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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

sei, bis uns der Gedanke tröstet, daß uns am letzten Ende der Reihe ein Ziel
erwarten möge, bei dem unser Streben zur Ruhe kommt. Und wenn wir uns
gezwungen fühlen, den Substanzbegriff zu bilden, d. h. jeder Erscheinung ein
Erscheinendes zu Grunde zu legen, hinter dem Wechsel der Erscheinungen ein
Beharrendes zu suchen, wenn aber jede der vermeintlichen Substanzen, die wir
als Träger der Eigenschaften und der Veränderungen annehmen, sich bei
näherm Zusehen selbst wieder in Erscheinungen und Veränderungen auflöst,
so zwingt es uns weiter, in dem geheimnisvollen, tiefen, unzugänglichen
Grnnde, aus dem alle Erscheinungen hervorquellen, die eine Substanz des
Universums zu vermuten. So führen die Kategorien zum Urquell der Wesen
hinab, und es ist daher noch weiter zu untersuchen, ob sie schon in diesem
dritten Gebiet -- in dem sür unsre Erkenntnis dritten, der Sache und der
Zeitfolge nach ersten -- vorkommen, und wie sie daraus hervorgehe" konnten,
"in beim Weltbau als Ordnerinnen zu walten. Die vom Absoluten aus¬
gehenden Antriebe, die die Seele nötigen, diese oder jene Kategorie zu bilden
und nach Kategorien zu denken, nennt Hartmann Kategorialfunktivnen, und
zwar unbewußte, weil wir selbst ja vou dem Vorgange, dessen Ergebnisse
unsre logischen Operationen sind, keine Kenntnis und kein Bewußtsein haben.

Mit dieser kurzen Skizze glaube ich die Meinung Hartmanns einigermaßen
getroffen zu haben. Er bezeichnet sein neuestes Buch als den Abschluß der
langen Reihe philosophischer Werke und Schriften, die er veröffentlicht hat,
will damit, da es die Erkenntnistheorie und die Metaphysik vereinigt, die
Lücke schließen, die bisher zwischen seiner Schrift "Das Grundproblem der
Erkenntnistheorie" und der ..Philosophie des Unbewußten" bestanden habe, und
gesteht darin manche seiner frühern Ansichten berichtigt zu haben. Der Schluß
des Vorworts lautet: "Wenn die Stellung eines Philosophen in der Geschichte
der Philosophie wesentlich nach seinem metaphysischen Standpunkt bestimmt
werden, dieser aber in erster Reihe aus seiner systematischen Bearbeitung der
Metaphysik ermittelt werden muß, so werdeu künftige Geschichtsschreiber der
Philosophie genötigt sein, sich bei der Einregistrirung meiner Philosophie in
erster Reihe an dieses Werk in Verbindung mit dem "Grundproblem der Er¬
kenntnistheorie" zu halten. In zweiter Reihe kommen dann "Das sittliche
Bewußtsein." "Die Religion des Geistes" und die "Philosophie des Schönen"
in Betracht, und erst in dritter Reihe meine übrigen Schriften." Das Werk,
das ihn berühmt gemacht hat, gehört also zu den "übrigen Schriften." Da
ich es bei einer andern Gelegenheit ziemlich niedrig eingeschätzt habe, so freut
es mich, daß er ihm selbst keinen allzu hohen Wert beimißt. Epikureer. der
ich bin, pflege ich immer das unangenehmste zuerst vorzunehmen und den
Genuß des angenehmen auf zuletzt zu versparen. Aber der Titel von Hcirt-
nianns Buche, muß ich gestehen, hat mich dermaßen abgeschreckt, daß ich mit
ihm eine Ausnahme gemacht und es über ein Jahr liegen gelassen habe, denn


Zwei philosophische Systeme

sei, bis uns der Gedanke tröstet, daß uns am letzten Ende der Reihe ein Ziel
erwarten möge, bei dem unser Streben zur Ruhe kommt. Und wenn wir uns
gezwungen fühlen, den Substanzbegriff zu bilden, d. h. jeder Erscheinung ein
Erscheinendes zu Grunde zu legen, hinter dem Wechsel der Erscheinungen ein
Beharrendes zu suchen, wenn aber jede der vermeintlichen Substanzen, die wir
als Träger der Eigenschaften und der Veränderungen annehmen, sich bei
näherm Zusehen selbst wieder in Erscheinungen und Veränderungen auflöst,
so zwingt es uns weiter, in dem geheimnisvollen, tiefen, unzugänglichen
Grnnde, aus dem alle Erscheinungen hervorquellen, die eine Substanz des
Universums zu vermuten. So führen die Kategorien zum Urquell der Wesen
hinab, und es ist daher noch weiter zu untersuchen, ob sie schon in diesem
dritten Gebiet — in dem sür unsre Erkenntnis dritten, der Sache und der
Zeitfolge nach ersten — vorkommen, und wie sie daraus hervorgehe» konnten,
"in beim Weltbau als Ordnerinnen zu walten. Die vom Absoluten aus¬
gehenden Antriebe, die die Seele nötigen, diese oder jene Kategorie zu bilden
und nach Kategorien zu denken, nennt Hartmann Kategorialfunktivnen, und
zwar unbewußte, weil wir selbst ja vou dem Vorgange, dessen Ergebnisse
unsre logischen Operationen sind, keine Kenntnis und kein Bewußtsein haben.

