Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei philosophische Systeme

meines Bewußtseins denken muß, von demi ich jedoch erst recht nicht weiß,
was es ist. Nun begegnet es aber dem Vertreter des transcendenter Idealis¬
mus, d. h. der Lehre, wonach es jenseits des eignen Bewußtseins nichts Wirk¬
liches geben soll, so gut wie andern Leuten, daß er mit der Nase auf einen
Stein fällt, daß er einen Freund umarmt, daß er seine Frau küßt, daß er
seinen Buben schaukelt, und in solchen Augenblicken sagt er sich -- natürlich
nur ganz heimlich --: Freundchen! du magst im übrigen ganz gescheit sein,
aber in deinem Fach, als Philosoph, bist du ein Narr! Dieser sogenannte
Idealismus, der das Dasein in einen Traum verwandelt, was übrigens die
indische Weisheit schon vor ein paar tausend Jahren gethan hat, kommt gegen
den gesunden Menschenverstand und gegen die unsanften Stöße der bestündig
an ihr Dasein erinnernden Außenwelt nicht auf. Daß die Eigenschaften der
Dinge nicht in ihnen selbst, sondern in unserm Bewußtsein liegen, diese Er¬
kenntnis läßt sich, einmal gewonnen, nicht mehr rückgängig machen; aber die Wirk¬
lichkeit der Außenwelt läßt sich auch nicht leugnen, und es bleibt also nichts übrig,
als Dinge an sich anzunehmen, die in uns die Erscheinungen unsers Bewußtseins
hervorrufen, von denen wir aber freilich nicht wissen, was und wie beschaffen sie
eigentlich sind. Hartmann, der sich um die Ausbildung dieser Lehre verdient gemacht
hat, hat sie im Gegensatz zum naiven Realismus und zum transcendentalen
Idealismus den transcendentalen Realismus genannt. Und so ganz unzugänglich,
wie Kant gemeint hat, ist uns die Natur der Dinge an sich, der körperlichen
Außenwelt, denn doch nicht. Das Verdienst der von der Philosophie erleuchteten
Physik ist es gewesen, die Natur der Körperwelt einigermaßen ergründet zu
haben. Sie besteht aus Atomen, deren geordnete und sich immerwährend neu
ordnende Gruppen durch Anstöße an die Atomgrnppen, die wir unsre Sinnes¬
organe nennen, unsre Seele veranlassen, alle jene Erscheinungen unsers Be¬
wußtseins zu erzeugen. Das Atom aber darf nicht etwa körperlich gedacht
werden, sonst würden sich alle die Schwierigkeiten wiederholen, die die Be¬
trachtung der Körperwelt ergeben hat; die zergliedernde Thätigkeit des Ver¬
standes kommt nicht eher zur Ruhe, als bis das letzte Restchen Körperlichkeit
in Unkörperliches aufgelöst ist. Da dieses Unkörperliche aber wirkt, so muß
es Kraft sein. Die Atome sind also mathematische Punkte, die einander an¬
ziehen oder abstoßen, und alle Veränderung der Welt beruht darauf, daß An¬
ziehung und Abstoßung immerwährend die bestehenden Gruppen auflöst und
neue bildet, wobei sowohl die Gruppen selbst wie ihre Veränderungen durch
Reizung unsrer Sinnesorgane unsre Seele zur Bildung von Vorstellungen,
Empfindungen, Lust- und Uulustgesühlcn, Wünschen und Entschließungen,
Denkthätigkeiten bald nötigen, bald nur veranlassen. So ist also gerade das,
was dem naiven Menschen bis an sein Lebensende als das Allergewisseste,
Sicherste und Zuverlässigste erscheint, die Stofflichkeit der Körperwelt, in einen
täuschenden Schein aufgelöst. Wenn ich mit dem Kopfe an eine Mauer an-


Zwei philosophische Systeme

meines Bewußtseins denken muß, von demi ich jedoch erst recht nicht weiß,
