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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Podbielsli aber sollte sich vor allen Dingen hüten, ohne zwingenden Grund
an Einrichtungen zu rütteln, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben. Auch
so wird es ihm nicht an Gelegenheit fehlen, Zöpfe abzuschneiden, Ungerechtig¬
keiten zu beseitigen und sogar namhafte Ersparnisse zu machen, ohne daß der
Staat den geringsten Schaden erleidet.




Die höhere Mädchenschule

er große Unterschied zwischen moderner und alter Bildung ist
nicht so sehr in dem Gegensatz zwischen humanistischer und Neal-
bildung zu finden, als vielmehr in dem Umstände, daß das Ideal
einer einheitlichen, alle Zweige des Wissenswerten umfassenden
Bildung mehr und mehr schwindet- Mit dem ungeheuern An¬
wachsen der Summe des Erkannten wächst auch in dem Einzelnen das Gefühl
seiner Ohnmacht diesen? Reichtum gegenüber. Wie der arme Derwisch, dem
der Zauberstein die Schatzkammern der Erde geöffnet hat, so steht der moderne
Mensch vor einer Märchenpracht, die er niemals sein nennen kann; er füllt
seine Taschen mit ein paar armseligen Goldstücken und verläßt das Zauber¬
reich mit dem Bewußtsein, das Meiste und das Beste zurückgelassen zu haben.
Wenn uns nicht eine neue Erfindung zu Hilfe kommt, die die Aufnahme¬
fähigkeit unsrer Gehirne verstärkt, müssen wir bekennen, daß der einzelne Mensch
nicht imstande ist, mit dem Bildungsgange der gesamten Menschheit Schritt
zu halten.

Zu dieser Thatsache müssen wir Stellung nehmen, wenn uns nicht unser
Reichtum zum Unsegen werden soll, wenn nicht an die Stelle der höchsten
Geistesbliite Verflachung und Zersplitterung treten sollen. Die Elementar¬
bildung wächst unaufhaltsam, nicht nur in die Breite, sondern auch in die
Höhe. Sie durchdringt allmählich alle Volksschichten; es ist möglich, sogar wahr¬
scheinlich, daß sie einst bis zu der Stufe der jetzigen höhern Schulbildung hinauf¬
steigen wird. Wenigstens schwebt das den Edelsten der Nation als Ziel der
modernen Bildung vor. Nimmermehr dürfen wir nun aber das Herankommen
dieses Zeitpunktes dadurch beschleunigen, daß wir von den Forderungen ablassen,
die wir an die höhere Bildung stellen. Die führenden Stände sollen sich nicht
hochmütig abschließen; aber sie sollen immer vorangehen. So nur können sie
ihre Aufgabe als Erzieher des Volkes erfüllen. Aus diesem Grunde kaun und'


Grenzboder IV 1897 40

Podbielsli aber sollte sich vor allen Dingen hüten, ohne zwingenden Grund
an Einrichtungen zu rütteln, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben. Auch
so wird es ihm nicht an Gelegenheit fehlen, Zöpfe abzuschneiden, Ungerechtig¬
keiten zu beseitigen und sogar namhafte Ersparnisse zu machen, ohne daß der
Staat den geringsten Schaden erleidet.




Die höhere Mädchenschule

er große Unterschied zwischen moderner und alter Bildung ist
nicht so sehr in dem Gegensatz zwischen humanistischer und Neal-
bildung zu finden, als vielmehr in dem Umstände, daß das Ideal
einer einheitlichen, alle Zweige des Wissenswerten umfassenden
Bildung mehr und mehr schwindet- Mit dem ungeheuern An¬
wachsen der Summe des Erkannten wächst auch in dem Einzelnen das Gefühl
seiner Ohnmacht diesen? Reichtum gegenüber. Wie der arme Derwisch, dem
der Zauberstein die Schatzkammern der Erde geöffnet hat, so steht der moderne
Mensch vor einer Märchenpracht, die er niemals sein nennen kann; er füllt
seine Taschen mit ein paar armseligen Goldstücken und verläßt das Zauber¬
reich mit dem Bewußtsein, das Meiste und das Beste zurückgelassen zu haben.
Wenn uns nicht eine neue Erfindung zu Hilfe kommt, die die Aufnahme¬
fähigkeit unsrer Gehirne verstärkt, müssen wir bekennen, daß der einzelne Mensch
nicht imstande ist, mit dem Bildungsgange der gesamten Menschheit Schritt
zu halten.

