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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

möglich, und wenn ich eines schönen Teiges anfange, in dem Gevatter Schulze
nicht den Gevatter Schulze, sondernden Gevatter Müller oder den Gottsei¬
beiuns zu sehen, so ist es Zeit zum Fort mit mir! aus der menschlichen Gesell¬
schaft. An sich betrachtet ist die Welt ein System von Atomen, deren jedes
auf jedes wirkt. Indem wir dieses allseitige Wirken auffassen, zu einem ge¬
ordneten Bilde gestalten und zur Grundlage unsers Handelns machen, erscheint
uns dieses Geflecht von Wirkungen als ein Netz von Beziehungen der Dinge
auf einander und auf uns. Diese Beziehungen ordnen sich von selbst in ver-
schiednen Klassen, indem es unter den Dingen selbst Beziehungen des Raumes,
der Zeit, der Folge, dazu zwischen uns und deu Dingen Beziehungen der
Freundschaft und Feindschaft und noch viele andre Arten giebt. Diese ver-
schiednen Klassen von Beziehungen werden in der Philosophie Kategorien ge¬
nannt. Die Beziehung selbst ist die allgemeinste, die Ur- und Grundkategorie,
die einfachste Kategorie aber und die uns am nächsten liegt, ist der Art- oder
Gattungsbegriff, der dadurch entsteht, daß ich an einer Anzahl von Einzel-
dingen eine große Ähnlichkeit bemerke und ihre Vorstellungen zu einer Gesamt¬
vorstellung verschmelze, die ich mit einem Namen, z. B. Pferd, bezeichne und
von da ab auf jedes Einzeldiug anwende, das mir dieselbe oder eine ganz
ähnliche Vorstellung hervorruft.

Wer alle Beziehungen aller Dinge aufeinander kennte, der würde das
Universum kennen. Und da sich nun die Beziehungen in Kategorien ordnen,
so erscheint es für den, der das Universum durchforschen will, als ein zweck¬
mäßiges Verfahren, ihm mit den Kategorien zu Leibe zu rücken. Haben wir
den Inhalt einer Kategorie durchforscht, so haben wir das Universum oder
ein Stück Universum von einer bestimmten einzelnen Seite kennen gelernt,
z. B. sofern seine Bestandteile zahlbar sind, also arithmetisch-statistisch. Dn
nun aber die Beziehungen einerseits zwischen den äußern Dingen obwalten,
andrerseits in unserm Bewußtsein abgebildet werden, wo vielleicht auch noch
andre Beziehungen vorkommen, die gar nicht der körperlichen Außenwelt an¬
gehören, so ist von jeder Kategorie zu untersuchen, was sie in unserm Innern,
und was sie in der Körperwelt bedeutet und enthält. Unter den Kategorien
aber giebt es mehrere, die uns zwingen, über diese beiden Gebiete hiuauszu-
strcben und noch ein drittes, nur unsern Ahnungen und Vermutungen, nicht
unsrer Erkenntnis zugängliches Gebiet anzunehmen. Wenn wir die Kategorie der
ursächlichen Verkettung ins Auge sassen, so fühlen wir uns gedrängt, die Kette so
weit zu verfolgen, bis wir auf eine erste Ursache stoßen, bei der wir Halt machen
können; wenn wir die Reihe der Mittel und Zwecke verfolgen, so kann uns das
unbehagliche Gefühl erfassen -- nicht jedem begegnet es --, daß dieses ewige
Setzen von Zwecken, deren Verwirklichung niemand voll befriedigt und sich schlie߬
lich nur als Mittel für andre Zwecke rechtfertigt, die aber ebenso wenig befrie¬
digen, daß dieses ewige Zwecksetzen ein eitles, den Menschen narrendes Spiel


Zwei philosophische Systeme

möglich, und wenn ich eines schönen Teiges anfange, in dem Gevatter Schulze
nicht den Gevatter Schulze, sondernden Gevatter Müller oder den Gottsei¬
beiuns zu sehen, so ist es Zeit zum Fort mit mir! aus der menschlichen Gesell¬
schaft. An sich betrachtet ist die Welt ein System von Atomen, deren jedes
auf jedes wirkt. Indem wir dieses allseitige Wirken auffassen, zu einem ge¬
ordneten Bilde gestalten und zur Grundlage unsers Handelns machen, erscheint
uns dieses Geflecht von Wirkungen als ein Netz von Beziehungen der Dinge
auf einander und auf uns. Diese Beziehungen ordnen sich von selbst in ver-
schiednen Klassen, indem es unter den Dingen selbst Beziehungen des Raumes,
der Zeit, der Folge, dazu zwischen uns und deu Dingen Beziehungen der
Freundschaft und Feindschaft und noch viele andre Arten giebt. Diese ver-
schiednen Klassen von Beziehungen werden in der Philosophie Kategorien ge¬
nannt. Die Beziehung selbst ist die allgemeinste, die Ur- und Grundkategorie,
die einfachste Kategorie aber und die uns am nächsten liegt, ist der Art- oder
Gattungsbegriff, der dadurch entsteht, daß ich an einer Anzahl von Einzel-
dingen eine große Ähnlichkeit bemerke und ihre Vorstellungen zu einer Gesamt¬
vorstellung verschmelze, die ich mit einem Namen, z. B. Pferd, bezeichne und
von da ab auf jedes Einzeldiug anwende, das mir dieselbe oder eine ganz
ähnliche Vorstellung hervorruft.

Wer alle Beziehungen aller Dinge aufeinander kennte, der würde das
Universum kennen. Und da sich nun die Beziehungen in Kategorien ordnen,
so erscheint es für den, der das Universum durchforschen will, als ein zweck¬
mäßiges Verfahren, ihm mit den Kategorien zu Leibe zu rücken. Haben wir
den Inhalt einer Kategorie durchforscht, so haben wir das Universum oder
ein Stück Universum von einer bestimmten einzelnen Seite kennen gelernt,
z. B. sofern seine Bestandteile zahlbar sind, also arithmetisch-statistisch. Dn
nun aber die Beziehungen einerseits zwischen den äußern Dingen obwalten,
andrerseits in unserm Bewußtsein abgebildet werden, wo vielleicht auch noch
andre Beziehungen vorkommen, die gar nicht der körperlichen Außenwelt an¬
gehören, so ist von jeder Kategorie zu untersuchen, was sie in unserm Innern,
und was sie in der Körperwelt bedeutet und enthält. Unter den Kategorien
aber giebt es mehrere, die uns zwingen, über diese beiden Gebiete hiuauszu-
strcben und noch ein drittes, nur unsern Ahnungen und Vermutungen, nicht
unsrer Erkenntnis zugängliches Gebiet anzunehmen. Wenn wir die Kategorie der
ursächlichen Verkettung ins Auge sassen, so fühlen wir uns gedrängt, die Kette so
weit zu verfolgen, bis wir auf eine erste Ursache stoßen, bei der wir Halt machen
können; wenn wir die Reihe der Mittel und Zwecke verfolgen, so kann uns das
unbehagliche Gefühl erfassen — nicht jedem begegnet es —, daß dieses ewige
Setzen von Zwecken, deren Verwirklichung niemand voll befriedigt und sich schlie߬
lich nur als Mittel für andre Zwecke rechtfertigt, die aber ebenso wenig befrie¬
digen, daß dieses ewige Zwecksetzen ein eitles, den Menschen narrendes Spiel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/30>, abgerufen am 22.07.2024.