was es ist. Nun begegnet es aber dem Vertreter des transcendenter Idealis¬
mus, d. h. der Lehre, wonach es jenseits des eignen Bewußtseins nichts Wirk¬
liches geben soll, so gut wie andern Leuten, daß er mit der Nase auf einen
Stein fällt, daß er einen Freund umarmt, daß er seine Frau küßt, daß er
seinen Buben schaukelt, und in solchen Augenblicken sagt er sich — natürlich
nur ganz heimlich —: Freundchen! du magst im übrigen ganz gescheit sein,
aber in deinem Fach, als Philosoph, bist du ein Narr! Dieser sogenannte
Idealismus, der das Dasein in einen Traum verwandelt, was übrigens die
indische Weisheit schon vor ein paar tausend Jahren gethan hat, kommt gegen
den gesunden Menschenverstand und gegen die unsanften Stöße der bestündig
an ihr Dasein erinnernden Außenwelt nicht auf. Daß die Eigenschaften der
Dinge nicht in ihnen selbst, sondern in unserm Bewußtsein liegen, diese Er¬
kenntnis läßt sich, einmal gewonnen, nicht mehr rückgängig machen; aber die Wirk¬
lichkeit der Außenwelt läßt sich auch nicht leugnen, und es bleibt also nichts übrig,
als Dinge an sich anzunehmen, die in uns die Erscheinungen unsers Bewußtseins
hervorrufen, von denen wir aber freilich nicht wissen, was und wie beschaffen sie
eigentlich sind. Hartmann, der sich um die Ausbildung dieser Lehre verdient gemacht
hat, hat sie im Gegensatz zum naiven Realismus und zum transcendentalen
Idealismus den transcendentalen Realismus genannt. Und so ganz unzugänglich,
wie Kant gemeint hat, ist uns die Natur der Dinge an sich, der körperlichen
Außenwelt, denn doch nicht. Das Verdienst der von der Philosophie erleuchteten
Physik ist es gewesen, die Natur der Körperwelt einigermaßen ergründet zu
haben. Sie besteht aus Atomen, deren geordnete und sich immerwährend neu
ordnende Gruppen durch Anstöße an die Atomgrnppen, die wir unsre Sinnes¬
organe nennen, unsre Seele veranlassen, alle jene Erscheinungen unsers Be¬
wußtseins zu erzeugen. Das Atom aber darf nicht etwa körperlich gedacht
werden, sonst würden sich alle die Schwierigkeiten wiederholen, die die Be¬
trachtung der Körperwelt ergeben hat; die zergliedernde Thätigkeit des Ver¬
standes kommt nicht eher zur Ruhe, als bis das letzte Restchen Körperlichkeit
in Unkörperliches aufgelöst ist. Da dieses Unkörperliche aber wirkt, so muß
es Kraft sein. Die Atome sind also mathematische Punkte, die einander an¬
ziehen oder abstoßen, und alle Veränderung der Welt beruht darauf, daß An¬
ziehung und Abstoßung immerwährend die bestehenden Gruppen auflöst und
neue bildet, wobei sowohl die Gruppen selbst wie ihre Veränderungen durch
Reizung unsrer Sinnesorgane unsre Seele zur Bildung von Vorstellungen,
Empfindungen, Lust- und Uulustgesühlcn, Wünschen und Entschließungen,
Denkthätigkeiten bald nötigen, bald nur veranlassen. So ist also gerade das,
was dem naiven Menschen bis an sein Lebensende als das Allergewisseste,
Sicherste und Zuverlässigste erscheint, die Stofflichkeit der Körperwelt, in einen
täuschenden Schein aufgelöst. Wenn ich mit dem Kopfe an eine Mauer an-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226260"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei philosophische Systeme</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_56" prev="#ID_55" next="#ID_57"> meines Bewußtseins denken muß, von demi ich jedoch erst recht nicht weiß,<lb/>