Mit dieser kurzen Skizze glaube ich die Meinung Hartmanns einigermaßen
getroffen zu haben. Er bezeichnet sein neuestes Buch als den Abschluß der
langen Reihe philosophischer Werke und Schriften, die er veröffentlicht hat,
will damit, da es die Erkenntnistheorie und die Metaphysik vereinigt, die
Lücke schließen, die bisher zwischen seiner Schrift „Das Grundproblem der
Erkenntnistheorie" und der ..Philosophie des Unbewußten" bestanden habe, und
gesteht darin manche seiner frühern Ansichten berichtigt zu haben. Der Schluß
des Vorworts lautet: „Wenn die Stellung eines Philosophen in der Geschichte
der Philosophie wesentlich nach seinem metaphysischen Standpunkt bestimmt
werden, dieser aber in erster Reihe aus seiner systematischen Bearbeitung der
Metaphysik ermittelt werden muß, so werdeu künftige Geschichtsschreiber der
Philosophie genötigt sein, sich bei der Einregistrirung meiner Philosophie in
erster Reihe an dieses Werk in Verbindung mit dem »Grundproblem der Er¬
kenntnistheorie« zu halten. In zweiter Reihe kommen dann »Das sittliche
Bewußtsein.« »Die Religion des Geistes« und die »Philosophie des Schönen«
in Betracht, und erst in dritter Reihe meine übrigen Schriften." Das Werk,
das ihn berühmt gemacht hat, gehört also zu den „übrigen Schriften." Da
ich es bei einer andern Gelegenheit ziemlich niedrig eingeschätzt habe, so freut
es mich, daß er ihm selbst keinen allzu hohen Wert beimißt. Epikureer. der
ich bin, pflege ich immer das unangenehmste zuerst vorzunehmen und den
Genuß des angenehmen auf zuletzt zu versparen. Aber der Titel von Hcirt-
nianns Buche, muß ich gestehen, hat mich dermaßen abgeschreckt, daß ich mit
ihm eine Ausnahme gemacht und es über ein Jahr liegen gelassen habe, denn


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[0031] Zwei philosophische Systeme sei, bis uns der Gedanke tröstet, daß uns am letzten Ende der Reihe ein Ziel erwarten möge, bei dem unser Streben zur Ruhe kommt. Und wenn wir uns gezwungen fühlen, den Substanzbegriff zu bilden, d. h. jeder Erscheinung ein Erscheinendes zu Grunde zu legen, hinter dem Wechsel der Erscheinungen ein Beharrendes zu suchen, wenn aber jede der vermeintlichen Substanzen, die wir als Träger der Eigenschaften und der Veränderungen annehmen, sich bei näherm Zusehen selbst wieder in Erscheinungen und Veränderungen auflöst, so zwingt es uns weiter, in dem geheimnisvollen, tiefen, unzugänglichen Grnnde, aus dem alle Erscheinungen hervorquellen, die eine Substanz des Universums zu vermuten. So führen die Kategorien zum Urquell der Wesen hinab, und es ist daher noch weiter zu untersuchen, ob sie schon in diesem dritten Gebiet — in dem sür unsre Erkenntnis dritten, der Sache und der Zeitfolge nach ersten — vorkommen, und wie sie daraus hervorgehe» konnten, "in beim Weltbau als Ordnerinnen zu walten. Die vom Absoluten aus¬ gehenden Antriebe, die die Seele nötigen, diese oder jene Kategorie zu bilden und nach Kategorien zu denken, nennt Hartmann Kategorialfunktivnen, und zwar unbewußte, weil wir selbst ja vou dem Vorgange, dessen Ergebnisse unsre logischen Operationen sind, keine Kenntnis und kein Bewußtsein haben. Mit dieser kurzen Skizze glaube ich die Meinung Hartmanns einigermaßen getroffen zu haben. Er bezeichnet sein neuestes Buch als den Abschluß der langen Reihe philosophischer Werke und Schriften, die er veröffentlicht hat, will damit, da es die Erkenntnistheorie und die Metaphysik vereinigt, die Lücke schließen, die bisher zwischen seiner Schrift „Das Grundproblem der Erkenntnistheorie" und der ..Philosophie des Unbewußten" bestanden habe, und gesteht darin manche seiner frühern Ansichten berichtigt zu haben. Der Schluß des Vorworts lautet: „Wenn die Stellung eines Philosophen in der Geschichte der Philosophie wesentlich nach seinem metaphysischen Standpunkt bestimmt werden, dieser aber in erster Reihe aus seiner systematischen Bearbeitung der Metaphysik ermittelt werden muß, so werdeu künftige Geschichtsschreiber der Philosophie genötigt sein, sich bei der Einregistrirung meiner Philosophie in erster Reihe an dieses Werk in Verbindung mit dem »Grundproblem der Er¬ kenntnistheorie« zu halten. In zweiter Reihe kommen dann »Das sittliche Bewußtsein.« »Die Religion des Geistes« und die »Philosophie des Schönen« in Betracht, und erst in dritter Reihe meine übrigen Schriften." Das Werk, das ihn berühmt gemacht hat, gehört also zu den „übrigen Schriften." Da ich es bei einer andern Gelegenheit ziemlich niedrig eingeschätzt habe, so freut es mich, daß er ihm selbst keinen allzu hohen Wert beimißt. Epikureer. der ich bin, pflege ich immer das unangenehmste zuerst vorzunehmen und den Genuß des angenehmen auf zuletzt zu versparen. Aber der Titel von Hcirt- nianns Buche, muß ich gestehen, hat mich dermaßen abgeschreckt, daß ich mit ihm eine Ausnahme gemacht und es über ein Jahr liegen gelassen habe, denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/31>, abgerufen am 26.06.2024.