit vollständig entfalten kau», Anstrengungen
macht, ihr Lebensideal zu verwirklichen, wie der Bernfsarbeiterin, die, durch
eine Herzensneigung ans ihrer Bahn geschleudert, unlustig und ungeschickt ihren
häuslichen Pflichten nachkommt.

Man könnte die Ansprüche, die von der neuen Zeit an die höhere
Mädchenschule gestellt werden, so fassen: Sie soll die Mädchen mit reichen
Kenntnissen ausstatten, damit sie sich in jeder Lebenslage zurechtfinden, allen
Ansprüchen genügen können; doch soll sie ihnen keinen so einseitigen Geschmack
sür die Wissenschaften beibringen, daß sie dadurch für alle praktischen Aufgaben
untauglich werden, daß sie seelisch verkümmern, wenn sie das Leben ausschließlich
vor praktische Ausgaben stellt. Sie soll Charaktere bilden, die den Stürmen
des Lebens Trotz bieten, keine Stütze, keine Führung brauchen; doch soll sie
dem weiblichen Wesen seine ganze Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit be¬
wahren, ja sie entwickeln, wo sie nicht genügend vorhanden ist; denn größer


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[0325] Die höhere Mädchenschule Die Thatsache ist nicht wegzuleugnen, daß sich die soziale Stellung der Frau in den letzten Jahrzehnten bedeutend verändert hat, und daß demzufolge auch die Ansprüche, die an die Erziehung des weiblichen Geschlechts gestellt werden, andre geworden sind, oder vielmehr, daß zu den alten neue hinzu¬ getreten sind, die sich mit jenen alten schwer vereinigen lassen. Denn wenn es auch heißt und selbstverständlich immer heißen wird: „Erzieht uns Mädchen, die imstande sind, ihre Pflichten als Hausfrauen und Mütter zu erfüllen," so sagt doch die bittere Notwendigkeit heute auch: „Erzieht sie so, daß sie imstande sind, den harten Kampf des Lebens aufzunehmen," und dazu kommt nun gar noch eine dritte Partei, nämlich die der eiteln, gedankenlosen Eltern, die sagen: „Erzieht unsre Töchter so, daß sie in der Gesellschaft glänzen können, daß sie für die Jagd nach dem Manne gut ausgerüstet sind." In dem Bestreben, es diesen allen recht zu machen, kommt die Mädchenschule immer mehr dahin, keinen mehr zu befriedigen. Freilich, schwierig genug ist die Aufgabe. Eine vollständige doppelte Rüstung muß die Erziehung dem Mädchen heute mitgeben ins Leben; sie muß sie beide gebrauchen lehren und jede entbehren lehren, je nachdem sich das spätere Schicksal der Frau gestaltet. Nicht wie bei den Knaben entscheidet über den künftigen Lebenslauf Anlage, Lust zu einer Sache. Bei keinem Mädchen kann man auch nur annähernd bestimmen, welcher Seite ihres Wesens die Er¬ ziehung die größere Sorgfalt zuwenden soll. Denn ob sie heiratet und wen sie heiratet, das schneidet hente noch ganz anders als früher in ihre Stellung, ihre Thätigkeit, oft in ihr ganzes Sein ein. Keine Wahrscheinlichkeitsrechnung kaun auch nur annähernd die Möglichkeiten berechnen, die es hier giebt, die Ereignisse werfen die Schlüsse der tiefsinnigsten Psychologie über den Haufen. Darum muß die Frau auf alle Möglichkeiten vorbereitet, für alle Fälle ge¬ rüstet sein. Wehe ihr. wenn sie nur ein Ziel verfolgt hat! Der gleiche Spott folgt der Heiratslustigen, die in dem vielleicht sehr richtigen Gefühle, daß sie nur im eignen Heim ihre Persönlichkeit vollständig entfalten kau», Anstrengungen macht, ihr Lebensideal zu verwirklichen, wie der Bernfsarbeiterin, die, durch eine Herzensneigung ans ihrer Bahn geschleudert, unlustig und ungeschickt ihren häuslichen Pflichten nachkommt. Man könnte die Ansprüche, die von der neuen Zeit an die höhere Mädchenschule gestellt werden, so fassen: Sie soll die Mädchen mit reichen Kenntnissen ausstatten, damit sie sich in jeder Lebenslage zurechtfinden, allen Ansprüchen genügen können; doch soll sie ihnen keinen so einseitigen Geschmack sür die Wissenschaften beibringen, daß sie dadurch für alle praktischen Aufgaben untauglich werden, daß sie seelisch verkümmern, wenn sie das Leben ausschließlich vor praktische Ausgaben stellt. Sie soll Charaktere bilden, die den Stürmen des Lebens Trotz bieten, keine Stütze, keine Führung brauchen; doch soll sie dem weiblichen Wesen seine ganze Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit be¬ wahren, ja sie entwickeln, wo sie nicht genügend vorhanden ist; denn größer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/325>, abgerufen am 26.06.2024.