was es ist. Nun begegnet es aber dem Vertreter des transcendenter Idealis¬<lb/>
mus, d. h. der Lehre, wonach es jenseits des eignen Bewußtseins nichts Wirk¬<lb/>
liches geben soll, so gut wie andern Leuten, daß er mit der Nase auf einen<lb/>
Stein fällt, daß er einen Freund umarmt, daß er seine Frau küßt, daß er<lb/>
seinen Buben schaukelt, und in solchen Augenblicken sagt er sich &#x2014; natürlich<lb/>
nur ganz heimlich &#x2014;: Freundchen! du magst im übrigen ganz gescheit sein,<lb/>
aber in deinem Fach, als Philosoph, bist du ein Narr! Dieser sogenannte<lb/>
Idealismus, der das Dasein in einen Traum verwandelt, was übrigens die<lb/>
indische Weisheit schon vor ein paar tausend Jahren gethan hat, kommt gegen<lb/>
den gesunden Menschenverstand und gegen die unsanften Stöße der bestündig<lb/>
an ihr Dasein erinnernden Außenwelt nicht auf. Daß die Eigenschaften der<lb/>
Dinge nicht in ihnen selbst, sondern in unserm Bewußtsein liegen, diese Er¬<lb/>
kenntnis läßt sich, einmal gewonnen, nicht mehr rückgängig machen; aber die Wirk¬<lb/>
lichkeit der Außenwelt läßt sich auch nicht leugnen, und es bleibt also nichts übrig,<lb/>
als Dinge an sich anzunehmen, die in uns die Erscheinungen unsers Bewußtseins<lb/>
hervorrufen, von denen wir aber freilich nicht wissen, was und wie beschaffen sie<lb/>
eigentlich sind. Hartmann, der sich um die Ausbildung dieser Lehre verdient gemacht<lb/>
hat, hat sie im Gegensatz zum naiven Realismus und zum transcendentalen<lb/>
Idealismus den transcendentalen Realismus genannt. Und so ganz unzugänglich,<lb/>
wie Kant gemeint hat, ist uns die Natur der Dinge an sich, der körperlichen<lb/>
Außenwelt, denn doch nicht. Das Verdienst der von der Philosophie erleuchteten<lb/>
Physik ist es gewesen, die Natur der Körperwelt einigermaßen ergründet zu<lb/>
haben. Sie besteht aus Atomen, deren geordnete und sich immerwährend neu<lb/>
ordnende Gruppen durch Anstöße an die Atomgrnppen, die wir unsre Sinnes¬<lb/>
organe nennen, unsre Seele veranlassen, alle jene Erscheinungen unsers Be¬<lb/>
wußtseins zu erzeugen. Das Atom aber darf nicht etwa körperlich gedacht<lb/>
werden, sonst würden sich alle die Schwierigkeiten wiederholen, die die Be¬<lb/>
trachtung der Körperwelt ergeben hat; die zergliedernde Thätigkeit des Ver¬<lb/>
standes kommt nicht eher zur Ruhe, als bis das letzte Restchen Körperlichkeit<lb/>
in Unkörperliches aufgelöst ist. Da dieses Unkörperliche aber wirkt, so muß<lb/>
es Kraft sein. Die Atome sind also mathematische Punkte, die einander an¬<lb/>
ziehen oder abstoßen, und alle Veränderung der Welt beruht darauf, daß An¬<lb/>
ziehung und Abstoßung immerwährend die bestehenden Gruppen auflöst und<lb/>
neue bildet, wobei sowohl die Gruppen selbst wie ihre Veränderungen durch<lb/>
Reizung unsrer Sinnesorgane unsre Seele zur Bildung von Vorstellungen,<lb/>
Empfindungen, Lust- und Uulustgesühlcn, Wünschen und Entschließungen,<lb/>
Denkthätigkeiten bald nötigen, bald nur veranlassen. So ist also gerade das,<lb/>
was dem naiven Menschen bis an sein Lebensende als das Allergewisseste,<lb/>
Sicherste und Zuverlässigste erscheint, die Stofflichkeit der Körperwelt, in einen<lb/>
