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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Österreich und die deutsche Wirtschaftspolitik

Reichs arbeitet man dort, und einer der mächtigsten Hebel zu diesem Zer-
störungswerk liegt in Wien. Zu Kaiser Franz Joseph haben wir das gute
Zutrauen, daß er am deutschen Bündnis ehrlich festhält, denn in einer viel¬
geprüften, fast funfzigjährigen Regierung voll ungeheurer Erschütterungen hat
er so viele Wandlungen und Versuche mit allen möglichen Richtungen gemacht,
daß er sicher keine Neigung hat, sich auf ein neues, ganz unberechenbares
Experiment einzulassen. Aber jeder seiner möglichen Nachfolger ist für uns
politisch ein unbeschriebnes Blatt, und wie die österreichische Prinzenerziehuug
uun einmal immer gewesen ist, so liegt die Vermutung nur allzu nahe, daß
dieses Blatt mit klerikalen und feudalen Schriftzügen beschrieben sein wird. Was
also ein Thronwechsel in Osterreich bringen kann -- und der jetzt regierende
Herr ist den Siebzigern nahe --, das entzieht sich jeder sichern Vermutung.

Um so mehr ist es in unserm eignen dringendsten Interesse geboten, daß
wir die Deutschen Österreichs stärken, damit nicht ein gefährlicher Umschwung
dort uns selbst gefährde. Wir haben schon neulich ausgeführt, daß wir einen
Zerfall Österreichs ebenso wenig wünschen können wie die Aufnahme der ehe¬
maligen Bundesländer in unser Reich, und wir müssen das den Deutschen
Österreichs immer wieder zum Bewußtsein bringen, daß die Trennung von 1866
nicht der Willkür, sondern der Notwendigkeit entsprungen ist. Rufe, wie sie
uns jüngst in dem prächtigen Saale des Wiener Gemeinderath als Antwort
auf ein paar scharfe Worte Theodor Mommsens über die schlaffe Haltung
der Bevölkerung Wiens entgegenschallten: "Hände weg von Österreich!" sind
deshalb, gelinde gesagt, höchst überflüssig, denn niemand denkt bei uns
daran, die Hände auf Osterreich zu legen. Aber es giebt auch andre Mittel,
eine engere Verbindung herzustellen. Längst ist die geistige Gemeinschaft
zwischen den Deutschen beider Reiche so eng und lebendig, wie sie niemals
vorher gewesen ist; es giebt keine österreichische Wissenschaft, sondern nur eine
deutsche Wissenschaft in Österreich, und keine österreichischen Dichter, sondern
nur deutsche Dichter in Österreich. Es gab auch eine Zeit, wo keine Zoll¬
grenze zwischen uns uno Österreich bestand; sie mußte geschaffen werden, weil
zu der Zeit, wo der deutsche Zollverein unter schwerer, geduldiger Arbeit ent¬
stand, die österreichische Volkswirtschaft noch bei weitem nicht die Stufe der
deutschen erreicht hatte, und sie mußte aufrecht erhalten werden, solange dieser
Unterschied bestehen blieb, und solange es galt, auf dem Grunde dieser wirt¬
schaftlichen Einheit die politische Einheit des deutschen Reichs aufzurichten, an
dem Österreich keinen Teil haben konnte. Diese Gründe der wirtschaftlichen
Trennung sind jetzt verschwunden oder im Schwinden begriffen. Das deutsche
Reich besteht, und Österreichs Volkswirtschaft hat sich der unsern genähert.
Warum sollte da nicht ein Zoll- und Handelsbündnis wenigstens allmählich
zu erreichen sein, zum Vorteil beider Länder? Der mächtigen böhmischen In¬
dustrie, die ja größtenteils in deutschen Händen ist, würde sich damit der


Österreich und die deutsche Wirtschaftspolitik

Reichs arbeitet man dort, und einer der mächtigsten Hebel zu diesem Zer-
störungswerk liegt in Wien. Zu Kaiser Franz Joseph haben wir das gute
Zutrauen, daß er am deutschen Bündnis ehrlich festhält, denn in einer viel¬
geprüften, fast funfzigjährigen Regierung voll ungeheurer Erschütterungen hat
er so viele Wandlungen und Versuche mit allen möglichen Richtungen gemacht,
daß er sicher keine Neigung hat, sich auf ein neues, ganz unberechenbares
Experiment einzulassen. Aber jeder seiner möglichen Nachfolger ist für uns
politisch ein unbeschriebnes Blatt, und wie die österreichische Prinzenerziehuug
uun einmal immer gewesen ist, so liegt die Vermutung nur allzu nahe, daß
dieses Blatt mit klerikalen und feudalen Schriftzügen beschrieben sein wird. Was
also ein Thronwechsel in Osterreich bringen kann — und der jetzt regierende
Herr ist den Siebzigern nahe —, das entzieht sich jeder sichern Vermutung.

Um so mehr ist es in unserm eignen dringendsten Interesse geboten, daß
wir die Deutschen Österreichs stärken, damit nicht ein gefährlicher Umschwung
dort uns selbst gefährde. Wir haben schon neulich ausgeführt, daß wir einen
Zerfall Österreichs ebenso wenig wünschen können wie die Aufnahme der ehe¬
maligen Bundesländer in unser Reich, und wir müssen das den Deutschen
Österreichs immer wieder zum Bewußtsein bringen, daß die Trennung von 1866
nicht der Willkür, sondern der Notwendigkeit entsprungen ist. Rufe, wie sie
uns jüngst in dem prächtigen Saale des Wiener Gemeinderath als Antwort
auf ein paar scharfe Worte Theodor Mommsens über die schlaffe Haltung
der Bevölkerung Wiens entgegenschallten: „Hände weg von Österreich!" sind
deshalb, gelinde gesagt, höchst überflüssig, denn niemand denkt bei uns
daran, die Hände auf Osterreich zu legen. Aber es giebt auch andre Mittel,
eine engere Verbindung herzustellen. Längst ist die geistige Gemeinschaft
zwischen den Deutschen beider Reiche so eng und lebendig, wie sie niemals
vorher gewesen ist; es giebt keine österreichische Wissenschaft, sondern nur eine
deutsche Wissenschaft in Österreich, und keine österreichischen Dichter, sondern
nur deutsche Dichter in Österreich. Es gab auch eine Zeit, wo keine Zoll¬
grenze zwischen uns uno Österreich bestand; sie mußte geschaffen werden, weil
zu der Zeit, wo der deutsche Zollverein unter schwerer, geduldiger Arbeit ent¬
stand, die österreichische Volkswirtschaft noch bei weitem nicht die Stufe der
deutschen erreicht hatte, und sie mußte aufrecht erhalten werden, solange dieser
Unterschied bestehen blieb, und solange es galt, auf dem Grunde dieser wirt¬
schaftlichen Einheit die politische Einheit des deutschen Reichs aufzurichten, an
dem Österreich keinen Teil haben konnte. Diese Gründe der wirtschaftlichen
Trennung sind jetzt verschwunden oder im Schwinden begriffen. Das deutsche
Reich besteht, und Österreichs Volkswirtschaft hat sich der unsern genähert.
Warum sollte da nicht ein Zoll- und Handelsbündnis wenigstens allmählich
zu erreichen sein, zum Vorteil beider Länder? Der mächtigen böhmischen In¬
dustrie, die ja größtenteils in deutschen Händen ist, würde sich damit der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/312>, abgerufen am 26.06.2024.