Zu dieser Thatsache müssen wir Stellung nehmen, wenn uns nicht unser
Reichtum zum Unsegen werden soll, wenn nicht an die Stelle der höchsten
Geistesbliite Verflachung und Zersplitterung treten sollen. Die Elementar¬
bildung wächst unaufhaltsam, nicht nur in die Breite, sondern auch in die
Höhe. Sie durchdringt allmählich alle Volksschichten; es ist möglich, sogar wahr¬
scheinlich, daß sie einst bis zu der Stufe der jetzigen höhern Schulbildung hinauf¬
steigen wird. Wenigstens schwebt das den Edelsten der Nation als Ziel der
modernen Bildung vor. Nimmermehr dürfen wir nun aber das Herankommen
dieses Zeitpunktes dadurch beschleunigen, daß wir von den Forderungen ablassen,
die wir an die höhere Bildung stellen. Die führenden Stände sollen sich nicht
hochmütig abschließen; aber sie sollen immer vorangehen. So nur können sie
ihre Aufgabe als Erzieher des Volkes erfüllen. Aus diesem Grunde kaun und'


Grenzboder IV 1897 40
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[0323] Podbielsli aber sollte sich vor allen Dingen hüten, ohne zwingenden Grund an Einrichtungen zu rütteln, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben. Auch so wird es ihm nicht an Gelegenheit fehlen, Zöpfe abzuschneiden, Ungerechtig¬ keiten zu beseitigen und sogar namhafte Ersparnisse zu machen, ohne daß der Staat den geringsten Schaden erleidet. Die höhere Mädchenschule er große Unterschied zwischen moderner und alter Bildung ist nicht so sehr in dem Gegensatz zwischen humanistischer und Neal- bildung zu finden, als vielmehr in dem Umstände, daß das Ideal einer einheitlichen, alle Zweige des Wissenswerten umfassenden Bildung mehr und mehr schwindet- Mit dem ungeheuern An¬ wachsen der Summe des Erkannten wächst auch in dem Einzelnen das Gefühl seiner Ohnmacht diesen? Reichtum gegenüber. Wie der arme Derwisch, dem der Zauberstein die Schatzkammern der Erde geöffnet hat, so steht der moderne Mensch vor einer Märchenpracht, die er niemals sein nennen kann; er füllt seine Taschen mit ein paar armseligen Goldstücken und verläßt das Zauber¬ reich mit dem Bewußtsein, das Meiste und das Beste zurückgelassen zu haben. Wenn uns nicht eine neue Erfindung zu Hilfe kommt, die die Aufnahme¬ fähigkeit unsrer Gehirne verstärkt, müssen wir bekennen, daß der einzelne Mensch nicht imstande ist, mit dem Bildungsgange der gesamten Menschheit Schritt zu halten. Zu dieser Thatsache müssen wir Stellung nehmen, wenn uns nicht unser Reichtum zum Unsegen werden soll, wenn nicht an die Stelle der höchsten Geistesbliite Verflachung und Zersplitterung treten sollen. Die Elementar¬ bildung wächst unaufhaltsam, nicht nur in die Breite, sondern auch in die Höhe. Sie durchdringt allmählich alle Volksschichten; es ist möglich, sogar wahr¬ scheinlich, daß sie einst bis zu der Stufe der jetzigen höhern Schulbildung hinauf¬ steigen wird. Wenigstens schwebt das den Edelsten der Nation als Ziel der modernen Bildung vor. Nimmermehr dürfen wir nun aber das Herankommen dieses Zeitpunktes dadurch beschleunigen, daß wir von den Forderungen ablassen, die wir an die höhere Bildung stellen. Die führenden Stände sollen sich nicht hochmütig abschließen; aber sie sollen immer vorangehen. So nur können sie ihre Aufgabe als Erzieher des Volkes erfüllen. Aus diesem Grunde kaun und' Grenzboder IV 1897 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/323>, abgerufen am 26.06.2024.