täuschenden Schein aufgelöst.  Wenn ich mit dem Kopfe an eine Mauer an-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Zwei philosophische Systeme meines Bewußtseins denken muß, von demi ich jedoch erst recht nicht weiß, was es ist. Nun begegnet es aber dem Vertreter des transcendenter Idealis¬ mus, d. h. der Lehre, wonach es jenseits des eignen Bewußtseins nichts Wirk¬ liches geben soll, so gut wie andern Leuten, daß er mit der Nase auf einen Stein fällt, daß er einen Freund umarmt, daß er seine Frau küßt, daß er seinen Buben schaukelt, und in solchen Augenblicken sagt er sich — natürlich nur ganz heimlich —: Freundchen! du magst im übrigen ganz gescheit sein, aber in deinem Fach, als Philosoph, bist du ein Narr! Dieser sogenannte Idealismus, der das Dasein in einen Traum verwandelt, was übrigens die indische Weisheit schon vor ein paar tausend Jahren gethan hat, kommt gegen den gesunden Menschenverstand und gegen die unsanften Stöße der bestündig an ihr Dasein erinnernden Außenwelt nicht auf. Daß die Eigenschaften der Dinge nicht in ihnen selbst, sondern in unserm Bewußtsein liegen, diese Er¬ kenntnis läßt sich, einmal gewonnen, nicht mehr rückgängig machen; aber die Wirk¬ lichkeit der Außenwelt läßt sich auch nicht leugnen, und es bleibt also nichts übrig, als Dinge an sich anzunehmen, die in uns die Erscheinungen unsers Bewußtseins hervorrufen, von denen wir aber freilich nicht wissen, was und wie beschaffen sie eigentlich sind. Hartmann, der sich um die Ausbildung dieser Lehre verdient gemacht hat, hat sie im Gegensatz zum naiven Realismus und zum transcendentalen Idealismus den transcendentalen Realismus genannt. Und so ganz unzugänglich, wie Kant gemeint hat, ist uns die Natur der Dinge an sich, der körperlichen Außenwelt, denn doch nicht. Das Verdienst der von der Philosophie erleuchteten Physik ist es gewesen, die Natur der Körperwelt einigermaßen ergründet zu haben. Sie besteht aus Atomen, deren geordnete und sich immerwährend neu ordnende Gruppen durch Anstöße an die Atomgrnppen, die wir unsre Sinnes¬ organe nennen, unsre Seele veranlassen, alle jene Erscheinungen unsers Be¬ wußtseins zu erzeugen. Das Atom aber darf nicht etwa körperlich gedacht werden, sonst würden sich alle die Schwierigkeiten wiederholen, die die Be¬ trachtung der Körperwelt ergeben hat; die zergliedernde Thätigkeit des Ver¬ standes kommt nicht eher zur Ruhe, als bis das letzte Restchen Körperlichkeit in Unkörperliches aufgelöst ist. Da dieses Unkörperliche aber wirkt, so muß es Kraft sein. Die Atome sind also mathematische Punkte, die einander an¬ ziehen oder abstoßen, und alle Veränderung der Welt beruht darauf, daß An¬ ziehung und Abstoßung immerwährend die bestehenden Gruppen auflöst und neue bildet, wobei sowohl die Gruppen selbst wie ihre Veränderungen durch Reizung unsrer Sinnesorgane unsre Seele zur Bildung von Vorstellungen, Empfindungen, Lust- und Uulustgesühlcn, Wünschen und Entschließungen, Denkthätigkeiten bald nötigen, bald nur veranlassen. So ist also gerade das, was dem naiven Menschen bis an sein Lebensende als das Allergewisseste, Sicherste und Zuverlässigste erscheint, die Stofflichkeit der Körperwelt, in einen täuschenden Schein aufgelöst. Wenn ich mit dem Kopfe an eine Mauer an-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/28
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/28>, abgerufen am 22.07.2024.